Von Anne Zeisig

„Pessibius raste von einem Planeten zum nächsten, aber nirgends war es ihm lebenswert genug.

Jupiter war zu groß und dort erschien es ihm zu unbewohnbar.

Am Mars gefiel ihm die Farbe nicht. Und er war ihm zu klein, zudem behagte ihm die tödliche Sonneneinstrahlung nicht.

Selbst die verführerische Venus war ihm nicht recht, obwohl der Name dem Sinnbild einer römischen Liebesgöttin entsprach. Er befürchtete die lebensfeindliche Atmosphäre.

Pluto erschien reizvoll, war er doch nach einem römischen Gott der Unterwelt benannt, allerdings hatten Wissenschaftler ihn zum Zwergplaneten degradiert. Der kam also auch nicht infrage: Eisig kalt und kaum Sonnenlicht.

 

* * *

 

Kim, die junge Pädagogin, beendete ihr Vorlesen und blickte in die Runde der ‘SECHS-A’: „Wortmeldungen zum Text?“ Und rückte ihre Brille mit dem knallroten Rahmen zurecht.

„Salina?“

 

„Ist Physik gemeint, Geologie oder Philosophie, Frau Lehngraf. Bevor ich das nicht weiß, kann ich auch nicht antworten.“

 

Ein Raunen durchzog den Klassenraum.

 

„Vielleicht is dat Latein! Aber ich hab Französisch gewählt, Frau, äh, ja. Madame.“

 

„Wie kommst du auf Latein?“, fragte Kim.

 

„Weil der Typ Pessibius heißt.“

 

Die Lehrerin setzte sich auf das Pult und schlug ihre Beine übereinander, zog den Rock bis über die Knie hinunter: „Vielleicht heißt er so, weil das seine Grundeinstellung ist?“

 

„Da is Pessimismus gemeint!“, rief der ‘Französisch-Schüler’.

 

Frau Lehngraf nickte. „Stimmt.“

 

„Sowas habe ich auch!“, rief Kassandra-Lena. „Zuhause.“

 

„Was hast du Daheim?“

 

„Eine pessimistische Stimmung.“

 

„Son mist! Also sind wir hier doch bei Philosophie im Alltag gelandet!“

 

Kim Lehngraf ging durch den Mittelgang. Rechts und links von ihr standen die Schülertische aufgebaut.

 

„Lass doch Kassandra ausreden!“ Sie schlug den Weg nach vorne zur Tafel ein. Ihr Blick heftete sich auf die veralteten Fenster, in dessen Ecken der Schimmel bedrohlich schwarz klebte.

 

Kassandra plapperte weiter: „Mein Vatta hat immer wat zu mosern! Dann is ihm dat Frühstücksei zu hart, zu weich, dann macht ihm die Politik nie was recht und er mosert herum, dat wir hier inne Schule digitalmäßig unterbemittelt seien. Obwohl er Steuern zahlt!“

 

„Frollein?“, rief Jan-Christian, „wann kriegen wir denn endlich White-Boards?“

 

„Ich bin kein Fräulein!“, erklärte sie dem Schüler schärfer als gewollt. “Eine erwachsene Frau bezeichnet man nicht als Fräulein.“

Kim nickte schnell nachsichtig lächelnd.

 

„Holt eure Hefte raus und schreibt auf, wie ihr euch fühlt, wenn ihr es mit einem Menschen zu tun habt, der immer und überall etwas Schlechtes findet, aber selber nichts ändert.“                                

Sie blickte versonnen aus dem Fenster und dachte an den Morgen Daheim.

 

* * *

 

Ihr Lebensgefährte warf das Brötchen auf seinen Teller, während er den Blick nicht von der Tageszeitung abwandte: „Wieder solche Pappbrötchen! Dabei ist es doch eine Kleinigkeit, selber welche zu backen. Da weiß man, was drin ist.“

 

Sie goss sich einen Kaffee ein: „Wir könnten doch gemeinsam welche backen.“

 

Er blickte von der Zeitung auf und lachte: „Du scherzt! Ich und Backen! Aber wenigstens schmeckt heute der Kaffee.“

 

„Der schmeckt immer gleich, weil wir seit einem Jahr die Maschine haben, welche alles elektronisch regelt.“

 

„Kann nicht sein“, murmelte er. „Du hast das High-Tech-Gerät vorher bestimmt nicht adäquat bedient.“

 

Kim stand auf: „Warum machst du dir dein Frühstück nicht selber?“

 

Er legte die Zeitung auf den Tisch und zeigte darauf: „Weil ich das ganze grässliche Weltgeschehen verfolgen muss.“

 

„Und?“, fragte sie. „Ändert sich die Welt dadurch?“

 

Kim Lehngraf blickte auf ihre Armbanduhr. Sie musste ihre Bahn rechtzeitig erreichen und verließ das Haus: „Dieser Korinthenkacker wird mich nie wiedersehen“, sagte sie leise zu sich selbst und dachte darüber nach, wann er sich in den letzten zwölf Monaten so sehr zum Nörgler und Macho entwickelt hatte, seit er bei ihr eingezogen war.

Aber vielleicht hatte sie auch nur die Brille der Verliebtheit abgenommen.

 

* * *

 

„Wer will vorlesen?“ Ihr Blick suchte die Schüler und Schülerinnen ab.

 

Michael-Marius begann leise zu weinen: „Wenn Pessibius meint, dass man auf keinem anderen Planeten leben kann, wo sollen wir denn dann in Zukunft leben?“

Er bekam einen entsetzlichen Hustenanfall und inhalierte keuchend sein Asthma-Spray. „Ich bekomme Angst, wenn ich keine Luft kriege.“

 

„Ach so!“, dämmerte es dem Schüler, der Französich gewählt hatte, „hier geht es um das Klima auf unserer Erde!“

 

„Wir haben also gerade das Fach Politik“, bemerkte Salina. „Ich fände es lebenswert, wenn alle E-Autos fahren würden, damit Michael-Marius wieder atmen kann!“

 

Kim Lehngraf stand hilflos vor der Klasse. Das Thema schien ihr zu entgleiten.

 

„Ich fühle mich scheiße, wenn mein Vatta immer nur Negatives sagt, aber nichts Positives dagegen tut! Er könnte sich sein Wunschei ja auch mal selber kochen zum Beispiel. Oder einer politischen Bürgerinitiative beitreten, die was ändert!“, las Kassandra vor.

 

In dem Moment surrte das Handy der Lehrerin. Sie nahm es in ihre schweißnassen Handinnenflächen. Ihr Lebensgefährte schrieb: ‘Wenn du heimkommst, poliere die Scheiben meines Porsches noch mal nach. Nie kriegst du sie blank. Bin mit Kollege Hannes und seiner PS-Schleuder auf dem Nürburgring.“

 

Kim warf ihr Smart-Phone kraftvoll in eine der verschimmelten Fensterecken, schnaubte hörbar ein und aus, sagte dann sehr ruhig zu ihren verschreckten Schülern und Schülerinnen, dass nun alle auf dem Schulhof in das Raumschiff einsteigen könnten, welches sie zu dem Planeten Neo-Optimo fliegen würde.

 

„Kriege ich dort besser Luft als hier?“

 

Die Pädagogin umarmte Michael-Marius und hauchte: „Ja. Dort können wir alle aufatmen.“

 

„Au revoir“!, rief der ‘Französisch-Schüler’.

 

„Und wo befindet sich der neue Planet?“, fragten Salina und Kassandra gleichzeitig.

 

„Nicht in unserem Sonnensystem“, antwortete die Lehrerin Kim Lehngraf.

 

„Super! Die haben da bestimmt White-Boards!“

 

anne zeisig, version ZWEI