Von Karl-Heinz Nebel

Brigitte war nicht bei Bewusstsein, als Helga sie auf dem Hof fand. Sie lag auf dem Bauch, die Arme weit nach beiden Seiten ausgestreckt, das Gesicht zur Seite gedreht. Sie war mit ihrer Wickelschürze bekleidet und hatte keine Schuhe an. Nur ein Hausschuh lag einen Meter entfernt. Helga spürte erst ihr Herz aussetzen, dann begann es zu rasen. Wie, um Gottes willen, war ihre Mutter auf den Hof gelangt? Helga überlegte angestrengt: Sie hatte die Außentür abgeschlossen, als sie das Haus verlassen hatte. Sie beugte sich über sie. »Mama, kannst du mich hören?«

Keine Reaktion.

Sollte sie sie umdrehen? Helga entschied sich dagegen, denn sie konnte die Verletzungen nicht abschätzen. An der Stirn machte sie eine Platzwunde aus, auch die Hände waren blutig.

»Ein Arzt … Rettungswagen … schnell …« Keuchend und zitternd suchte sie ihr Handy und brauchte mehrere Versuche, um die 112 zu drücken.

 

Nach gefühlt einer Stunde, in Wirklichkeit aber acht Minuten, vernahm Helga das Signalhorn des Rettungswagens, kurz darauf erfüllte wild blitzendes Blaulicht den Hof. Sie war sich nicht sicher, ob es durch die Lichtimpulse nur so ausgesehen hatte, oder ob Brigitte sich wirklich bewegt hatte.

»Mama!«, rief sie. Brigitte öffnete ihre Augen zu einem Schlitz, schloss sie aber sofort wieder.

»Was ist passiert? Darf ich mal ran?« Der Notarzt stellte seine Tasche neben Brigitte ab. »Hallo, können Sie mich hören?«, sprach er sie laut an.

»Ja«, brachte Brigitte mühsam hervor.

Erst jetzt sah der Arzt Helga an. »Doktor Wenzel«, stellte er sich vor.

»Das ist meine Mutter. Sie heißt Brigitte Buschmann. Ich habe keine Ahnung, was passiert ist. Als ich aus dem Haus gegangen bin, war sie in ihrer Wohnung und ich habe das Haus abgeschlossen …, und vorhin habe ich sie so gefunden.« Helga spürte panische Angst in sich aufsteigen. Hatte sie etwas falsch gemacht? Aber irgendwann musste sie doch in die Stadt fahren und Besorgungen machen.

Die Rettungssanitäter legten eine Trage neben der Verletzten ab. Dr. Wenzel untersuchte Brigitte auf Knochenbrüche. »Wir müssen versuchen, ihre Arme anzulegen, damit wir sie umdrehen können. Aber Vorsicht mit dem Kopf, der muss vorerst so bleiben.«

»Wir drehen Sie jetzt um. Das kann wehtun«, warnte er Brigitte, die ein leichtes Nicken andeutete.

Mit geübten Griffen fassten die Sanitäter sie, drehten sie um und legten sie auf die Trage. Erst jetzt wurden die Verletzungen in ihrem Gesicht und an den Händen sichtbar.

»Na, das sieht aber nicht nach einem einfachen Sturz aus«, sagte der Arzt, während er sich die Wunden genauer anschaute. Die Nase schien gebrochen zu sein, an der Stirn klaffte eine große Platzwunde, das Kinn blutete ebenfalls. Auch an den Knien zeigte sich Blut.

»Ich brauche die Chipkarte«, wandte sich Dr. Wenzel an Helga. Sie erhob sich, ohne ihre Mutter aus den Augen zu lassen und ging zur Tür. Sie steckte den Schlüssel ins Schloss und erschrak, als sie zweimal schließen musste, um ins Haus zu kommen. Statt hinein zu gehen, lief sie zurück.

»Sie ist nicht durch die Haustür herausgekommen«, wollte sie sagen, verbiss es sich aber in letzter Sekunde. Sie versuchte, ihrer Mutter in die Augen zu sehen. Ihre Stimme zitterte, als sie fragte: »Mama, was hast du denn bloß gemacht?«

»Weiß nicht …«, krächzte Brigitte kaum hörbar.

Helga schüttelte den Kopf. »Ich hole die Chipkarte«, sagte sie und ging wieder zum Haus.

 

Wie in Trance stieg sie die Treppe nach oben in ihre Wohnung und ins Wohnzimmer, wo sie Brigittes Unterlagen in einem separaten Fach ihres Schranks aufbewahrte, seit ihre Demenz im letzten halben Jahr um so vieles schlimmer geworden war. Sie nahm die Chipkarte heraus und wollte wieder nach unten gehen, als sie stutzte. Die Terrassentür stand offen. Die Gedanken begannen in ihrem Kopf zu kreisen. Sie hatte die Tür an diesem Tag doch noch gar nicht geöffnet! Als sie sie zudrückte und den Hebel nach unten drehen wollte, sah sie unter dem Geländer etwas, das wie ein Hausschuh aussah. Dann war ihre Mutter durch diese Tür auf die Terrasse gegangen?

Um Gottes willen, schoss es ihr in den Kopf, wollte sie sich etwa das Leben nehmen? War sie über das Geländer geklettert und von der Terrasse auf den Hof hinunter gesprungen? Was sollte sie jetzt machen? Wenn sie hinausginge und den Schuh holte – vorausgesetzt, es war einer –, dann würden die Sanitäter und der Arzt aufmerksam werden und Fragen stellen. Helga setzte sich auf einen Stuhl und fing an zu weinen. Wenn das ein Selbstmordversuch war, dann würden sie ihr die Vorsorgevollmacht entziehen und ihre Mutter in ein Pflegeheim einweisen. Sie hatte es ihr versprochen, dass sie das niemals tun würde. Wenn sie sie aber im Haus behielt, würde sie es irgendwann wieder versuchen.

Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und ging wieder nach unten. Dass sie geweint hatte, sollte die Situation erklären und keinen Argwohn hervorrufen.

In der Zwischenzeit hatten der Arzt und die Sanitäter die Grundversorgung der Verletzungen vorgenommen. Brigittes Kopf war fixiert und ihr Körper durch Gurte auf der Trage gesichert. Sie gab dem Arzt die Karte.

»Wir nehmen Ihre Mutter mit, es wäre schön, wenn Sie ihr noch heute ein paar persönliche Sachen bringen würden.«

»Ja, das mach ich«, versprach Helga.

Als der Krankenwagen vom Hof gefahren war, hob sie den Hausschuh auf und ging ins Haus.

 

Helga hatte eine Tasche gepackt und kontrollierte noch einmal, dass sie nichts vergessen hatte. Dann ging sie mit klopfendem Herzen zur Terrassentür. Sie atmete tief durch und trat hinaus. Schnell erkannte sie, dass es sich um den anderen Hausschuh ihrer Mutter handelte. Sie nahm ihn mit hinein, schloss die Tür und legte ihn zu dem anderen in die Tasche.

Bevor sie den Reißverschluss zuzog, sah sie sich im Zimmer um und suchte nach etwas Vertrautem, das sie Brigitte mit ins Krankenhaus nehmen könnte. Sie nahm ein Bild aus der Schrankwand, auf dem sie mit ihrer Mutter auf der Hollywoodschaukel saß. Das ist erst letztes Jahr gewesen, überlegte Helga. Da konnte sie sich mit ihr noch einigermaßen unterhalten.

 

Helga klingelte an der Anmeldung in der Notaufnahme der Klinik. Eine Schwester in rosafarbener Dienstkleidung erklärte ihr, wohin ihre Mutter gebracht worden war.

Helga bedankte sich und folgte den Wegweisern zur Station.

 

»Entschuldigung, ich suche meine Mutter, Frau Brigitte Buschmann. Ach, und könnte ich vorher bitte noch mit einem Arzt sprechen?« Die Frau im weißen Kittel, der Helga die Frage gestellt hatte, machte einen gestressten Eindruck.

»Sie haben die Aufsichtspflicht über Ihre Mutter? Da sollten Sie sich wahrscheinlich bewusst werden, dass Sie womöglich damit überfordert sind. Ist schwer, einen dementen Menschen zu betreuen. Da gehen einem auch mal die Nerven durch. Da macht man auch mal Dinge, die man sonst nicht machen würde. Hab ich recht?!«

Helga stand mit offenem Mund da. Was erlaubte sich diese Person eigentlich? Sie schnappte nach Luft. »Ich möchte, bitteschön, mit einem Arzt sprechen«, forderte sie nun auch etwas lauter.

»Da müssen Sie mit mir vorliebnehmen«, sagte die Frau nun versöhnlicher. »Ach, entschuldigen Sie, aber Sie machen sich kein Bild, was wir alles erleben.« Sie reichte Helga die Hand. »Glücklicherweise sehen die Verletzungen Ihrer Mutter schlimmer aus, als sie es sind. Sie hat bei allem noch einmal großes Glück gehabt. Sie muss ganz schön arg hingeschlagen sein. Sie sollten Ihre Umgebung nach Stolperkanten untersuchen.«

Helga nickte nachdenklich. »Ja, das werde ich tun. Wo liegt sie?«

»Zimmer 321.«

»Danke.«

 

Zimmer 321 war ein Dreibettzimmer, Helga sah, dass zwei Betten belegt waren. Ihre Mutter lag im Bett am Fenster. Kopf und Hände waren dick mit Binden umwickelt. Helga ging zu ihr und sprach sie leise an. »Hallo Mama, ich bin’s, Helga.«

Brigitte drehte den Kopf leicht in ihre Richtung. »Hase, das ist ja schön! Woher weißt du denn, dass ich hier bin?«

Helga hatte augenblicklich einen Kloß im Hals. Hase hatte ihre Mutter sie genannt, als sie noch ein Kind war. Sie räusperte sich und versuchte, so normal wie möglich zu wirken. »Ich hab dir paar Sachen mitgebracht.« Sie räumte die Tasche aus und legte alles in den Nachtschrank. Das Bild stellte sie ihr oben auf die Tischplatte.

Dann setzte sie sich auf einen Stuhl und legte ihrer Mutter eine Hand auf den Arm. »Hast mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt.« Sie versuchte, nicht vorwurfsvoll zu klingen.

»Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie das passieren konnte«, sagte Brigitte und klang verzweifelt.

»Mama, bist du wirklich von der Terrasse gesprungen?«, fragte Helga.

»Ja, aber natürlich. Das habe ich doch oft gemacht. Ich konnte doch fliegen!«, rief Brigitte freudig erregt.

Helga schlug die Hände vors Gesicht. Ihre Mutter hatte ihr früher von Träumen erzählt, in denen sie fliegen konnte und wie angenehm dieses Gefühl für sie gewesen war. Diese Erinnerung muss sie in totale Umnachtung gestürzt haben.

»Mama, ja, das stimmt. Du konntest fliegen. Aber du hast es verlernt. Versprich mir, dass du es nie wieder versuchst.«

 

V3