Hubertus Heidloff

Nach einigen Monaten  des Alleinseins lernte er Marny kennen. Sie war in Amerika geboren, lebte aber schon viele Jahre in Deutschland. Sie war eine Naturschönheit mit hellbraunem Teint und blonden Haaren und einem wundervollen Körper. Er war ihr total verfallen. Mit ihr an seiner Seite zeigte er sich gerne in der Öffentlichkeit. Er hatte das Gefühl, nicht nur die Männerwelt drehe sich nach ihr um, sondern ebenfalls die Frauen. 

Wollten sie allein einen Abend in einer der vielen kleinen Bars des Stadtviertels verbringen, tauchten schon bald die ersten Rivalen auf, um mit Marny zu tanzen, denen Henry aber eine klare Absage erteilte. So machte es keinen Spaß mehr und sie beschlossen, ihre freien Abende zu Hause zu verbringen. Er kochte leidenschaftlich gern, besonders die fernöstlichen Gerichte hatten es ihm angetan.

Marny sorgte für das Ambiente, wählte Geschirr und Gläser und platzierte an passender Stelle die Beleuchtung. Manchmal musste allerdings das Essen warten, wenn die Leidenschaft zur Vorspeise wurde.

Bald hatte er gespürt, dass es mit ihren geistigen Fähigkeiten nicht so ganz prickelnd aussah, doch er war sicher, ihr davon etwas beibringen zu können. Dieses Manko wollte er ausbügeln. Henry hatte eine angesehene Stelle an der Universität der nahe gelegenen Großstadt.  Die vielen Abende, die sie bei zahlreichen Einladungen verbracht hatten, fehlten ihm bei seinen Vorbereitungen auf Seminare. Nur mit Mühe war es ihm gelungen, mit all seiner Erfahrung die mangelnde Vorbereitung auszugleichen. Immer stärker drängte es ihn im Laufe der Wochen und Monate an den Schreibtisch. Er bot Marny an, ihm zu helfen, wobei sie wichtige Recherchearbeiten übernehmen sollte. Marny war dazu auch bereit, merkte aber schon bald, dass sie überfordert war, wodurch das Interesse am „Nebenjob“ nachließ. Immer öfter bat sie ihn, er möge am Abend auf ihre Hilfe verzichten, da sie ein ausgesprochen spannendes Buch lesen würde.

Henry wiederum begab sich verstärkt in seine Welt der Bücher und Vorbereitungen zu seinen Seminaren. Jetzt war er wieder in seiner  „angestammten“ Welt.

Anfangs versuchte er noch seine Kochkünste heraus zu stellen als Zeichen seiner Liebe zu Marny. Gab es zuerst noch Vor- oder Nachspeise, verzichtete er mehr und mehr auf diese Zugaben, weil es ja ohnehin zu viel sei und sie auf ihre Figur achten mussten und und und.

 Marny war in ihrem Beruf als Krankenschwester sehr stark beansprucht und hatte gar keine Lust, abends noch geistigen Kleinkram, wie sie es nannte, zu erledigen. Viel lieber setzte sie sich in  ihren Lieblingssessel und las ein Buch oder schaute sich eine Sendung im Fernsehen an. Die ursprünglichen Einladungen hatten nachgelassen und so war gewissermaßen ein Patt eingetreten zwischen Arbeit und Vergnügen. Sie fühlten sich in dieser Situation sichtlich wohler, die große Welt des Glamour lag beiden nicht.

Die Jahre vergingen. Es war Henry nicht gelungen, Marny nur ansatzweise zu sich hoch zu ziehen, ihr die Welt des Wissens nahe zu bringen. Henrys Kochen war geblieben, sie gingen am Wochenende gerne zu Veranstaltungen und liebten nach wie vor die schönen Dinge des Lebens. Henry war immer noch von Marny verzaubert. Und Henry hatte schon vor längerer Zeit den Beschluss gefasst, nicht weiter Dinge von Marny zu erwarten, die sie nicht erfüllen konnte. 

Marny hatte sich auch verändert. Sie hatte gemerkt, dass Henrys und ihre Welt nicht deckungsgleich waren. Im Gegenteil, sie spürte, dass sich diese beiden Welten mehr und mehr voneinander entfernten. So hatten es auch einige ihrer Bekannten ausgedrückt: „Wissen trifft Schönheit.“ Henry hatte sich dann schützend vor sie gestellt, indem er sagte, sein Wissen sei auch nur begrenzt. Manchmal fügte er hinzu, er sei froh, eine Frau zu haben, die ihm in vielen Dingen den Rücken frei hielte. Es war aber nicht zu übersehen, dass es immer wieder Schwierigkeiten gab.

Er versuchte, Kleinigkeiten auszumerzen, sie zu übersehen, zumal ihm eine alte Bekannte einmal gesagt hatte: „Wenn man älter wird, ist die Zeit viel zu schade, um sie mit Streitigkeiten zu verplempern.“ Seine Frau konnte auch nicht verstehen, warum es immer wieder zu diesen Auseinandersetzungen kommen musste. Sie betonte stets: „Ich will doch nur Frieden!“ Einmal hatte er sie gefragt, was sie denn unter Frieden verstehe. „Das ist doch ganz einfach: Ich sage etwas und wünsche mir, dass du darauf eingehst. Ich will keinen Streit.“

Der Streit begann nach einer solchen Bemerkung. „Ich will nicht, bin deshalb aber nicht dumm!“ „Das habe ich auch nicht gesagt, trotzdem könntest du dich etwas mehr bemühen, zu verschiedenen Themenwelten Zugang zu bekommen.“ Er ärgerte sich, weil er in seinen Begründungen immer wieder mit Worten wie „trotzdem, aber, weil“ argumentierte.

Das mit den Themenwelten hätte Henry nicht sagen dürfen, denn nun meinte sie, er bemerke nicht, in welch vielfältiger Weise sie sich einbringe. „Ich kann machen, was ich will, du schätzt es nicht, siehst es ja nicht einmal!“

Die Geschütze waren ausgefahren. Immer öfter gab sie ihm zu verstehen, dass er sie  für dumm halte. Manchmal steigerte sie sich geradezu in diese Stimmung hinein. Er wollte das nicht hören und bot immer wieder an, sie mitzunehmen auf die wundervolle Reise in die Wissenschaft. Ihm war auch klar, dass es sein früherer Beschluss war, sie in Ruhe zu lassen.

Sie zog sich mehr und mehr zurück, hatte nur noch sich selbst und begann gleichzeitig, Henry zu verdeutlichen, dass auch er Schwächen habe. 

„Ich habe Dir doch zig Mal gesagt, du sollst die Terrassentür schließen, wenn du in dein Büro gehst!“ oder „Kannst du nicht dein Frühstücksbrettchen wegräumen?“ oder „Schließ doch die Garagentür ab, wenn du abends nicht mehr weg musst!“ oder „Du könntest auch mal Aufgaben im Garten übernehmen“ oder „Du hättest die Strohhalme aus dem Partyraum wegräumen können.“

Henry akzeptierte die Punkte an sich, doch lag sein stiller Ärger darin, dass Marny absolut nicht so sorgsam mit allem umging, wie es hätte sein können. So ließ sie ständig alle Türen offen, sogar die Autotüren, wenn sie vom Einkauf kam. Sie blieben dann  eine oder zwei Stunden offen stehen. In allen Räumen brannte Licht. Die Spülmaschine räumte sie nie aus. Viele Nichtigkeiten bestimmten weite Teile ihres Lebens.

Immer wieder kritisierte sie ihn, auch wegen seiner Kleidung oder der Rasur oder anderer geringfügiger Kleinigkeiten, ohne dabei auf eigene Fehler zu achten. Henry fühlte sich gedemütigt. Er konnte so manche Nacht nicht mehr schlafen. Zu sehr nahm ihn die ständige Kritisiererei mit. Manchmal schlief er mitten am Tag ein. Ihm kam das alles vor wie bei dem Bibelwort: „Den Balken im eigenen Auge siehst du nicht, dafür aber den Splitter im Auge des anderen.“ Auch der Satz vom Haar in der Suppe passte zu Marnys Verhalten. Diese sah es genau umgekehrt

Henry gab trotzdem nicht auf. Er wollte Marny nicht verlieren, liebte sie immer noch, doch sie blockte alle Versuche ab, ihn und seine Wissenschaft zu verstehen. 

Wahrscheinlich war es ihr Schicksal, den Rest ihres Lebens mit solchen Kleinigkeiten zu verbringen. 

Dann kam ein folgenschwerer Tag. Henry verunglückte mit seinem Auto. Dabei wurde er schwer verletzt und lag lange Zeit in einer Klinik. In dieser Zeit erkannte er Marnys Liebe. Sie kümmerte sich rührend um ihn, brachte ihm Bücher, saß stundenlang bei ihm am Krankenbett, erzählte von Freunden und Bekannten. Der Alltag war weit weg und mit ihm die Probleme. Die beiden beschlossen, gemeinsam ein zweites Leben zu beginnen, es auf neue Säulen zu stellen und die Haare in der Suppe einfach darin zu lassen, sich nicht weiter damit zu beschäftigen. 

 

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