Von Karl Kieser

Immer wenn ich mich an diese Ereignisse erinnere, blickte ich in Gedanken zurück auf mein Heimatdorf, eine landwirtschaftlich geprägte Gemeinde am Niederrhein.

Es waren erst wenige Jahre seit dem letzten Krieg vergangen. Das Dorf war unversehrt geblieben, obwohl das stark zerstörte Ruhrgebiet nicht weit entfernt war.
Nur ein abgeschossener Jagdflieger hatte sich außerhalb des Dorfes in die sumpfigen Wiesen gebohrt und uns Kindern ein paar Wochen als Abenteuerspielplatz gedient.
Das Dorf bot alles, was man zum Leben brauchte: Metzger, Bäcker, Schneider, Schuster, Sattler, Schmied, den Landhandel für die Bauern, sogar eine Autowerkstatt für die noch seltenen Automobile, mit einer Tankstelle direkt am Straßenrand, die noch von Hand, mit einem Pumpenschwengel bedient wurde.
Der Dorfpolizist schob seinen beachtlichen Schmerbauch meist zu Fuß durch den Ort und sorgte allein durch seine ständige Anwesenheit für ein friedliches Miteinander. Sein Fahrrad benutzte er nur, wenn er zu den weit außerhalb liegenden Höfen gerufen wurde.

Der Ort war eigentlich nur ein Straßendorf. Alle wichtigen Geschäfte hatten einen Platz an der mit Kopfsteinen gepflasterten Hauptstraße. Die wenigen Nebenstraßen bestanden meist nur aus Schotterwegen.
Zum Ortskern gehörte natürlich das Bürgermeisteramt. Einige Häuser weiter, auf derselben Straßenseite, der großzügige Kirchplatz, der zur Straße hin mit einer kniehohen Mauer und einladenden, gemauerten Eingangspfosten abgetrennt war. Hinter den Eingangspfosten führte eine breite Kastanienallee die Gläubigen genau auf die drei Portale der imposanten Kirche zu.
An den Kirchplatz anschließend folgte die Kaplanei, ein geräumiges eineinhalbstöckiges Gebäude. Den zugehörigen Kaplan, den sich die Kirche damals noch leisten konnte, hatte man aber aus Kostengründen schon in eine kleinere Wohnung ausgesiedelt und das Haus an ein wohlhabendes älteres Ehepaar vermietet.

Gegenüber, auf der anderen Straßenseite, war der Ehrenplatz mit dem Kriegerdenkmal:
Auf einem gewaltigen Sockel ein sterbender Soldat und neben ihm, überlebensgroß, sein heroischer Kamerad, der, mit großen Schritt nach vorne stürmend, eine zerfetzte Fahne in der hoch gereckten rechten Faust und den Karabiner in der linken hielt. Die Tafeln mit den Helden des 1. Weltkrieges hatte man inzwischen schon um die Gefallenen des Dorfes aus dem 2. Weltkrieg ergänzt.

Zurückgesetzt hinter dem Ehrenplatz dann das Pastorat, noch deutlich großzügiger als das Haus für den Assistenzgeistlichen.
Schon aus dem Bisherigen kann man sehen, dass es sich um eine erzkatholische Gemeinde handelte, in der es die, meist protestantischen, Vertriebenen aus den deutschen Ostgebieten anfänglich nicht leicht hatten.

Direkt gegenüber der Kirche prangte die wichtigste der diversen Dorfkneipen. Unverzichtbar für den sonntäglichen Frühschoppen im Anschluss an den Kirchgang.
Noch ein paar Häuser weiter in Richtung Bürgermeisteramt lag unsere Volksschule, schon damals ein großer Bau, denn wir hatten starke Klassen. Allein mein Jahrgang bestand aus 40 Jungen. Bei den Mädchen war es ähnlich.
Die Bauernkinder hatten oft einen weiten Schulweg, denn die Höfe waren über ein großes Gebiet verstreut. Für die Kinder aus dem Dorf war es einfacher. Das galt auch für Heinz, obwohl er eigentlich auch von einem Bauernhof stammte.
Gleich hinter der Kaplanei führte nämlich ein Feldweg von der Hauptstraße in die Äcker, vorbei an dem damals schon heruntergekommenen Hof, auf dem Heinz mit seinem Vater lebte. Der hatte nach dem frühen Tod seiner Frau jeglichen Halt verloren und war dabei, sich um den Verstand zu saufen. Der ältere Sohn hatte es zu Hause nicht mehr ausgehalten. Gleich nach der Lehre war er ausgezogen und wollte mit seiner Restfamilie nichts mehr zu tun haben.
Neben dem verdreckten Haushalt gab es für den Jungen nur seinem ständig unter Alkohol stehenden Vater, von dem er außer Schlägen nichts zu erwarten hatte. Wenn er nicht selbst dafür sorgte, gab es zunächst niemanden, der auf seine Sauberkeit und seine Kleidung achtete. Gleiches galt auch für seine schulischen Leistungen.

Nun ist das Dorfleben ja vor allem durch die Vereine geprägt: Freiwillige Feuerwehr, Schützenverein, Turnverein, Kirchenchor, usw. Aber auch hier: niemand wollte Heinz dabei haben. Von allen abgelehnt wurde er mehr und mehr zum Einzelgänger.
Er war kompakt gebaut und zu Hause ging er wahrhaftig durch eine harte Schule. Wenn er gehänselt wurde, konnte er sich nur mit den Fäusten wehren. Ohne Rücksicht auf sich selbst hat er sich in jeden auch noch so aussichtslosen Kampf gestürzt. Mit der Zeit wurde er zu einem gefürchteten Schläger. Man ging ihm aus dem Weg.

Natürlich hat diese negative Entwicklung eines Gemeindemitgliedes auch einige Bürger zu wohlmeinender Hilfe angeregt.
Vor allem die Bewohner der Kaplanei, die ja beinahe Nachbarn von Heinz waren, haben sich seiner angenommen.
Dieses ältere Ehepaar war aus der Stadt zu uns aufs Land gezogen, um im Einklang mit Gott und der Natur ihren Lebensabend zu verbringen. Sie waren sehr fromm und kümmerten sich ehrenamtlich um einige kirchliche Angelegenheiten. Vielleicht hat sogar das kircheneigene Haus und die Nähe zum Gotteshaus dazu beigetragen, dass sie sich ausgerechnet in unserem Dorf niederließen. Sie waren in der Gemeinde hochgeachtet, sehr zurückhaltend und ihr guter Ruf durch großzügige Spenden und ihr ehrenamtliches Engagement begründet.

Heinz ging bald bei ihnen ein und aus. Er hat sich auch durch Besorgungen und später durch kleinere Arbeiten bei ihnen nützlich gemacht. Eine Zeitlang sah es so aus, als ob sich bei ihm alles zum Besseren wenden würde. Er hat sogar immer mal wieder bei ihnen gewohnt. Doch es gab auch Phasen, in denen diese ungleiche Wohngemeinschaft nicht miteinander zurechtkam und eine Auszeit brauchte.

Die Jahre vergingen, bis der junge Mann schließlich nach achtjähriger Schulzeit die Volksschule beendete, ohne die achte Klasse erreicht zu haben. Er hatte inzwischen so viel an Unterstützung eingebüßt, dass er keine Lehrstelle fand und für ihn nur Hilfsarbeiten auf dem Bau blieben.
Nach wie vor war er häufiger Gast bei seinen Gönnern, obwohl allmählich deutlich wurde, dass es den alten Leuten eigentlich zu viel war.

Dann kam der Tag, an dem der Bäckerlehrling beim morgendlichen Brötchenaustragen die Tür zur Kaplanei offen fand. Im Flur lag ein blutverschmiertes Beil und auf sein Rufen kam keine Antwort.
Von bösen Ahnungen geplagt, lief der Junge gleich zu seinem Meister, der ihn umgehend den Dorfpolizisten holen ließ. Der Bäcker hatte aber in die entsetzten Augen seines Lehrlings geblickt. Er ließ seine Backstube in Stich und rannte zum Pastorat um den Pfarrer um Beistand zu bitten. Gemeinsam wagten sie sich in das gegenüberliegende Haus, stiegen vorsichtig über das blutbesudelte Beil und folgten der rotgetropften Spur bis in die Küche.
Der Anblick war so entsetzlich, dass der Pastor sogar vergaß, die vorsorglich mitgebrachten Sterbesakramente zu erteilen. Der Bäcker übergab sich an Ort und Stelle und war für den Rest des Tages ein Ausfall für sein Geschäft. Erst das Eintreffen des Dorfpolizisten brachte wieder Vernunft in die erschütterte Gruppe.
Die Nachricht von dem brutalen Doppelmord verbreitete sich rasend schnell. Nach nur einer Stunde wusste nicht nur im Dorf jedermann Bescheid, es hatte sich auch schon bis zu den meisten der umliegenden Höfe herumgesprochen. Das Volk lief zusammen. Vor dem Mordhaus bildete sich ein Auflauf. Der dicke Gendarm hatte aber keine Probleme, den Tatort sauber zu halten. Eine verständliche Scheu hielt die Menge davon ab, sich das Massaker mit eigenen Augen anzusehen. Niemand konnte begreifen, wieso ausgerechnet diese frommen alten Leute so zugerichtet werden konnten. Über den Täter dagegen waren sich alle einig: Heinz!
Er wurde gesucht und nicht gefunden.
Nach dem ersten Schock begann es im Dorf zu brodeln. Man bewaffnete sich mit Knüppeln, Dreschflegeln und Mistgabeln. Mehrere Gruppen gingen auf die Suche. Die Aufgabe war gar nicht so einfach, denn viele Häuser hatten einen Schuppen oder eine Scheune mit vielen Verstecken. Ein Nachbar konnte nur mit Mühe verhindern, dass sein Schuppen in Flammen aufging, nur weil jemand behauptete, gesehen zu haben, wie der Mörder da hineinschlüpft war.
Inzwischen war auch die herbeigerufene Kriminalpolizei eingetroffen. Für Heinz war das nur gut. Es wäre im sicher schlecht ergangen, wenn es nicht die Polizei gewesen wäre, die ihn schließlich fand.

Er wurde nach Jugendstrafrecht verurteil. Nicht nur bei der Verhandlung hat man versucht zu ergründen, warum er ausgerechnet seine langjährigen Gönner so bestialisch zerhacken konnte. Heinz hat nichts dazu gesagt. Vielleicht wusste er es selbst nicht.

Jahre später, nach seiner Entlassung, tauchte er wieder in seinem Heimatdorf auf. Wo hätte er denn auch sonst hingehen können? Er hatte ja nie etwas anderes kennenglernt.
Das Dorf muss für ihn aber fremd geworden sein. Sein Vater hatte sich längst zu Tode gesoffen, das überschuldete Elternhaus war von der Bank übernommen und an einen neuen Besitzer weitergegeben worden und sein Bruder wollte nichts mit ihm zu tun haben. Die Hauptstraße war nun asphaltiert, die Tankstelle modernisiert und samt Autoreparaturwerkstatt und an den Ortsrand ausgelagert, die Mauer vor dem Kirchplatz war verschwunden und die Kastanienbäume gefällt. Nur das Haus neben dem Kirchplatz war noch unverändert. Niemand wollte in dem Mord-Kasten leben.

Für das Dorf war Heinz ein unberechenbarer, bestialischer Mörder. Die Leute hatten Angst und gingen ihm aus dem Weg. Niemand redete mit ihm.
Und dann war er wieder weg. Er musste also doch begriffen haben, dass hier für ihn kein Platz war?
Das Dorf atmete auf. Alles ging wieder seinen gewohnten Gang.

Sehr viel später hat man ihn dann doch gefunden. In der Küche der alten Kaplanei.
Der Strick hing noch. Der verweste Hals hatte den Rest seines Körpers nicht mehr halten können.

V3