Von Sabine Esser

Wie still es plötzlich in der Garderobe ist! Die Models sind draußen, müssen auf den Laufsteg. Er kann nichts mehr zupfen, nichts mehr ändern, nur warten. Heute ist der Tag, der alles entscheiden wird. Die Zeit dehnt und komprimiert sich zugleich. Das Druckgefühl in seinem Kopf ist fast unerträglich. In seinen Ohren rauscht es. Entspannen, entspannen. An anderes denken! Wie fing es an?

 

Er spielte nicht gern Fußball, lag lieber am Ufer des Stadtparksees, beobachtete und zeichnete Libellen. Stundenlang. Schöneres als ihren eleganten Flug und ihr vielfarbiges Schimmern und Glitzern über dem Wasser konnte er sich nicht vorstellen. Einmal hatte er sogar eine Larve mit nach Hause gebracht und in einer großen Vase aufbewahrt. Wollte erleben, wie aus so Hässlichem etwas so Zauberhaftes entsteht. Seine Mutter spülte das ‚eklige Ding‘ schon am gleichen Abend durch die Toilette.

 

Dann kam der Albtraum:

 

Nachbarjungs und Mitschüler stehen wie eine Mauer vor ihm, verhöhnen ihn als ‚Schwuchtel‘ und ‚Weichei‘, schubsen ihn hin und her. Eltern und Lehrer bleiben abseits, sehen ihn nicht. Er ist allein, hat Todesangst. Plötzlich beginnen seine Füße zu kribbeln. Bis in die Fingerspitzen hinein vibriert sein Körper, wird immer schmaler, länger und beginnt zu leuchten. Zitternd streckt er die Arme aus. Welche Kraft in ihnen ist!

 

Er hebt senkrecht ab, fliegt über die parkenden Autos, dreht eine Runde über die Verblüfften unter ihm, dann sind sie ihm egal. Nur nach vorn und nach oben. Weit und kraftvoll spannt er seine Flügel. Je höher er aufsteigt, desto schlechter aber wird die Sicht. Alles ist dunstig. Der Auftrieb drückt ihn unnachgiebig gegen ein Hindernis. Hilflos klatscht er gegen den gläsernen Panzer seiner Welt. All‘ seine Kraft! Vergeblich. Betäubt sinkt er zurück in die Häuserschluchten, in die Straße, in das Haus, in sein Bett.

 

Die Eltern stritten sich jeden Morgen seinetwegen.

„Das Kind muss zum Arzt. Dieser Nachtschweiß und der unruhige Schlaf sind nicht normal.“

„Und mit welcher Begründung dieses Mal? Er hat doch alles! Ihm fehlt nichts! Außerdem muss ich los.“ Gleich danach knallte die Wohnungstür.

„Liebling, ich weiß, dass du wach bist, Mami muss jetzt zur Arbeit. Steh‘ also auf.“

 

Immer stellte er sich schlafend, wenn seine Mutter ihm die nasse Stirn trocknete und ihn wachküsste. Er war aber kein Kind mehr, drehte sich weg und kniff die Augen zusammen, bis sie seinen Raum verließ.

 

Niemandem wagte er die drängenden Fragen zu stellen:

„Warum mag mich niemand?“

„Warum träume ich so etwas?“

„Warum lebe ich?“

„War ich schon immer so, oder werde ich etwas Anderes?“

 

Er begann tadellos zu funktionieren, passte sich an, seine Schulzeugnisse waren nicht zu beanstanden. Sogar seine Mutter hatte sich so an seine schwere Morgen-Müdigkeit gewöhnt, dass sie sich keine Sorgen mehr machte. Niemandem fiel auf, dass er sich unsichtbar gemacht hatte – jede Nacht aber litt und kämpfte.

 

Oma Hanne. Ohne sie hätte er aufgegeben. Die ersten Pailletten. Schwarz und glänzend lagen sie im Nähkasten der alten Nachbarin, der er manchmal beim Einkaufen half. Sie erlaubte ihm, sich die schimmernden Teilchen schuppenartig auf den Handrücken zu legen. Zeigte ihm stolz und rührselig vergilbte Fotos von Abendkleidern, die sie „damals, nach dem Krieg“ entworfen und genäht hatte. „Große Roben“ nannte sie die.

 

Mit ihr konnte er von Libellen reden, über Schönheit, von seinem entsetzlichen Traum. Sie hörte ihm zu, nippte dabei Kirschlikör und rauchte Zigarillos.

 

„Du bist ein Künstler, mein Kleiner. Du weißt es nur noch nicht.“

 

Alles, alles brachte sie ihm bei. Maßnehmen, Zugaben berechnen, sauber zuzuschneiden. Jede Art Stoff, Spitzen, Posamenten, Pelze, Federn, Knöpfe und sonstigen Zierrat lernte er kennen. Ihr Kleiderschrank barg wahre Wunder!

 

Wenn er verzweifelte, hieß es nur: „Trenn‘ auf. Erst das Handwerk, dann die Kunst. Das haben Generationen vor dir auch schon lernen müssen!“ Sie war gnadenlos. Keine ungleichmäßige Falte, kein unregelmäßiger Stich entging ihr:

„Stell‘ dir vor, du wärest Schneider bei Heinrich VIII! Der würde dich zumindest einkerkern lassen für so eine Schlamperei!“

 

Als sie die ärmellangen Seidenhalbhandschuhe mit Spitzendurchbruch, Seidenstickerei und Paillettenapplikation anprobierte, lächelte sie zufrieden: „Sie passen perfekt und sind genau so, wie ich sie haben wollte. Mehr kann ich dir nicht beibringen. Jetzt musst du selber fliegen. Täusche dich nicht: Es wird sehr, sehr schwer werden. Geh‘ nach Paris.“

 

Er wollte sie nicht verlassen, schob sein Abitur vor.

Sie beharrte: „Du wirst niemals irgendeinen dusseligen Abschluss brauchen! Du fährst!“

 

Ein Jahr vor dem Abitur alles hinschmeißen und Schneider werden!

Papa brüllte: „Du tickst ja nicht richtig! Von mir bekommst du keinen Pfennig! Sieh‘ zu, wie du zurecht kommst!“

Mama weinte: „Ach Kind, warum denn ausgerechnet Paris?“

Im Gepäck hatte er zwei Briefumschläge mit insgesamt fast eintausend Mark.

Er schwor sich, dieses Geld niemals anzurühren.

 

Die erste Anstellung fand er in einer kleinen Hemdenschneiderei nahe der Rue de Richelieu und sogar ein winziges Mansardenzimmer. Der Patron erkannte schnell, dass er keinen simplen Näher eingestellt hatte und verlieh ihn auf Provisionsbasis an bessere Häuser. Sklavenarbeit, aber zusätzliches Geld und Erfahrungen.

 

Unter dem Dach war es entweder zu heiß oder zu kalt. So gewöhnte er sich an, die Abende mit seinem Zeichenblock in einem Café an der Straßenecke zu verbringen.

Irgendwann tuschelte man: „C’est le couturier allemand. Il travaille. Ne le dérangez pas!“

 

„Echt? Du willst nicht gestört werden?“ Ein langbeiniges, mageres Wesen in einem kurzen, bunten Hängerkleid tippte ihm auf die Schulter, nahm ungefragt Platz, bestellte sich ein Viertel Weißwein und eine Karaffe Wasser.

„Zeig‘ mal, was du da hast.“

Immer langsamer wendete sie Blatt für Blatt.

„Warum machst du nicht bei Création nouvelle mit?“

Ohne ihr ständiges Zureden hätte er sich nie getraut.

„Was kannst du verlieren?“ Der Satz gab den Ausschlag.

 

Tagsüber Fronarbeit, danach zeichnen und nähen, nähen und zeichnen. Und ändern, ändern, ändern. Bis zur Besinnungslosigkeit. Und immer noch der verdammte Traum. Diese Grenze. Diese Angst.

 

Brausender Applaus. Er muss nach draußen, raus aus der Garderobe, muss sich verbeugen. Das Kribbeln in den Füßen und Fingerspitzen kennt er. Ganz leicht fühlt er sich plötzlich. Heute aber ist alles Wirklichkeit.

 

Grün, türkis und blau flimmert und glitzert es auf dem Laufsteg. Wie damals über dem See. Im Blitzlichtgewitter schimmern seine Tränen wie Tautropfen.

 

„Mesdames, Messieurs: Odonata!“

 

Auf einem der Ehrenplätze sitzt „Madame Hanne“ und lacht und weint zugleich. Von nun an ist ihr Zögling frei.

 

Version 3

 

Wer nicht googlen mag: „Odonata“ = Gattungsbezeichnung der Libellen