Von Markus Soike
Ich fühle mit dem Kätzchen. Zumindest erreicht mich der Nervenkitzel. Irgendwie. Das Mädchen weint. Ich fiebere mit. Jetzt gerät der Vater in Panik. Werde ich jetzt empathisch? Wäre ja eine logische Entwicklung.
Wissenschaftlich: Gibt es einen absoluten Gefrierpunkt in der menschlichen Psyche?
Es ist abstrakt. Das Kätzchen ist im Eis eingebrochen. Fühle ich mit ihm? Das Mädchen ist im Begriff, das Eis zu betreten. Fühle ich mit ihm? Der Vater, weiter hinten im Park, rennt los, um seine Tochter zu retten. Seine Panik, denke ich, muss körperlich wehtun. Mir nicht weniger. Ich meine seelisch. Psychisch. Mitleid.
Ich beobachte die Szene so genau, dass sie alle zu meinen Schachfiguren werden, ohne dass ich eingreife. Darin bin ich mir fürs Erste selbst genug. Den Dingen ihren Lauf zu lassen, ist mein erklärter Höhepunkt des Sadismus. Sogar Feigheit ist dann ein Lustgefühl. Hin und wieder eine leichtfüßige Entscheidung: Wen lasse ich krepieren – das Kätzchen, das Mädchen, den Vater, sie alle… oder übersende ich mich und sie demütig und lustvoll dem Zufall? Der höheren Macht? Stelle ich selbst diese infrage, mache ich mich so mit ihr gemein?
Ich stelle mir vor, wie ich den panischen Vater festhalte, ihm ruhig auseinandersetze, dass seine Tochter es wert ist, gerettet zu werden, nicht aber das Kätzchen. Seine Tochter will das Kätzchen retten, also passt sie nicht in mein Konzept. Der Vater will seine Tochter retten, also passt er nicht in mein Konzept. Das ist sehr kompliziert. Andersrum, vielleicht hat die Katze den größeren Wert von ihnen? Muss das Mädchen sie retten können? Wie dann mit dem Vater verfahren?
Wissenschaftlich: Sind nur Tiere in der Lage, Empathie bei mir auszulösen? Man muss wissen, dass ich als Kind ein Kätzchen hatte, das auch relativ lange überlebt hat.
Auf sehr dünnem Eis.
Wir sind mittendrin, mittendrauf. Auf dünnem Eis. Wie tief ist das stille Wasser darunter? Wird es stiller, wenn über dem Eis das Geschrei umso größer ist?
Man könnte schon sagen, dass meine Empathie vereist wurde wie eine Warze an der schwieligen Ferse… einmal mehr. Menschlichkeit ist Fäulniswärme. Der Gestank des Lebens muss eingefroren werden, der Ästhetik wegen, des Höheren wegen. Die herausgepressten Stänke der Todesangst sind die Kapitulation des Körpers vor dem Höheren: Der Kälte.
Ich bin wissenschaftlich berufen, dieses gefrorene Aquarium -gut, noch ist es ein Terrarium- zu beobachten, zu analysieren, Rückschlüsse für mein ungeheiztes Gedankengebäude zu ziehen. Die Laborbedingungen sind durch den EISKALTEN Nährboden gegeben.
Die Kleine liegt auf dem Eis, weil der Vater ihr die Füße weggezogen hat. Er weiß, dass liegend die Gefahr kleiner ist, einzubrechen. Er hält sie an den Füßen fest. Er liegt selbst halb auf dem Eis. Ich halte ihn am Bein fest, versichere ihm, dass ich ihn doch retten müsse (und dass er das andere Kroppzeug vergessen kann).
Das Wasser muss sehr tief sein. Das Kätzchen ahnt das auch. Das Mädchen befürchtet es. Der Vater weiß es. Ich genieße es. Wir alle platzen vor Adrenalin – ich bewundere die drei fast, weil sie zusätzlich Angst empfinden.
Könnte angebracht sein, dass ich selbst Angst äußere… „Passt auf meine guten italienischen Schuhe auf!“, rufe ich. Es kommt irgendwie nicht an.
Loslassen, sagt mein Therapeut, ist wichtig. Der Vater kann es am wenigsten, ich am meisten.
Der Vater schlägt mich. Ich stecke das weg. Bin schon so oft geschlagen worden. Jetzt bricht das Eis, und das meint nicht, dass wir warm miteinander werden. Das Mädchen, kraft seiner Todesangst, lässt die Katze los, steigt über ihren sinkenden Vater und zerkratzt mir das Gesicht. Ich steige daraufhin über Mädchen und Vater drüber, kann sie ein paar Sekunden als Brücke benutzen, ergreife die Katze, die mir in Panik ebenfalls das Gesicht zerkratzt. So muss ein Vernunftsmensch leiden. Aber die Katze ist dankbarer als das Mädchen.
Das Mädchen ist in einer undankbaren Position. Der Vater nicht minder. Und ich bin patschnass. Die beiden nicht minder, aber ich bin der einzige, der darunter leidet. Dieses extreme Gefühl der Kälte macht mich fassungslos. Wem soll das Füßchen in der Kälte absterben? Würde nicht das Katzepfötchen ästhetisch dabei am besten wegkommen? Die Gewalt verschwindet aus meinem vorderen Bewusstsein. Sinkt weg. Ich habe das Kätzchen auf dem Arm. Was gibt mir mehr Macht, das Retten oder das Zuschauen? Das Retten ist zukunftsfähiger, denn zu beobachten sind jetzt nur noch ein paar Luftblasen. Würde ich die Katze hinterherwerfen, hätte ich kurz noch was zu beobachten, könnte mich aber nicht an meiner Großmut aufgeilen.
Andererseits: Meine veredelte Feigheit ist die aristokratisch-kalte Version der Gewalt: indigniertes Wegducken, erhabenes Wegsehen, würdevolles Weglaufen.
Wissenschaftlich: Kann Emotionslosigkeit als LEIDEN betrachtet werden, das ja wiederum eine Emotion ist?
Wissenschaftlich: Wenn Mitleid geheuchelt wird, trainiert man dann ein Pseudo-Mitleid, das sich als Waffe gegen einen selbst kehren würde? Würde das dann nicht wiederum echtes Mitleid auslösen?
Wissenschaftlich: Selbstmitleid?
Wissenschaftlich: Lieber bleibe ich kalt.