Von Raina Bodyk
„Du hast mir versprochen, dass du mitkommst ins Krankenhaus!“, beschwört Ursula ihren Mann Gero.
„Ich weiß. Das wollte ich ja auch. Es tut mir wirklich leid. Aber jetzt hat man mir den Vortrag über Rassenkunde vor der älteren Hitlerjugend angehängt. Das konnte ich leider nicht ablehnen.“
*
„Tja, Frau Ahrens, wie Sie wissen, hat mich der zweite Krankheitsschub bei Matthias sehr beunruhigt. Deshalb habe ich zur Sicherheit noch eine Probe aus dem Rückenmark entnommen. Leider hat sich mein Verdacht bestätigt. Wir haben Polioviren gefunden. In der Goethe-Schule gab es vor kurzem einen Fall von Kinderlähmung. Vielleicht ist Ihr Sohn mit den dortigen Schülern in Kontakt gekommen. Es steht bedauerlicherweise eindeutig fest, dass Ihr Sohn an einer Polioinfektion erkrankt ist. Die Entzündungssymptome werden bald abklingen, aber wir müssen darauf achten, ob im Verlauf der nächsten Tage Lähmungen auftreten. Dann handelt es sich um die böseste Form der Kinderlähmung. Matthias muss auf jeden Fall hier im Krankenhaus zur Beobachtung bleiben und wird isoliert werden müssen.“
Die Mutter zuckt unter dem Schock zusammen. Kinderlähmung?! Einen Moment hat sie Angst, in Ohnmacht zu fallen. Mit zitternden Händen sucht sie Halt am Tisch. „Und was können Sie tun?“
Dr. Langwies zögert einen winzigen Augenblick: „Es gibt gottseidank seit einigen Jahren ein Serum aus dem Blut von Kindern, die Antikörper gegen das Virus gebildet haben und nicht erkrankt sind. Nur …“
„Mein Kind wird also wieder gesund?“
„Hmmm, da gibt es leider ein unvorhergesehenes Problem: In Bayern und im Rheinland ist eine Epidemie ausgebrochen. Alle verfügbaren Seren wurden dorthin geschickt. Ich habe bereits in der Charité nachgefragt. Zurzeit ist nichts vorrätig. Aber vielleicht hat der Junge Glück. Sie können Matthias gern besuchen. Achten Sie aber bitte unbedingt darauf, das Krankenzimmer nur mit Schutzkittel, Atemmaske und Handschuhen zu betreten. Die Krankheit ist hochansteckend.“
Fast rennt Ursula nach Hause, kaum fähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Dort verlassen sie alle Kräfte und sie sinkt verloren und unglücklich auf das durchgesessene Sofa, auf dem ihr Sohn so oft herumgesprungen ist. Bittere Tränen rollen über ihre Wangen.
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Sturmbannführer Ahrens steht vor den gespannt wartenden Jugendlichen in ihren braunen Hemden mit der rot-weißen Hakenkreuz-Armbinde.
„Meine Herren, Sie sind in dem Alter, wo man sich für das andere Geschlecht zu interessieren beginnt und …“ Verlegenes Kichern unterbricht ihn.
„Das braucht Ihnen nicht peinlich zu sein, der Geschlechtstrieb ist etwas völlig Normales. Wir müssen aber dafür Sorge tragen, unser edles Germanenblut nicht zu vergiften. Es ist unsere heilige Pflicht. Wir sind es unserem arischen Volk und unserer Ehre schuldig, unsere Rasse rein zu erhalten.“
Ein Bursche ist besonders vorwitzig: „Sollen wir uns immer erst den Ariernachweis zeigen lassen?“
„Na, das werden Sie doch sicher auch so rauskriegen, ob Ihre Herzallerliebste jüdisches Blut hat oder nicht! Schüchtern scheinen Sie ja nicht gerade zu sein.“
Unter allgemeinem Gelächter und Geklatsche spricht Ahrens, der wegen seiner lockeren Art im Umgang mit der Jugend recht beliebt ist, weiter: „Unsere Forscher haben anhand zahlloser Untersuchungen feststellen können, dass Juden überwiegend die Blutgruppe B haben. Diese ist sehr krankheitsanfällig, verderbt und insgesamt stark degeneriert im Gegensatz zur arischen Blutgruppe A. Es gibt Beweise, dass die Juden Mischlinge aus drei verschiedenen Rassen sind. In ihren Adern fließen Affenblut sowie Neger- und Mongolenblut. Wen wundert es da noch, dass unsere Wissenschaftler Psychopathen, Alkoholiker und Schwerverbrecher ebenfalls überwiegend der Gruppe B zuordnen konnten.“
„Und was passiert, wenn sich jüdisches mit arischem Blut vermischt?“
„Gute Frage! Das semitische Volk ist ein Schmarotzer, es lebt von Betrug, unehrlicher Arbeit und Wucher. Der Jude ist der Parasit, der unser Volk systematisch als Wirtsvolk benutzt und aussaugt, letztlich zerstört. Er kann gar nicht anders. Daher ist die Reinhaltung unseres unverdorbenen germanischen Blutes unser oberstes Gebot. Verbinden sich diese Lebenssäfte, ist das Blut verdorben – für viele Generationen. Ein Kind aus der Verbindung zweier rassenverschiedener Elternteile wird jüdisch infiziert, verseucht sein. Nicht umsonst hat unser Führer per Gesetz ehelichen und außerehelichen Verkehr zwischen Deutschen reinen Blutes und Juden verboten. “
„Aber wenn jemand eine Bluttransfusion braucht?“
„Inzwischen dürfen diese Untermenschen kein Blut mehr spenden. Lassen Sie sich nicht verunreinigen, nicht entrassen! Heil Hitler!“
Unter Beifallsgetöse verlässt der Sturmbannführer den Saal und eilt nach Hause, um zu hören, wie es um seinen Sohn steht.
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Gero schaut seine Frau an und wagt kaum zu fragen: „Was hat der Arzt festgestellt?“
Unter neuerlichen Tränen berichtet Ursula stockend, was im Krankenhaus festgestellt wurde.
„Kinderlähmung! Der arme Junge. Kann man etwas tun?“
„Es gibt ein Serum dagegen, aber es ist nirgends vorrätig.“
Der Ehemann reagiert wütend: „Hast du dem Arzt gesagt, wer dein Gatte ist? Ich bin SS-Mann der ersten Stunde, gehöre zur Elite und kann doch wohl verlangen, dass alles Menschenmögliche für meinen Sohn getan wird.“
„Aber Gero, was sollen sie denn tun, wenn es kein Serum gibt?“
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Am nächsten Morgen werden die Eltern ins Krankenhaus gerufen. Eilig stürzen sie zu ihrem Sohn. Der Alptraum ist wahr geworden.
Matti liegt schluchzend in seinem Bett: „Mama, Papa, ich kann das rechte Bein nicht mehr bewegen. Und guckt mal, der Fuß ist auch ganz verdreht.“
„Oh Liebling! Du bist sehr, sehr krank. Aber wir halten zusammen und lassen uns von nichts und niemand unterkriegen, ja? Du darfst nicht die Hoffnung verlieren! Papa und ich sind immer da“, versucht die Mutter, ihn zu trösten.
*
Ursula kommt gerade aus dem Buchladen unweit ihrer Wohnung, wo sie ein Abenteuerbuch für Matthias ausgesucht hat, als sie zufällig fast über die Nachbarin von gegenüber stolpert. Die ist Jüdin und Gero mag es gar nicht, dass sie sich mit ihr unterhält. Aber sie kennen sich schon so lange. Über ihre beiden Söhne, die eine Weile in die gleiche Schule gingen, haben sie sich kennengelernt.
„Frau Ringelblum, schön, Sie zu treffen. Gefällt es Ihrem Sohn in der neuen Schule?“
„Die alte hat ihm besser gefallen. Aber er musste ja in eine Judenschule wechseln.“
Ursula nickt mitfühlend: „Das war sicher schlimm für ihn.“
„Für Sie ist es sicher oft auch nicht einfach. Ihr Mann …“
„Nein. Aber zurzeit habe ich ganz andere Sorgen. Mein Sohn ist an Kinderlähmung erkrankt. Ich kann vor Sorge kaum mehr schlafen. Ein Bein ist gelähmt. Er ist kreuzunglücklich und wir wissen nicht, wie wir ihn trösten sollen. Es ist zum Verzweifeln. Im Augenblick ist kein Serum zu bekommen. Wir haben alles versucht.“
Frau Ringelblum ist erschüttert.
Mit sichtlicher Empörung erzählt sie: „Joshua hatte sich in seiner neuen Schule auch mit diesem Virus infiziert. Die Schule musste zeitweilig geschlossen werden. Ich bin unendlich dankbar, dass mein Junge wieder gesund geworden ist. Sein Blut hat Antikörper gebildet. Als wir von der Bitte um Blutspenden von Genesenen gelesen haben, sind wir sofort zum Gesundheitsamt gefahren, um zu spenden. Man hat es nicht genommen! Jüdisches Blut ist verdorben!“ Sie ist wütend, verbittert und sehr verletzt.
Ursula kann es kaum fassen. Der Ringelblum-Junge hat die Antikörper, die sie für das Serum für Matthias brauchen! Aufgewühlt packt sie die Nachbarin am Arm.
„Dann kann Ihr Sohn uns ja helfen! Das Heilmittel kann hergestellt werden. Oh, Gott sei Dank! Er ist gerettet!“ Sie fällt Frau Ringelblum um den Hals.
„Frau Ahrens, haben Sie nicht verstanden? Joshua darf kein Blut spenden. Sie haben uns behandelt wie Abschaum.“
„Das ist mir egal. Sie werden uns doch helfen?!“
„Natürlich! Wenn Sie die Erlaubnis besorgen können …“
„Mein Mann bekommt das sicher hin.“
*
Zuhause erzählt Ursula ihrem Mann von der Begegnung.
„Du sollst dich doch von ihr fernhalten!“
„Aber Gero, ihr Junge ist gesund! Vielleicht schafft Matti das ja auch. Jetzt ist alles anders! Jetzt kann Dr. Langwies das Serum herstellen lassen.“
„Das geht nicht.“
„Willst du etwa nicht, dass unser Sohn gesund wird?“
„Frau, frag mich das ja nicht noch mal! Ich würde alles tun.“
„Dann lass es uns versuchen.“
„Was denkst du dir?! Der kleine Ringelblum ist Jude!“
„Na und?“
„Hast du eigentlich nichts begriffen? Jüdisches Blut ist verseucht und würde unseren Sohn vergiften, mehr noch als diese elende Krankheit. Du kannst doch nicht wollen, dass unser reines, arisches Blut für Generationen verdorben wird! Denkst du nicht an die Enkelkinder, die du irgendwann mal haben wirst?“
Ursula packt ihren Mann verständnislos an beiden Schultern und schüttelt ihn mit aller Kraft. Sie schluchzt so heftig, dass sie kaum sprechen kann. „Wer weiß, ob Matthias lang genug lebt, um Kinder zu bekommen. Ich habe lieber ein Kind mit ‚unreinem‘ Blut, als ein krankes, leidendes. Dies ist Mattis einzige Chance. BITTE! Lass mich mit dem Doktor und den Ringelblums reden.“
„Nur über meine Leiche! Das ist Rassenschande. Du kennst das Gesetz über Rassenhygiene! Dafür kommst du ins Zuchthaus. Du glaubst doch nicht, dass du einen Arzt finden würdest, der freiwillig germanisches Blut verunreinigt?“
„Dann gehe ich eben zu einem jüdischen Arzt!“ Die Mutter gibt nicht auf.
„Tu das. Der wird sich bestimmt gern für dich strafbar machen!“, höhnt ihr Mann. „Die kennen doch alle weder Moral noch ärztliches Pflicht- und Ehrgefühl. Ich verbiete dir ein für alle Mal, daran auch nur zu denken. Du wirst meinen Sohn nicht mit Affenblut verpesten!“
Ursula sieht ihren Mann lange und nachdenklich an. Sie weint nicht mehr, ist nicht mehr wütend. In ihr ist alles kalt und ruhig: „Jetzt weiß ich, dass ich dich nie gekannt habe, Gero Ahrens. Ich gehe zu meinem Kind.“
Sie nimmt ihren Mantel, öffnet ihre Handtasche und wirft ihren Schlüsselbund auf den noch vom Mittagessen gedeckten Tisch. „Leb wohl.“ Leise schließt sich die Tür.