Von Karin Endler
Es begann im vorigen Jahr an einem Mittwochabend. Sebastian hatte sich, nachdem er müde von der Arbeit heimgekommen war, eine Dosensuppe gewärmt. Kochen war nicht seine Sache. Wozu gab es Fertiggerichte? Die rotorange leuchtende Tomatensuppe, die er dampfend in seinen Teller goss, sah appetitlich aus. Als er sie fast aufgegessen hatte, erspähte er es, ein Haar, ungefähr sieben Zentimeter lang, schwarz und für ein Haar sehr kräftig. Es dümpelte leicht gekrümmt im Rest der Suppe, die ihm bis zu diesem Augenblick wunderbar geschmeckt hatte. Voll Ekel packte er den Teller und leerte seinen Inhalt in die Toilette.
Im Laufe der nächsten Woche hatte Sebastian den Vorfall vergessen. Am Freitagabend war er sogar zu müde, um eine Dosensuppe zu wärmen. Der Chef hatte ihn mit unnötigen Extraarbeiten gequält. Sebastian ließ sich auf die Couch fallen, griff zum Handy und bestellte eine Pizza Margherita. Der Krimi im Fernsehen hatte schon begonnen, als der Bote klingelte. Sebastian legte die Pizzaschachtel auf den Couchtisch, neben Fernsehzeitung und Fernbedienung, öffnete sie, ohne aufmerksam hinzusehen. Mit Heißhunger verspeiste er ein großes Stück, spülte mit kaltem Bier alles hinunter. Je spannender der Film wurde, desto langsamer aß Sebastian und hatte, als der Mord endlich aufgeklärt war, noch ein ganzes Pizzastück übrig. Er griff danach, und weil er durch nichts abgelenkt wurde, sah er, auf einer Stelle, die frei von Käse war, ein Haar, ungefähr sieben Zentimeter lang, schwarz, kräftig und leicht gebogen, als schmiegte es sich in die Paradeissauce. Sebastian fragte sich, wie es möglich war, dass innerhalb von wenigen Tagen, in Gerichten von zwei verschiedenen Anbietern, Haare im Essen waren. Den Pizzakarton klappte er voll Wut zu und warf ihn mitsamt dem letzten Pizzastück in den Mülleimer.
Am nächsten Morgen, es war Samstag, hatte Sebastian frei und somit Muße, die Zeitung zu lesen. Ein kleiner Artikel fesselte seine Aufmerksamkeit: Seit einigen Tagen gehen immer wieder Meldungen von Lesern ein, die sich über das gehäufte Auffinden von Haaren in diversen Fertiggerichten beschweren. In der überwiegenden Anzahl der Fälle enthielt das Essen Tomaten. Ein Labor hat sich angeboten, die gefundenen Haare zu untersuchen, um den Urheber dieser Unappetitlichkeiten auszuforschen. Sollten wieder Haare im Essen auftauchen, mögen die Betroffenen diese nicht entsorgen, sondern das Labor über die unten stehende Telefonnummer kontaktieren. Diese Notrufstelle ist rund um die Uhr besetzt. Sebastian tippte die Telefonnummer vorsorglich in sein Handy. Die nächsten Tage achtete er peinlich darauf, keine tomatenhaltigen Fertiggerichte zu konsumieren.
Als er zwei Wochen später Außendienst versehen musste, konnte er nicht in der Firmenkantine essen, sondern ging in eine Imbissbude und bestellte Pommes Frites mit Ketchup. Die Köchin hatte die rote Sauce großzügig über die Erdäpfel gegossen, sodass sie sich in den Zwischenräumen sammelte. Sebastian aß gedankenverloren seine Pommes. Als er die Hälfte verspeist hatte, sah er an dem frittierten Stück, das er soeben zum Mund führen wollte, aus dem Ketchup ein Haar, ungefähr sieben Zentimeter lang, schwarz, kräftig und leicht gekrümmt, herausbaumeln. Er rief die Köchin und zeigte es ihr. Die war entsetzt und konnte sich nicht erklären, woher ein schwarzes Haar kommen könnte. Sie kochte ganz allein in der winzigen Küche und ihre Haare waren rotblond. Sebastian erinnerte sich an den Zeitungsartikel und rief das Labor an. Es dauerte keine halbe Stunde und ein Team, mit Schutzanzügen bekleidet, stürmte die Imbissbude. Die Männer verstauten das Haar in einem gut verschließbaren Glasbehälter und ließen sich alle vorrätigen Ketchup-Flaschen aushändigen. Als sie von Sebastian erfuhren, dass er bereits drei Mal derartige Haare in seinem Essen gefunden hatte, forderten sie ihn auf, mitzukommen.
„Warum muss das sein?“, fragte er verwundert.
„Nur zur Vorsicht.“
Mehr war aus dem wortkargen Schutzanzug nicht herauszubekommen.
Im Labor wurde ihm Blut abgenommen. Sebastian war neugierig geworden. Auch wenn es eklig war, im Essen ein Haar zu finden, erschien ihm dieser Aufwand etwas übertrieben. Der Arzt, den er danach fragte, gab ihm nur eine ausweichende Antwort. Als die Blutuntersuchung fertig war, wurde Sebastian lediglich mitgeteilt, dass alles in Ordnung sei und er nach Hause gehen solle.
Sebastian ließ die ganze Geschichte keine Ruhe. Sobald er daheim war, loggte er sich ins Internet ein und tippte ins Suchfeld „Haare im Essen“. Eine Flut von Fundstellen tat sich auf. Er las Berichte und betrachtete Fotos. Das Bemerkenswerte war, dass alle diese Haare gleich aussahen, ungefähr sieben Zentimeter lang, schwarz, kräftig und leicht gebogen. Und nach einiger Zeit fand er ein Foto in ungewöhnlich hoher Auflösung. Nachdem er das eine Ende des Haares herangezoomt hatte, konnte er nicht fassen, was er zu sehen bekam. Da waren ganz eindeutig zwei Augen! Ein Fake konnte das kaum sein. Wer macht sich schon Mühe, ein Haar mit Augen zu versehen, wenn sie in Normalansicht des Bildes gar nicht erkennbar waren? Ein Haar mit Augen? Das war kein Haar, das war ein Tier! Sofort rief er im Labor an, aber dort war nur mehr der Anrufbeantworter im Dienst – von wegen, rund um die Uhr besetzt! Kurz entschlossen wählte er die Nummer der Tageszeitung. Die Journalistin witterte eine Story, als sie auf dem Foto im Internet die Augen des Haares sah. Sie vereinbarte mit dem Chefredakteur, die Polizei einzuschalten, denn dieses Labor, das mit Zuschüssen der Lebensmittelagentur finanziert wurde, hatte offenbar keine Auffälligkeiten entdeckt.
In der Morgenausgabe brachte die Tageszeitung einen langen Artikel darüber. Unter anderem war zu lesen: Die von vielen Menschen während der letzten Wochen in ihren Fertiggerichten gefundenen Haare haben sich als speziell gezüchtete Raupen herausgestellt. Vom Gesundheitsamt war zu erfahren, dass ein Forschungsprogramm, in dem solche Tiere der Allergiebekämpfung dienen sollten, nicht bewilligt worden war. Aus noch ungeklärten Umständen dürften, zu einem nicht näher bekannten Zeitpunkt, diese illegal gezüchteten Raupen aus der Forschungsstelle abhandengekommen sein. Jenes Labor, das sich sofort angeboten hat, die Vorkommnisse zu untersuchen, ist dasselbe, in dem die illegale Forschung betrieben worden ist. Ein Praktikant, der seit einigen Wochen die eingehenden Haare untersucht hat und extra dafür eingestellt worden war, konnte ermittelt werden. Er gab zu Protokoll, dass ihm keine Raupenzucht aufgefallen sei. Sämtliche Mitarbeiter, die darüber fundiert Auskunft geben könnten, sind untergetaucht und werden von der Polizei gesucht. Es wird vermutet, dass sie nur darauf bedacht gewesen wären, möglichst viele der verlorenen Tierchen wieder einzusammeln, bevor die Verpuppung einsetzen konnte. Die Lebensmittelagentur gibt bekannt, dass die Raupen völlig ungefährlich sind. Trotzdem wäre die zuständige Behörde zu informieren, falls noch weitere Exemplare auftauchen sollten. Es wird empfohlen, alle Fertiggerichte, selbst wenn sie nur Spuren von Tomaten enthalten, zu entsorgen. Die Müllabfuhr wird dafür in den nächsten Tagen spezielle Container an allen Straßenecken aufstellen.
Sebastian verfolgte noch einige Tage die Berichterstattung, von der polizeilichen Suche nach den Labormitarbeitern, von deren Auffinden war nie etwas zu lesen.
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Es ist Sommer. Die Menschen haben die Geschichte mit den mysteriösen Haaren längst vergessen und erfreuen sich an den ungewöhnlich großen Schmetterlingen, die durch die Gärten und über die Felder flattern. In reife Paradeiser legen sie ihre Eier ab. Bis zur Ernte verändern sich diese nicht. Die große Hitze während der Zubereitung der Fertiggerichte in den Fabriken überstehen sie unbeschadet. Sobald die Dosen und anderen Behältnisse in den Lagerhallen auf die Auslieferung warten, werden die Raupen schlüpfen und schnell heranwachsen, weil sie von Paradeissauce, ihrer einzigen Nahrungsquelle, umgeben sind. Ausgewachsen sieht jede Raupe wie ein Haar aus, ungefähr sieben Zentimeter lang, schwarz, kräftig und leicht gebogen, eben wie ein Haar in der Suppe.
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