Von Janna Lehmann
Franz saß kippelnd auf seinem Hocker vor dem Tresen der kleinen Kneipe und schimpfte vor sich hin : „Diese Scheißweiber! Das einzige, was bei diesen Weibsbildern zählt, ist Kohle! Was ist aus den Mädchen geworden, die noch von der wahren Liebe träumen? Die noch wissen, was es wert ist, ehrlich geliebt zu werden? Die einem Mann auch dann folgen, wenn er arm ist, nur weil er sie zu lieben weiß? Bah, das war einmal, heute träumen sie alle nur noch von schicken Autos, Penthousewohnung, sündhaft teuren Klamotten…“.
Es waren keine Gäste mehr da, und der Kneipenbesitzer, ein großer, rundlicher Mann mit Bart und sonst gutmütigen Gesicht, sah jetzt ungeduldig auf den schon ziemlich betrunkenen Mann mittleren Alters, dem man noch den Rest an Attraktivität ansah, die er mal in jüngeren Jahren besessen haben musste. Jetzt aber zeichnete sich sein schweres Leben als Arbeiter im Hüttenwerk ab, wo er von morgens bis abends bei unmenschlichen Temperaturen mit flüssigen Eisen hantiere. Die Entbehrungen durch die Armut und den Alkohol, indem er sein ganzes Geld investierte, standen ihm ins Gesicht geschrieben.
Der Wirt setzte ihn letztendlich vor die Tür, trotz des Mitleids, das er versteckt in sich fühlte. Aber was denn! Würde er weniger saufen, hätte er vielleicht doch eine Frau abbekommen, eine, die nicht nur auf Geld aus war.
Franz stolperte auf die Straße. Es war Winter und es schneite in dichten, großen Flocken. Seine verlotterte Wohnung befand sich im Nachbardorf, das durch einen kleinen lichten Wald und eine wenig befahrene Landstraße mit der Kleinstadt, in dem die Kneipe lag, verbunden war. Franz lief benommen durch die verlassenen Straßen, raus aus dem bewohnten Bereich. Ein schneidender Wind empfing ihn auf der Landstraße. Er spürte höllische Glätte unter seinen unsicheren Füßen. Der feine Pulverschnee, der sich wie Puderzucker über die harsche Eisschicht legte, machte die Straße noch rutschiger. Franz schimpfte und fluchte leise vor sich, er redete ständig mit sich selbst, wenn er zu viel getrunken hatte, was quasi jeden Abend vorkam. Nie hatte er ein gutes Wort für andere übrig. Auch nicht für sich selber. Er rutschte mehrmals aus, rappelte sich wieder hoch, fluchte noch mehr. Auf der Hälfte der Strecke mündete ein breiter Feldweg auf die Landstraße, an dessen Kreuzung eine uralte Buche stand. Den Kindern im Dorf wurde seit vielen Generationen erzählt, sie wäre der Sammelplatz der Geschöpfe der Traumwelt. Auch Franz hatte all‘ diese Geschichten gehört und nie geglaubt. „Kinderei!“ schimpfte er laut vor sich hin, als er sich der Buche näherte. Er stolperte auf die Buche zu, unter der eine Bank stand. Er musste sich einen Moment ausruhen. Die Wurzeln des alten Baumes erstreckten sich wie ein Pilzgeflecht um den Stamm, Franz verfing sich in einem Ausläufer und fiel äußerst unsanft der Eichenbank zu Füßen. Mühsam versuchte er, sich an der Holzsitzfläche hochziehen, als er plötzlich innehielt. Selbst sein Fluchen blieb im Halse stecken. Eine tänzelnde Schneewolke, die sich wie eine Windhose in die Höhe schlängelte und sich immer mehr zu verdichtete, bewegte sich auf ihn zu, bis sie sich, vorerst undeutlich, zu einem schlanken Frauenkörper formte, der mit dem Schneewirbeln einen Reigen tanzte.
Er schüttelte sich mehrmals, kniff sich selber in den Arm, um sich zu vergewissern, dass er nicht träumte und krabbelte wie ein unbeholfen auf die Bank, während die Frauengestalt – oder was wie eine solche schien- sich langsam wieder von ihm entfernte, den Feldweg entlang in Richtung Fichtenwald.
Er rappelte sich hoch, folgte stolpernd der Erscheinung, wie hypnotisiert, mit dem Wind im Rücken, der ihn voranzutreiben schien. Schon bald hatte er den Fichtenwald erreicht und eine stille beklemmende Stimmung empfing ihn. Die Bäume milderten den Wind ab, die hohen Baumwipfel, die ihm wie ein Dach den Blick nach oben verwehrten, formten einen schwarzen Himmel. Auch die Geräusche des Sturmes klangen hier wie ein entferntes Rauschen und drangen wie in Watte gepackt zu seinem Ohr. Die Frauengestalt tanzte jetzt ruhiger, harmonischer, ohne von den Windwirbeln gedreht zu werden, schien nun wie von selbst zu tanzen, um die Bäume herum, verzaubernd, schwebte dann durch zwei naheinanderstehende Fichten, deren schwer vom Schnee nach unten gebogenen Äste ein Tor bildeten. Und plötzlich war das tänzelnde Wesen verschwunden! Franz stutzte erschrocken, dann, von der Angst ergriffen, die Gestalt zu verlieren, hechtete auf das Ästetor zu und bremste kurz davor für einen kurzen Moment abrupt ab. Unschlüssig beobachtete er den Schnee, der die Zweige nach unten drückte und der nach und nach herunterrieselte und sie von ihrer Last befreite. Sie begannen bereits, sich nach oben zu biegen. Würden die Äste nach oben schnellen, gäbe es kein Tor mehr. Franz sprang unter ihnen durch, bevor das Tor sich auflöste.
Verdutzt sah er sich um. Auf der anderen Seite war kein Fichtenwald mehr, sondern eine riesige tropfsteinartige Höhle, in der sich ein mattes Licht ohne erkennbare Lichtquelle ausbreitete und trügerische Schattenspiele hervorzauberte. Vor ihm erstreckte sich ein knapp meterbreiter Weg, weiß und glatt schimmernd, daneben nur undurchdringbare Dunkelheit. Ihm wurde schwindelig bei dem Gefühl, es könne dort unendlich in die Tiefe gehen. Über ihm sprangen Felszacken hervor, die etwas bedrohliches hatten. Langsam machte er vorsichtige Schritte auf der scheinbar glatten Fläche, erwartete einen Hall, aber zu seinem Erstaunen hörte man seine Schritte nicht. Ungläubig sah er auf seine Füße. Er trat fest mit der harten Sohle seiner Sicherheitsschuhe, die er auch außerhalb des Hüttenwerkes trug, weil er nur die besaß, auf. Nichts. Auf dieser sich wie Marmor spiegelnden Fläche, in einer riesigen Höhle, in der das Fallen eines Wassertropfen die Luft mit seinem Widerhall hätte erfüllen müssen, waren seine Tritte nicht zu hören. Es umgab ihn nur eine furchtbare Stille, erbarmungslos, tonnenschwer, sie hatte alles fest im Griff. Er wollte rufen, aber sein Herz war ihm dermaßen klamm, dass er kein Laut herausbrachte. Er ging nun immer hastiger den Weg folgend weiter und befand sich plötzlich in einer großen Halle. Er hatte keine Kurve bemerkt, aber sie war aufgetaucht wie hinter einer Wegbiegung. Dort war sie wieder, die Frauengestalt, sie tanzte wie eine Schlittschuhläuferin ohne Schlittschuhe und ohne Kufengeräusch. Die glatte Fläche reflektierte die stalaktitenartige Eiszacken der Decke und die schwarzen Tiefen dazwischen, aber nicht die Tänzerin. Ihre Haare flossen silbrig glänzend über den Rücken bis auf den Rock, in den sie überzugehen schienen als würde das Gewand aus ihren Haaren geformt. Ihre Haut, pudrig-matt, wirkte wie stumpfes Porzellan. In ihren Augen ohne Farbe blinkten Sternchen und auf ihrem schönen Gesicht lag eine Mischung aus unerschütterlichen Frieden und schwerer Traurigkeit. Eine innere Einsamkeit lag auf ihr. Nun blieb sie stehen, drehte sich nach ihm um, als hätte sie auf ihn gewartet und sprach ihn ohne die Lippen zu bewegen an. Es war keine Stimme, die endlich diese erdrückende Stille hätte zerreißen können, sondern Schwingungen, die erst im Inneren seines Kopfes eine Stimme formten und nicht über das Ohr zu ihm drangen. Auch sprach sie in keiner definierbaren Sprache zu ihm. So, wie man Gedanken hat, die man nicht in eine Sprache kleidet, so hatte auch diese Stimme keine Worte. „Komm!“ forderte sie ihn auf. Willenlos folgte er ihr. Ihr Kleid rauschte nicht, auch ihre Schritte hallten nicht. Sie führte ihn in einen Raum, der nur durch Dunkelheit, aber nicht durch Wände begrenzt war. In der Mitte stand ein imposantes Himmelbett mit einem Volant aus demselben Stoff wie ihr Kleid. Sie drehte sich langsam zu ihm um, während sich ihm der Hals zuschnürte. Er starrte wie hypnotisiert diese wunderschöne Frau an, auf ihren Busen unter dem dünnen Stoff, der sich durch keinen Atem auf- und abbewegte, auf die mageren Halsknochen, die genauso fleischlos wie ihre schlanken langen Arme und Finger unter der Haut schimmerten. Sie streckte den Arm nach ihm aus. Vorsichtig reichte er ihr seine zitternde Hand und fuhr zurück, als er ihre Finger berührte. Sie waren wie gefrorenes Eisen, an dem man festbrannte. In maßlosem Entsetzen erstarrte er.
„Bleibe bei mir“, hörte er sie sagen, „ich erfülle dir deinen Wunsch zu lieben, und geliebt zu werden. Wenn du mir all‘ deine Liebe gibst, werde ich wärmer werden. Du musst nur selber bereit sein, zu erkalten, du musst mir deine Wärme geben. Ich gebe dir dafür alle Aufmerksamkeit, nach der du dich so sehnst, und ich verlange nichts von dir, außer, dass du mich liebst und wärmst.“ Er erschauderte. Die Stille des Ortes pressten ihm seine Schläfen wie in einem Schraubstock zusammen. Er fühlte seinen Körper erkalten, von ihnen heraus. Panik breitete sich in ihm aus, er versuchte zu schreien, um die Stille zu zerreißen, davonzurennen, um von diesem Ort zu fliehen, aber er spürte das Leben und die Wärme aus seinem Körper weichen.
Am Morgen fand ihn der Postbote erfroren vor der Bank der alten Buche. Ein paar Tage lang war er Dorfgespräch, dann vergaß man ihn, bis auf den Gastwirt, der sich noch lange ärgerte, weil Franz eine große Zeche bei ihm offen gelassen hatte.
Februar 1999/überarbeitet Februar 2019