Von Hubertus Heidloff
Carlo war ein guter Schüler, das Lernen fiel ihm nicht schwer. Darüber hinaus zeigte er sich sehr interessiert an sozialen Geschehnissen und das auf nahezu allen Bereichen. Sobald in seiner Stufe jemand sozial angegriffen wurde, sprang er, wenn möglich, dem Angegriffenen zur Seite. Carlo war in hervorragender Weise geeignet, gleichermaßen von Schülern wie auch Lehrern geschätzt, eine Ausbildung als Streitschlichter zur Deeskalation im Konfliktfall durch zu führen. So wurde er eingeschätzt. Carlo war das recht. So hatte er seine Ruhe. Nur wenn es knallte, musste er mal dazwischen gehen. Eigentlich war das seine einzige Aufgabe.
Zu Hause lebte er gut. Seine Eltern hatten es in ihren Berufen und durch strenge Lebensführung zu einem geringen Wohlstand gebracht. Sein Vater war Prokurist in einem großen Regionalbetrieb. Urlaube waren selten, Sparen war angesagt, minimale Ausgaben, kleines Auto.
Aber der Keller war gut gefüllt mit Lebensmitteln und Alkoholica jeder Art, so als warteten sie auf die Situation, dass es nichts mehr zu kaufen gäbe und man sich nur mit Alkohol das Leben erträglich gestalten könne. In diesem Haus wohnte Carlo. Hier hatte er sein Zimmer, hier standen an einer Wand gut 200 Bücher in einem Regal. Die meisten davon hatte Carlo schon gelesen. Seine Leidenschaft war das Mittelalter. Wie lebten die einfachen Menschen, wie die Kirchenleute und wie die „Herren“?
So manch einen Traum hatte er durchlebt, in dem er sich mitten im Getümmel des Marktes oder auf der Flucht befand, weil ihn jemand denunziert hatte. Ein Pferd besaß er nicht, es wäre auch viel zu auffällig gewesen. Er war zu Fuß auf der Flucht durch Wälder. Seine Nahrung bestand aus Beeren, frischen Rinden und taufrischem Gras, Wasser und Pilzen, die er gut auseinander halten konnte, so dass er keine Angst vor Vergiftungen haben musste. Wenn er im Wald auf Kräuter sammelnde alte Weiblein traf, so verscheuchte er sie, indem er ihnen zu verstehen gab, er sei ein verwandelter Teufel. Das Gesicht hatte er sich dazu mit schmutziger Erde eingerieben. Das wirkte!
Fand er ein junges Mädchen, so sagte er nur, er habe Hunger und wünschte sich etwas von den Kräutern. Dann gelang es ihm, die Mädchen zu verführen, indem er ihnen erzählte, mit dem Sammeln seien sie mit dem Teufel im Bunde und nur er könne sie retten. Dann schlief er mit ihnen. Sein Same sei der Schutz vor dem Teufel. Jetzt könne er ihnen nichts mehr anhaben.
Er selbst hatte panische Angst vor dem Erwischt Werden, denn die Strafen gegen Teufelswerk waren drakonisch. Um Menschen zum Sprechen zu bringen, hatte sich die Folter genügend Möglichkeiten ausgedacht.
Wenn er schweißgebadet wach wurde, bevor es ihn wieder zur Schule trieb, hatte er sauberes Wasser und kein verschmutztes, er kehrte in die Wirklichkeit zurück. Seine Eltern kannten nichts von seinen Ausflügen in die Vergangenheit. Sein Bestreben war es, keinen teilhaben zu lassen an seinen Abenteuern, aus denen er Kraft bezog, wie er selbst glaubte. Seine Klassenkameraden verblüffte er mit immer neuen Kenntnissen aus jener Zeit. Er konnte ihnen erzählen, was er wollte, sie hätten es eh nie angezweifelt.
Wenn ihn jemand besuchte, wurde er zunächst von Carlos Mutter in Empfang genommen, die sich als sehr dominant darstellte, so, als sei sie Wächter eines Schatzes, des heiligen Grals, als dass sie ihren Sohn ansah. Er habe zu arbeiten, aber gegen einen kurzen Besuch sei nichts einzuwenden. Meistens brachten seine Klassenkameraden für seine Mutter ein gekauftes oder vom Feld gepflücktes Sträußchen mit, um seine Mutter zu besänftigen. So manch eines war wohl auch vom Friedhof geklaut. Freundinnen waren nicht erlaubt, weil sie ihren Sohn nur verführen wollten.
Es geschah nicht selten, dass ihm die Mitschüler von ihren „Reisen“ ins nahe Sauerland erzählten, von einem besonders guten oder schlechten Bier, von ihren Begebenheiten mit „geilen Weibern“ oder Spritztouren mit geklauten Autos, die sie dann einfach im Wald abstellten. Sie erzählten von Diskos, die ihre Köpfe bunt machten.
Carlo sah in seiner Welt nur die algenartigen Gesichter der Mädchen, stumpfe Augen, gespreizte Beine, den Mund nur auf und zu klappend.
Carlo hörte zu, aber in Wirklichkeit waren seine Gedanken in seiner Welt, die er häufig mit einem Schluck Hochprozentigem lebendig werden ließ. Er war froh, wenn die Besuche beendet waren. Auf die nächste Spritztour wollte Carlo mitkommen, versprach er. Aber dabei blieb es.
Was habt ihr davon? Ist das euer Protest? Die Fragen bedrängten ihn.
Sein Protest war anders, er könnte sich aus der Welt davonschleichen, sich ein Zimmer suchen, meinte er. „Ich kann ausziehen und die Schwere der Stadt zurücklassen“. Die anderen blieben im Sauerland.
Carlo verwandelte sich mit der Zeit zusehends. Er zog sich zurück in seine Welt, träumte mehr und mehr Träume, die im Laufe der Zeit für ihn immer realistischer wurden, sogar schon tagsüber auftretend
Obwohl er seinen Eltern nichts von sich erzählte, er hatte sich gewissermaßen selbst in eine Höhle eingeschlossen, bemerkten sie eine Änderung ihres Sohnes. Immer seltener verließ Carlos seine Stube, zumeist nur, wenn er Flaschen wegbringen oder holen wollte.
Seinen Lehrern fielen die tief liegenden Augen auf, so als habe er nächtelang nicht geschlafen. Seine Schulleistungen ließen nur unwesentlich nach, kaum spürbar.
Sein Klassenlehrer lud ihn zu einem Gespräch ein, zu sich nach Hause. Lange hatte er überlegt, ob er in seiner Wohnung Bilder und Photos aus alter Zeit aufhängen sollte oder ob das für Carlo wieder Erinnerungen wecken würde an seine Welt.
Im Gespräch fragte der Lehrer nach Carlos Eltern. Er erzählte von seinen eigenen Eltern. Er berichtete über seine eigene Jugendzeit. Er erinnerte Carlo an seine Aufgabe als Deeskalierer. Er hob die tolle Arbeit Carlos hervor. Er überlegte, wie die Arbeit in Zukunft noch verändert und verbessert werden könnte. Er sprach darüber, welche neuen Problembereiche es geben könnte. Er machte Carlo darauf aufmerksam, wieso und warum Eltern sich als Problem herausstellen könnten. Er deutete an, dass es früher diese Probleme auch schon gegeben habe. Die Zeit habe sich geändert und mit ihr die Menschen. Gesellschaftliche Probleme spielten heute in die Erziehung hinein.
Carlo war bis jetzt fast nur Zuhörer gewesen. Jetzt holte er zum ersten Mal Luft und begann zu erzählen: Wie er seine Eltern sah, den Beruf, ihre Einstellungen, ihre Maßnahmen ihm gegenüber, anderen Menschen gegenüber, ihre „Liebe“ ihm gegenüber, ihre Förderung seiner Interessen, die Behandlung seiner Freunde, ihre Einstellung gegenüber Nachbarn und gegenüber der großen Politik.
Carlo erzählte, dass er als Kind so viele Spielsachen bekommen habe, die gar nicht mehr in einen Schrank passten.
„Wenn ich den Schrank geöffnet habe, kamen mir alle Spiele entgegen!“ Schweigen.
„Stattdessen habe ich mir einen Vater gewünscht, der mit mir im Garten Fußball gespielt hätte, den er einmal austricksen könnte, der mit mir gebastelt, vielleicht einen Drachen gebaut hätte oder eine Rangerstation wie im Wilden Westen“.
“Ich hätte gerne einmal eine Mutter gehabt, die mit mir gebacken hätte, nicht nur zu Weihnachten. Ich hätte gerne eine Mutter gehabt, die mit mir ein Lied gesungen oder eine Geschichte erfunden hätte, mit der ich Bücher ausgesucht und besprochen hätte“.
Nach einer kurzen Pause, in der ihm Tränen in die Augen traten und in der er schlucken musste, erzählte er weiter.
„Meine Mutter habe ich nie lachen sehen, aber genau das wollte ich, Spaß haben mit meiner Mutter und lachen, auf der Wiese tollen oder im Schwimmbad, die Freunde so begrüßt, als seien es Geschwister. Ich wollte stolz sein auf meine Eltern, wollte sie gerne anderen Kindern zeigen.“
Wieder dieses Kratzen in der Kehle und die Nässe um seine Augen.
„Weil all das nicht da war, habe ich mir eine Welt aufgebaut, mit Hilfe einiger „Tröpfchen“, nur für mich, ohne Außenstehende.“
„Als Jugendlicher wolle ich zuletzt ausbrechen, abhauen, frei sein, über mich selbst bestimmen, ohne Beeinflussung von außen“.
Der Lehrer war über Carlos „Beichte“ beeindruckt. Auch ihm versagte die Stimme.
„Du hast so viel erzählt. Ich bin tief beeindruckt. Ich möchte dir helfen, benötige dazu aber die zusätzliche Hilfe eines Fachmannes. Zusammen werden wir einen Weg aus deiner Einsamkeit finden.“
Zum ersten Mal seit langer Zeit trat ein Lächeln auf Carlos Gesicht.
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