Daniel Büttrich

Seine Teamkollegen sprangen von der Bank auf und verteilten sich in ihrer Hälfte des Spielfelds. Er stand als Letzter auf und schleppte sich in den Strafraum. Ein Mitspieler kam auf ihn zugelaufen und sagte:

„Digger, du bleibst hinten vor dem Torwart und stellst dich den Gegenspielern in den Weg. Alder, stell‘ dich in die Schussbahn, mit deiner Körpermasse kannst du die Schüsse geil blocken.“

„Ich bleib‘ hier, Alter, keine Angst. Und jetzt verpiss dich und schieß Tore!“

Er schaute auf die Uhr. 15 Minuten noch bis zum Unterrichtsende. 15 Minuten Fußball im Schulsport konnten lang werden. Und schmerzhaft, wenn die Mitschüler wieder einmal besinnungslos bolzten, und er den einen oder anderen Ball voll abbekam. Das war seine Funktion, die spielentscheidend sein konnte. Der Ball rollte, rollte an ihm vorbei. Er ließ buchstäblich Ball und Gegner laufen, las die Spielzüge, und dachte sich insgeheim:

„Was für Loser!“

Wie beim Flipper sprang der Ball nach dem Zufallsprinzip von einem Schüler zum nächsten. Kam er in seine Nähe, kickte er ihn vehement in die gegnerische Spielhälfte.

„Ruhig spielen! Konzentriert euch!“, rief der Sportlehrer.

Dann sah er, wie der Ball auf einmal gezielt und präzise von Mitspieler zu Mitspieler gepasst wurde. Der ballführende Spieler war in Bewegung, zog gegnerische Spieler auf sich, um in dem richtigen Moment dem freien Mitspieler in den Lauf zu spielen. Ein wunderschöner Schuss mit dem Vollspann von der Höhe des Strafraums! Keine Chance für den Torwart, der sich im Flug vergeblich streckte.

„Tooooooor!“, schrie er und ballte die Fäuste.

„Spasti! Du spielst für uns!“, rief ein Mitspieler.

Auf der Bank lachten die Mitschüler.

„Gigi, der Gegner hat ein Tor geschossen, nicht wir! Bist du bekifft, oder was?“

„Nein! Ich war in Gedanken!“, antwortete Gigi verschmitzt.

In den restlichen Minuten kassierte Gigi´s Team 2 weitere Gegentreffer.

„Digger, hast du Bock am Wochenende bei mir die Virtual Bundesliga Club Championship anzuschauen und nebenher selbst ein bisschen zu gamen?“, fragte Timo Gigi in der Umkleide.

„Klar, Alter.“

Er zog sich wie immer nach dem Sportunterricht möglichst schnell um, denn er wollte es nicht versäumen, Vanessa aus der Parallelklasse zu begegnen. Er fand, dass Vanessa das schönste Mädchen an der Schule war. Ihre langen, oft zu einem Zopf gebundenen, schwarzen Haare, ihr liebenswertes Lächeln, ihre Offenheit. Klar, er projizierte viel in sie hinein, das wusste er selbst, so viel, dass sie inzwischen sogar in seinen Träumen auftauchte, aber er war schließlich ein Junge in der Pubertät. Und wenn die Realität oft scheiße ist, sollten wenigstens die Träume angenehm sein, fand Gigi. Vanessa war außergewöhnlich schön, aber nicht arrogant. Sie redete sogar mit jemandem wie ihm, einem kleinen, dicken Jungen mit schlechten Noten und einem überschaubaren Freundeskreis. Im letzten Schuljahr hatte er oft die Gelegenheit gehabt, sie anzusprechen, da sie in der selben Klasse gewesen waren. Aber es standen immer irgendwelche anderen Mädchen um sie herum. Oder andere Jungs neben ihm. Er hatte sich nicht getraut, solange, bis er eines Tages nach dem Unterricht zufällig mit ihr alleine in der Fahrradhalle stand.

„Hi!“, begann Gigi das Gespräch.

„Hi!“, antwortete Vanessa.

„Wie kommst du in Mathe zurecht?“

„Es geht.“

„Der Sulzberger bringt es so langweilig herüber. Der kann nichts erklären. Außerdem kommt es mir so vor, dass er mich nicht mag.“

„Ich glaube, das kommt jedem so vor, dass der Sulzberger einen nicht mag. Der Typ hat einfach keine Gefühle. Ich glaube, der behandelt jeden mit der gleichen Kühle. Das hat nix mit dir zu tun.“

„Naja, ein Mathelehrer, der in der ersten Stunde sagt: Entweder man kann Mathe, oder man kann es nicht, der beweist doch schon von Anfang an dass er kein guter Pädagoge ist.“

„Ja, gute Pädagogen gibt`s ja nicht viele.“

„Ja, is´ wahr.“

„Du machst E-Sport?“, fragte Vanessa.

„Ja, Fußball.“

„Ziemlich gut sogar, habe ich gehört!“

„Zweite Liga Jugend. Ein Freund von mir und ich. Ist cool und macht Spaß. Ist auch ganz schön stressig, an den Wochenenden kommen wir ziemlich herum. Naja, und die Noten leiden darunter, hehehe.“

„Hihi. Hauptsache, du schaffst die Klasse und fällst nicht durch. Und vielleicht wirst du ja professioneller eSportler und verdienst viel Geld. Wäre ja auch nicht schlecht.“

„Da muss ich noch üben!“

„Hey, Gaballi!“

„GABALLI!“

„GABALLI hat ´nen Knalli!“

„Hey, Vanessa, Gaballi ist schwul!“

„Ja, genau, hahaha! Gaballi ist schwul! Pass auf, wenn er dich anfasst! Dann wirst du auch schwul.“

„Oder lesbisch!“

„Genau, hahaha! Oder lesbisch!“

„Und lass dir nichts erzählen. Der macht gar keinen Esport. Der sitzt vor dem PC und schaut Pornos!“

„HAHAHAH!“

Das Gedröhn der Mitschüler aus der Parallelklasse, die Gigi aus dem Sportunterricht kannten, unterbrach das Gespräch mit Vanessa.

„Haltet euer Maul!“, schrie Gigi.

„Oh, ich hab´ gleich Angst! Gut, dass mein Fahrrad direkt vor mir steht, dann kann ich sofort flüchten, wenn Gaballi auf mich zurollt!“

„HAHAHA!“

„Halt`s Maul, Marko. Und ich schwöre dir, wenn wir zwei einmal alleine in der Fahrradhalle sind, bekommst du in die Fresse!“, brüllte Gigi.

Die Antwort der Jungen-Gruppe war Gelächter.

„Also, bis morgen!“, sprach Vanessa und fuhr davon.

Einige Zeit später hatte sie einen Freund aus einer höheren Jahrgangsstufe gehabt. Gigi hielt den Freund für einen schleimigen Schnösel. Er war sehr enttäuscht und eifersüchtig, und machte eine Zeitlang einen großen Bogen um Vanessa.

Inzwischen war sie wieder solo. Und in Gigi`s Augen so süß, freundlich und verlockend wie vor der Beziehung. Er schwang seinen Turnbeutel um die Schulter, verabschiedete sich von Timo und eilte mit schnellen Schritten aus der Turnhalle. Und da sah er sie, wie sie gerade mit Freundinnen ihr Rad aus der Fahrradhalle heraus schob. Dann fuhren sie davon. So war es nun eigentlich fast immer: Er sah Vanessa aus der Ferne.

„Woran denkst du, Gigi?“, fragte seine Mutter.

„Ach, an nichts!“

„Ans Spielen, oder? Denkst du auch einmal an die Schule?“ fragte sie.

„Ich denke oft genug an die Schule!“, gab Gigi zurück.

„Wann hast du wieder Nachhilfe?“

„Morgen um 16 Uhr.“

„Ich habe mit deinem Nachhilfelehrer gesprochen. Er meint, du machst zu wenig. Er meint, so wirst du in Mathe von der 5 nicht herunter kommen. Gigi, warum bist du so faul?“

„Ach, Mama! Ich bin nicht faul. Ich schaffe das schon. Und wenn ich in Physik auf der 4 bleibe, kann ich mir in Mathe eine 5 erlauben!“, meinte Gigi.

„Du bist in Physik auf der Kippe. Gigi, wo soll das enden? Denk´ auch einmal an meine Nerven! Du denkst nur an dich, nie an mich! Ich zahle dir Nachhilfe in Physik und Mathe, und du weißt, dass das Geld auch so knapp ist. Papa oder ich fahren dich zu Gaming-Events. Gigi, du musst mit dem Gaming aufhören!“, jammerte seine Mutter.

„Niemals! Ich werde einmal ein großer eSportler! Und dann werde ich so viel Geld verdienen, dass du nicht mehr arbeiten musst!“, gab Gigi trotzig zurück.

„Ja, und wann wird das sein?“

„Bald. Bis dahin kann Papa ruhig mehr Unterhalt zahlen!“, schimpfte Gigi.

„Gigi! Ich kann schon jetzt nicht mehr! Du machst mir nur Stress. Warum denkst du nur an dich? Nächste Woche ist Elternsprechstunde. Ich habe schon Bauchweh. In Deutsch stehst du auch auf einer 4. Was soll ich denn den Lehrern sagen? Du machst ja doch, was du willst!“

„Und du findest immer das Haar in der Suppe. Ich stehe in Deutsch auf einer 4, und das bei einer Lehrerin, die blöd ist. 4,0. Ist doch ok, keine Gefahr, dass ich eine 5 bekomme! Hast du mich schon einmal gelobt für irgendetwas? Nein! Ich gehe jetzt auf mein Zimmer und sperre die Tür zu. Bis morgen früh!“

 

Er freute sich auf diesen Tag. Es könnte sein großer Tag werden. Am Ende des Tages würde er im einen Arm Vanessa und im anderen den Pokal halten. Vincenzo würde in Jubelpose neben ihnen stehen. Für manche athletischere Mitschüler waren die Bundesjugendspiele das Highlight,  für ihn war dieser Tag der Sechser im Lotto: GAMING-TAG an der Konrad-Adenauer-Schule!

„Alter, alle Reaktionen fit?“

„Fit wie ein Turnschuh, wochenlang nicht mehr gekifft, reaktionsschnell wie Manuel Neuer mit Anfang 20!“, antwortete Vincenzo auf Gigi`s Frage.

„Geht ab! Yo!“

„DER MENSCH STAMMT VON GATTUSO AB! FORZA ASSOCIAZIONE CALCIO GATTUSO!“, skandierten beide. Das war ihr Anfeuerungsspruch vor jedem Spiel, und Associazione Calcio Gattuso hieß ihr Verein.

In den ersten Spielen landeten sie Kantersiege. Das konnte kaum überraschen, denn die Gegner waren Laien. Von Spiel zu Spiel kamen Vincenzo und Gigi besser in Fahrt, und im Halbfinale wurden sie erstmals ernsthaft heraus gefordert. Aber auch dieses Spiel gewannen sie schließlich souverän. Finale.

„DER MENSCH STAMMT VON GATTUSO AB!“

„Und der Gaballi stammt vom Neandertaler ab! Hahaha! Und der Neandertaler war schwul, weil die Frauen das Holz sammeln mussten! Hahahahaha!“, kam als Antwort von den Idioten aus der Parallelklasse.

Gigi war so konzentriert, dass ihn die Pöbelei fast nicht erreichte. Er war im Tunnel.

Doch dann wäre er fast im Tunnel von der Fahrbahn abgekommen. Sein Blick streifte die Mitschüler im Publikum. Und sein Blick traf für einen kurzen Moment ihren. Vanessa saß in der ersten Reihe und lächelte. Lächelte ihn an!

Es ging los. Es war ein schnelles und hartes Spiel. Der Gegner konnte Vincenzo und Gigi in der 1. Halbzeit vom eigenen Tor fern halten, und konterte einige Male gefährlich. Dann passierte es, kurz vor Ende der 1. Halbzeit: Gigi spielte einen leichtsinnigen Querpass vor dem eigenen Strafraum, und der gegnerische Stürmer spritzte dazwischen. 0-1!

In der 2. Halbzeit lief es gut für das Team Gattuso. Chancen über Chancen, aber kein Tor! Bis zur 89.Minute. Eckball, Kopfball, 1-1. Nachspielzeit. 93. Minute. Eckball, Kopfball, Latte, Abstauber, Tor! Schlusspfiff! Vincenzo und Gigi lagen sich in den Armen. Die Mitschüler applaudierten.

 

„Da schwimmt ein Haar in deiner Suppe, Vanessa!“, sprach Gigi und lachte.

„Wer ist eigentlich Gattuso?“, fragte Vanessa.

„Ja, das ist so….“