Von Barbara Hennermann

Mathilde wusste bereits im zarten Alter von zehn Jahren, was sie später  einmal werden wollte,

reich und unabhängig.

 

Ausschlaggebend für diese Entscheidung war ihre Familie gewesen – Vater, Mutter und neun Kinder. Da war natürlich immer alles knapp bemessen, von der Raumverteilung bis zum Nahrungsmittelangebot. Kein eigenes Zimmer wie die Freundinnen, Süßigkeiten nur als Ausnahme und Ferien im Schwimmbad anstatt an der See … all das gekrönt vom elterlichen Spruch „es geht doch nichts über eine große Familie“.

 

Sobald Mathilde durchschaute, wie das mit dem Kinderkriegen vor sich ging, betrachtete sie ihre Eltern ob deren, in ihren Augen,  „undisziplinierten und verantwortungslosen Verhaltens“, mit stiller Abscheu.

Es gab für sie nur einen Weg, das „Elend, in das sie hineingeboren“ war, hinter sich zu lassen: Leistung.

Am Gymnasium übersprang sie durch angeborene Intelligenz, vor allem aber durch zielgerichteten Fleiß, mehrmals eine Klasse, absolvierte ihr Abitur mit Bestnote – unbeschadet der Anfeindungen der Mitschüler, die ihr Vorwärtsstreben mit neidvoller Verachtung begleiteten – und wurde an der Uni zur Vorzeigestudentin.

Mit dreiundzwanzig hatte sie neben ihrem Diplom auch einen unbefristeten Arbeitsvertrag als IT- Consultant bei Microsoft in der Tasche.  Mit fünfundzwanzig übernahm sie die deutsche Gesamtvertretung.

Auf die Menschen um sie herum wirkte Mathilde befremdlich. Irgendwie fremdgesteuert, mechanisch, ja fast übermenschlich. Hinter ihrem Rücken sprach man nur von der „TT“, der Turbo Tilde.

Mathilde nahm das als Kompliment an, denn sie hatte immer ein Ziel vor Augen.

 

Eigentlich wäre jetzt ein guter Zeitpunkt gewesen, eine Pause einzulegen, nachzudenken und sich sozialen Kontakten zu widmen.

Denn Mathilde hatte  mittlerweile mit ihrer Familie nichts mehr zu tun und selbstverständlich auch keine Zeit für neue freundschaftliche oder gar weitergehende Beziehungen gefunden. Ehrlich gesagt vermisste sie die auch nicht.

Ihre Mutter hatte wohl lange versucht, ihr ins Gewissen zu reden. „Kind, du musst doch auch mal an dich selbst denken, an deine Psyche! Irgendwann macht dich das Alleinsein krank, glaub mir.“

Doch Mathilde wimmelte nicht nur diese Einwände, sondern auch den Kontakt an sich ab.

„Mutter, lass mal, ich weiß schon, was ich mache. Und so ein chaotisches und ungeordnetes Leben wie du möchte ich niemals führen.“

Meist buchte sie nach solchen Gesprächen einen Kurztrip nach Paris, London oder auch NY und gönnte sich dort einen ausgiebigen Einkaufsbummel.

Was brauchte es mehr, um das Leben lebenswert zu finden? Nein, da sollte ihr mal keiner hineinreden, es war genau das, was ihr immer schon vorgeschwebt war!

 

Warum, zum Teufel, begannen jetzt plötzlich Zweifel an ihr zu nagen? Gewiss, ein runder Geburtstag lag in Kürze vor ihr.  

Schon wieder … Irgendwie häuften die sich in den letzten Jahren …

 

Mathilde lehnte sich in die  Kissen ihres weißen Designersofas zurück, überblickte ihre raumgreifende Penthaus – Wohnung mit dem atemberaubenden Panoramablick vor den riesigen Fensterscheiben –

und seufzte.

Ein Ton, der sie hochschrecken ließ.

Was gab es zu seufzen?

Ihr ging es blendend! Der Schrank quoll über von ausgewählten, hochwertigen Kleidungsstücken aus den besten Geschäften der Welt. Ihr Bankkonto zeigte Summen, die ihre Eltern – Gott hab sie selig – nicht einmal hätten aussprechen können. Den Kühlschrank füllten teuerste Delikatessen, die sie regelmäßig ihrer Putzfrau mitgab, weil sie selbst keine Zeit zum Essen hatte.

Was also gab es zu seufzen?

 

In den Tiefen ihres Gehirns begann es leise zu pochen.

Erinnerung nennt man das wohl?

Wie ein zartes Pflänzchen schob sich da etwas nach oben, winkte vorwitzig in ihr Bewusstsein hinein.

O nein, bitte nicht!

 

Mathilde sank tiefer in die Kissen zurück und noch tiefer in ihr Unterbewusstsein.

Sie seufzte von neuem.

Und dann hörte sie sich doch tatsächlich selbst kichern!

Die Erinnerung nahm Gestalt an.

O lala – absolut ansehnlich. Lecker geradezu.

Wie war das nochmal gewesen?

Nun begann Mathilde ganz bewusst in ihren Gehirnwindungen zu bohren.

Richtig, das war damals, als sie noch auf die großen Dinge verzichten musste, aber trotzdem ständig unter Zeitdruck stand.

Da hatte sie diesen Lieferservice entdeckt.

Eismann oder so ähnlich.

Der brachte ihr regelmäßig die gefrosteten Lebensmittel.

Der Eismann hieß nicht nur so, das war auch einer.

Wie alt war sie damals? Vielleicht um die dreißig?

Und er in ähnlichem Alter.

Graublaue Augen, ungebändigter schwarzer Haarschopf, durchtrainierter Körper und vor allem – Mathilde erinnerte sich jetzt wieder genau – volle rote Lippen in einem ebenmäßigen, glatten Gesicht.

Wie es dazu kam, dass es dazu kam, hätte sie heute nicht mehr sagen können. Aber das war im Grunde auch egal.

Er verzauberte sie mit weitaus mehr als nur mit gefrosteten Nahrungsmitteln.

Ha!

Selbst die Erinnerung drückte Mathilde noch tiefer in die Sofakissen und rötete ihre Wangen.

 

Warum musste er bloß anfangen, von sich selbst zu erzählen?

„Weißt du, Tilde, es geht doch nichts über eine große Familie! Ich habe fünf Geschwister und wir halten zusammen wie Pech und Schwefel. Ich mache diesen Eismannjob nur, damit ich mein Studium finanzieren kann. Dauert natürlich länger, aber dafür …“

Er grinste sein spitzbübisches Grinsen und küsste sie auf die Nasenspitze.

„Ich möchte mir auch eine große Familie leisten können!“

So warmherzig, so liebenswert, ach ja …

 

Mathilde fuhr auf ihrer Couch hoch. Saß kerzengerade.

Verdammt!

Genau wie damals fühlte sie sich regelrecht schockgefrostet.

Selbstverständlich war die Beziehung damit beendet gewesen und sie hatte nie mehr eine zweite begonnen.

Aber dieses Intermezzo hatte sie damals auf eine Idee gebracht.

Naja, ihr Job hatte auch dazu beigetragen.

Microsoft. Zukunftsorientiert.

Die wussten, wie man gutes Personal an den Betrieb bindet.

 

Seit Jahrzehnten hatte sie nicht mehr daran gedacht.

Wirklich verrückt, wie das Bewusstsein sich ausblenden lässt, wenn man es nicht braucht!

 

Nun also –

sie war damals zu ihrem Frauenarzt gegangen und hatte sich beraten lassen.

Die Technik ist auch auf medizinischem Gebiet weit fortgeschritten und warum sollte man, beziehungsweise frau in diesem Fall, sich das nicht zu Nutze machen? Letztendlich oft ja auch nur eine Frage der Finanzierung …

 

Der Eingriff war unangenehm, aber erträglich.

Als das Röhrchen mit ihren Eizellen im flüssigen Stickstoff versenkt wurde, empfand Mathilde ein flüchtiges und bisher unbekanntes Gefühl von …

Sie konnte es nicht definieren.

Der Gynäkologe schob die Hornbrille über seinen kahlen Kopf nach hinten und meinte mit sonorer Stimme:

„Gnädige Frau, Sie werden sich befreit fühlen vom genetischen Zeitdruck und ein unbeschwertes Leben ganz nach ihren eigenen Vorstellungen führen können.“

Dann fügte er noch kurz hinzu

„Meine Mitarbeiterin an der Rezeption hält für Sie die Rechnung bereit“,

und war mit wehenden weißen Rockschößen im nächsten Sprechzimmer verschwunden.

 

Tatsächlich hatte Mathilde anfangs ein Gefühl der Erleichterung gespürt – so in etwa, als ob sie für schlechte Zeiten Vorsorge getroffen hätte.

Offenbar war der Eindruck, den die Firma Eismann bei ihr hinterlassen hatte, doch tiefer gegangen als ihr lieb war.

Doch im Lauf der Jahre allerdings war das alles in ihrem Alltag versunken.

Turbo Tilde –

da blieb für sentimentale Anwandlungen kein Raum!

 

Aber nun, so kurz vor ihrem Fünfzigsten –

oder gar schon Sechzigsten? Das Klimakterium jedenfalls hatte sie hinter sich und es hatte sie kalt gelassen –  

brach die Erinnerung aus ihr heraus. Und zog Fragen nach sich. Fragen, die sie sich bisher niemals gestellt hatte und die ihr wirklich unangenehm waren.

 

Was wäre alles möglich gewesen? Wie hätte sie leben können? Wo stünde sie jetzt?

Und vor allem: Was war noch möglich?

 

Ihr Blick schweifte durch ihre sterile Wohnung,

hinaus über die Dächer der Stadt. Große weite Leere.

Es gab nichts mehr, was sie noch erreichen könnte, nichts, was sie in ihrem Leben, reizte.

 

Doch irgendwo da draußen lebte vielleicht der Eismann von damals …

 

Mathilde stemmte sich aus den Sofakissen.

Sie setzte sich an den Rechner und suchte unter „Detektei“ nach der besten in der Stadt. Es ging schließlich um einen speziellen und schwierigen Auftrag.

Danach rief sie beim IfaM (Institut für angewandte Medizin) an und erkundigte sich nach dem Zustand ihrer „frozen eggs“. Immerhin hatte sie Jahrzehnte  für deren Pflege bezahlt, da durfte sie wohl gute Ergebnisse erwarten.

 

Im Grunde war doch alles immer nur eine Frage des Geldes.

Sie würde es einsetzen für ihr letztes, großes Projekt.

 

Von frischer Energie beflügelt setzte sich Mathilde an ihren Rechner und legte einen neuen Ordner an: „Operation Eismann/Eisprinzessin“.

 

Hb 2/2019 V2