Von Ulli Lenz

Sie blinzelte, doch der weiße Schmetterling tanzte noch immer vor ihrem geistigen Auge. Seine Flügel waren seltsam durchlöchert, aber keineswegs kaputt: Sie sahen vielmehr aus wie ein zarter Scherenschnitt. Irgendwie erinnerten sie an Tortenspitze, dieses Papier, dass man unter einen Kuchen legt.

„Ist dir klar, was das bedeutet?“, fragte ihr Mann. „Greta, wir müssen uns auf das Schlimmste gefasst machen!“.
Greta blickte ihn abwesend an, dann schaute sie wieder aus dem Seitenfenster. Sie fühlte sich wie betäubt und fröstelte. Draußen zog die ihr so vertraute Landschaft vorbei, doch sie registrierte sie kaum, sondern versuchte den unsichtbaren Schmetterling zu fokussieren.
„Aber der Hausarzt hat gemeint, dass sein Gerät gar nicht dafür eingestellt ist. Es könnte sein, dass doch alles passt“, meinte sie ein wenig später hoffnungsvoll. Besorgt warf Alex ihr einen kurzen Seitenblick zu. Seine Handknöcheln traten weiß hervor, so fest hielt er das Lenkrad umpackt.
„Greta, wir müssen realistisch bleiben…“, versuchte er nochmals, sie darauf vorzubereiten, was kommen könnte. Doch eigentlich wollte er selbst nicht darüber nachdenken, was das bedeuten würde, und verstummte.

Im Krankenhaus erwartete sie bereits der vom Hausarzt informierte Facharzt im Untersuchungszimmer, und schüttelte ihnen mit ernstem Gesicht die Hand. Greta registrierte, wie kalt ihre Hände im Vergleich zu seinen waren.
Die anschließende Untersuchung war kurz. Viel zu kurz. Als er mit dem Sessel zurückrollte und Greta ins Gesicht blickte, waren Worte eigentlich nicht mehr notwendig. „Es tut mir leid“, sagte er leise, und nickte der Krankenschwester zu, die den Telefonhörer bereits in der Hand hielt.
Greta stieß ein fassungsloses „Nein!“ aus, bevor sie die Hände vors Gesicht schlug. Die Wärme schien sie vollends zu verlassen. Sie fühlte sich schrecklich leer und kraftlos. Alex half ihr beim Aufstehen und hielt sie dann fest. Aus seinem Inneren drang ein Schluchzen zu ihr durch.
„Eine Psychologin wird jeden Moment da sein, und sich solange um sie kümmern, wie sie es möchten. Gemeinsam mit ihr werden wir das weitere Vorgehen besprechen“, informierte der Arzt, und drehte sich dann respektvoll weg, um ihnen und ihren Gefühlen Raum zu geben.
Die Tür öffnete sich gleich darauf, und eine dunkelhaarige Frau im Arztkittel kam herein, und stellte sich als ihre Therapeutin vor.
„Sie müssen eines wissen“, sagte sie gleich zu Beginn, „es ist nicht ihre Schuld.“
„Das weiß ich“, antwortete Greta überraschend patzig, nicht ahnend, dass sich genau dieses Wissen in einigen Tagen verflüchtigen und in bohrende Fragen und schlechtes Gewissen verwandeln würde. „Aber ich weiß nicht, wie ich das unseren Kindern erklären soll“, fügte sie nach kurzer Pause leise hinzu.
Sie sah hintereinander die Ärztin und anschließend ihren Mann an, um dann endlich in lautes, hemmungsloses Schluchzen auszubrechen.

 

Um keine Bekannten zu treffen, steuerten sie einige Kilometer vor dem Heimatort einen Supermarkt an. Alex blieb im Wagen, um die Eltern anzurufen, und so stieg Greta alleine aus. Kälte rieselte über ihren Rücken, als sie auf das Gebäude zuging. Sie registrierte die kitschige Weihnachtsdekoration in der Auslage, als sie eintrat. Weihnachten. Wie sollten sie das nur überstehen?
Wie ferngesteuert lief sie durch das Geschäft, wartete, bis sie beim Gebäck an der Reihe war, suchte im Kühlregal nach Milch und Käse, und stellte sich dann bei der Kasse in die Schlange. Die anderen Menschen schienen ihr nichts anzumerken. Fetzen banaler Gespräche waberten um sie herum. Greta konnte nicht glauben, wie normal die Welt um sie herum agierte. Sie musste sich ständig  klarmachen, dass niemand es bemerken konnte.
Unauffällig saß der kleine weiße Schmetterling im Augenwinkel und hielt seine Flügel geschlossen. Auch er schien sich hier nicht wohl zu fühlen.
„Sie können es ja gar nicht sehen“, dachte sie und fühlte sich völlig fehl in dieser alltäglichen Situation. Am liebsten hätte sie alle Umstehenden angebrüllt: „Seid endlich still! Seht ihr denn nicht, dass ich ein totes Baby im Bauch trage?“

 

Die Nacht im Krankenhausbett war furchtbar. Die ungewohnten Geräusche hinderten sie zusätzlich zu ihren lauten Gedanken in den Schlaf zu finden.Wenn man nur den Kopf abstellen könnte!
Ihr war kalt, so entsetzlich kalt. Sie selbst schien diese Kälte auszustrahlen. Ob sich der Tod in ihr so kalt anfühlte? Der Schmetterling bewegte beruhigend seine filigranen Flügeln auf und ab.  
Verschiedene Bilder rasten durch ihren Kopf. Greta sah sich selbst, als sie am Vortag im Bett lag, die Hände auf ihrem Bauch, und sie plötzlich das Gefühl beschlich, ihr Bauch wäre leer. Oder der Augenblick, als der Hausarzt ihr zuliebe mit Ultraschall nach dem Kind sah, und sie erkannte, dass das markante Blinken des Herzens ausblieb. Sie hörte abermals, wie ihre Schwester am Telefon aufschluchzte, als sie erfuhr, was geschehen war, oder sah wieder vor sich, wie ihre Mutter mit den Tränen kämpfte, und versuchte, für sie stark zu bleiben.
„Es dauert ein bis fünf Tage, bis die stille Geburt von den Medikamenten ausgelöst wird“, hörte sie die Stimme des Arztes erneut in ihrem Kopf. Wieder flackerte der Gedanke in ihr auf, dass es besser für sie wäre, das tote Kind sofort aus ihr rauszuschneiden. Aber mit jeder Minute, die verstrich, wurde klarer, dass sie die Geburt brauchen würde, um zu begreifen, dass die Schwangerschaft vorbei war.

Auf jeden Fall war die Entscheidung, am selben Abend ins Krankenhaus zurückzukehren, um diese kleine Pille zu schlucken, die ihr verstorbenes Kind auf die Welt drängen sollte, richtig gewesen. In sieben Tagen war Weihnachten, und die Kinder sollten ein halbwegs normales Weihnachtsfest bekommen. Ihr Kopf spielte ihr wieder das Schluchzen ihres vierjährigen Sohnes vor, als sie versucht hatten, ihm und der zweijährigen Schwester beizubringen, was passiert war.
„Kriegen wir jetzt kein Baby?“, hatte er weinend gefragt. „Wir können das Baby doch nicht allein im Krankenhaus lassen!“
Die Kälte unterhalb der Bettdecke schien sich noch zu verstärken. Irgendetwas in ihr krampfte sich zusammen, und sie zog ihre Beine an, soweit ihr großer Bauch es erlaubte. Schon seit einigen Stunden hatte sie immer wieder diese Schmerzen, und eine leise Angst beschlich sie, dass noch mehr mit ihr nicht in Ordnung sein könnte.
Auch die weißen Flügel des kleinen Schmetterlings schienen zu zittern.

 

Um 5:00 Uhr morgens kam die Nachtschwester ins Zimmer. Als Greta ihr besorgt von den Krämpfen erzählte, stutzte diese. „Könnten es schon Wehen sein?“, fragte sie. Überrascht setzte Greta sich auf und kontrollierte dann gemeinsam mit der Schwester die Abstände der Krämpfe. 10 Minuten. Wie konnte ihr das entgangen sein? Der Schmetterling hüpfte auf und ab und flatterte aufgeregt mit seinen schönen Flügeln.
Panisch rief sie Alex an. Die Vorstellung, er könnte zu spät kommen, und sie müsste diese Geburt alleine überstehen, ließ sie verzweifeln.
Als er eine Stunde später da war, war sie überwältigt von seiner Umsicht. Er hatte die Babydecke von daheim mitgebracht. Tränen rannen ihre Wange herab, als sie den Stoff an ihre Brust drückte. Er hatte für das Baby ein Stück Zuhause mitgebracht! Die Namensliste hatte er auch eingepackt, und den Fotoapparat. Den Fotoapparat? Durfte man sein totes Kind fotografieren? Aber Alex meinte schlicht: „Ich will es einfach. Ich will einen Beweis, dass wir drei Kinder haben.“

 

Die Hebamme im Kreißsaal war jung, aber erstaunlich einfühlsam. Ob sie schon einen Namen für ihr Kind ausgesucht hätten?
„Wir wissen nicht…  Wir wollten uns überraschen…“. Alex‘ Stimme erstarb.
Sie nickte verständnisvoll. „Gibt es noch Fragen, die sie zur Geburt haben?“, wollte sie wissen. Greta räusperte sich. „Wie wird es aussehen?“, fragte sie dann leise, denn sie traute sich nicht zu fragen: „Muss ich Angst davor haben, mein Kind nach der Geburt anzusehen?“

Als die Geburt sich zuspitzte, war Greta am Verzweifeln. Sie litt unter Schüttelfrost, und konnte sich trotz mehrerer Decken und Alex‘ Nähe nicht wärmen. Die Schmerzen der Wehen waren unvorstellbar, und schließlich nahm sie das angebotene Schmerzmittel an. Im Hirn breitete sich ein nebelartiges Gefühl aus, und sie war dankbar, ihre Empfindungen nun wie durch Watte wahrzunehmen. Trotzdem waren die Wehen nach wie vor unerträglich. Warum konnte sie diesmal die Schmerzen nicht ertragen? Sie hatte die ersten beiden Geburten doch auch ohne Hilfe gemeistert.
Erst hinterher würde ihr klarwerden: Im Innersten wusste sie, dass dies die letzten Momente mit ihrem Kind waren. Ihr Körper weigerte sich einfach, es loszulassen. Er arbeitete nicht mit den Wehen, sondern gegen sie. Denn hätte sie ihr Baby erst einmal losgelassen, würde sie es nie mehr zurückbekommen.
Sie konnte ihn nun nicht mehr sehen: Der Schmetterling war aus ihrem Sichtfeld verschwunden. Dennoch war er hier. Irgendwie konnte sie das spüren.

Endlich gewannen die Wehen den Kampf. Lautlos trat ihr Sohn in die Welt ein, die er längst schon verlassen hatte.

 

Irgendwann war die eisige Kälte nicht mehr da – wann, konnte sie später nicht mehr sagen. Mit ihr war auch der kleine, weiße Schmetterling verschwunden. Er hatte eine tiefe Leere in ihr hinterlassen. Eine Lücke in ihrem Herzen. Und sie wusste, sie würde nie mehr gefüllt werden können.

 

Version 2