Ingo Pietsch

Er nannte sich selbst Graf Fiti und hielt sich für den besten Grafiti-Künstler der Stadt.

Nun, seine Kunst traf vielleicht nicht jeden Geschmack, doch Talent besaß er ohne Frage. Und in der Szene war er wohlbekannt, weil er nicht wild herumsprayte, sondern um Erlaubnis fragte.

In seinem neusten Meisterwerk wollte er sich auf den Seitenwänden zweier Doppelgaragenreihen verewigen.

Er hatte diese angemietet, stand nun auf der anderen Seite der Herforderstraße in Bielefeld (Vierspurig, getrennt durch S-Bahn-Trasse) und hielt seine Daumen und Zeigefinger zu einem Rahmen, um einzuschätzen, wie das fertige Bild später wirken würde.

Er grinste fröhlich vor sich hin, sagte laut: „Perfekt!“ und zog sein Smartphone, um eine Malerfirma damit zu beauftragen, die Wände neu zu streichen.

 

Am nächsten Tag.

„Ich wollte weiß!“, erzürnte sich der Graf.

Der Maler kratzte sich am Kinn. „Das ist Alpineweiß, aber es hat anscheinend einen leichten Rotstich bekommen, weil dahinten eine Baustelle ist und dort kräftig gearbeitet wird.“

„Weiß sollte es sein.“

„Ähm, das hellt bestimmt noch nach.“

„Dann streichen Sie es halt noch mal über. Wenn dort drüben Ruhe herrscht. Schließlich bezahle ich Sie dafür und ich brauche einen vernünftigen Untergrund für mein Gemälde.“

„Ja, Chef!“, antwortete der Maler und verdrehte die Augen, dass der Graf es nicht sehen konnte.

 

Die Farbe war über Nacht getrocknet. Und es war ein perfekter Weißton.

Der Graf und der Maler begutachten wieder die Garagenwände.

„Ist ihr Meisterwerk etwa schon schon fertig?“, wollte der Handwerker wissen.

Der Graf knirschte mit den Zähnen: „Ich bin Grafitti-Künstler. Sieht das wie ein gespraytes Bild aus, Sie Experte?“

„Für Bielefeld ist das schon eine ganz schöne Leistung“, brummelte er vor sich hin.

Auf der gesamten Fläche waren Fahrradspuren zu sehen. Wie auch immer die da draufgekommen waren. Jemand hatte bis in zwei Meter Höhe mehrere Bögen an die Wand gepinkelt. Und eine ganze Armee Hunde hatte sich am unteren Rand verewigt.

„Überstreichen!“ Der Graf steckte seine Hände in die Taschen und schritt missmutig davon.

 

Ein Bauzaun wirkte wahre Wunder und der Graf konnte mit seiner Arbeit beginnen.

Er schaffte innerhalb von wenigen Tagen die Hälfte des Gipfels seiner künstlerischen Schöpfung.

Jeden Abend ging er mit zufriedenem Gemüt nach Hause und konnte gut durchschlafen, was ihm nicht immer vergönnt war, besonders, wenn er eine kreative Phase hatte.

 

Und dann kam es, wie es kommen musste: Jemand vollendete Werk an seiner statt.

„Calvin wors hiere“, stand dort in großer krakeliger Schrift.

„Der steht Ihnen in nichts nach“, kommentierte der Maler.

„Haben Sie was gesagt?“, fragte der Graf ärgerlich.

„Nein, nur laut gedacht. Von Kollege zu Kollege, warum suchen Sie sich nicht eine andere Wand?“

„Ich will diese hier. Und wir sind keine Kollegen. Sie sind nur ein Anstreicher. Also: Überstreichen.“

„Jawohl“, sagte der gekränkte Maler und begann wieder mit seiner Arbeit.

 

Und tatsächlich schaffte es der Graf auch die zweite Hälfte seines Gemäldes fertigzustellen, ohne  dass etwas dazwischen kam.

Er arbeitete die ganze Nacht hindurch und ging erst in den frühen Morgenstunden zu Bett.

Nachmittags wollte er sein Werk begutachten, ob es für die Öffentlichkeit auch ansprechend genug sei.

 

Als er ausgeschlafen war, spazierte er glücklich pfeifend auf die andere Straßenseite, um zu sehen, wie sein Kunstwerk strahlte.

Aber er konnte sein Bild nirgends entdecken.

Er fasste sich an den Kopf und zählte ab. Haus, Haus, Garagen, Haus.

Er sah bei den Garagen genauer hin. Das konnte einfach nicht sein. Die Garagen standen noch.

Der Graf erkannte den Maler und eilte über den nächsten Überweg zu seinem Gemälde.

„Was machen Sie da?“, fragte er spitz den Maler.

„Naja, ich streiche an.“

„Das sehe ich auch. Aber was ist das für ein Holzgestell vor meinem Kunstwerk? Jetzt kann man es ja gar nicht mehr sehen!“

„Sie haben sich ja nicht davon abbringen lassen, Sie Künstler. Das ist eine doppelte Werbetafel. Die wurde gleich nachdem Sie fertig waren, hier installiert. Und ich darf jetzt die Pfosten lackieren. Job ist Job. Ich armer Anstreicher!“

Der Graf zitterte vor Zorn: „Und Sie wussten davon?“

„Nö, aber die Stadt kann auf ihren Bürgersteigen anscheinend tun und lassen, was sie will. Übrigens fanden die ihr Bild ganz nett.“

„Ganz nett? Ganz nett?“, ab jetzt würde der Graf ganz andere Seiten aufziehen. Und das würden bald alle zu sehen bekommen.