Von Andreas Roß

Auf und nieder, auf und nieder, die Schaukel wird wieder und wieder kraftvoll angestoßen. Heinz ist unermüdlich. 

Sonntagmorgens halb acht. Der kleine Badesee mitten in der Stadt ruht. Er ist ein blauer Spiegel. Kein Flugzeug am wolkenlosen Himmel, keine Geräusche oder Kondensstreifen, nichts zerstört die Harmonie des Moments. 

Leise quietscht die Aufhängung der Schaukel, die auf dem nahegelegenen Spielplatz hin und her schwingt. Ein Kind sitzt eingequetscht in der Enge des umrahmten Sitzes. In der Kleinkinderschaukel wirkt der Körper unpassend und viel zu groß. Marlene, das Mädchen mit den langen blonden Haaren und der dicken Brille liebt die Trägheit ihres Magens, wenn er anscheinend am Scheitelpunkt der Bewegung ein wenig in Richtung Hals hüpft. Gerne schaukelt sie wild. Es kann ihr nicht hoch genug hinausgehen. Ihr Mund ist geöffnet und entlässt vergnügliche Töne. Bei jedem Schwung aufs Neue. Und jedes Mal genießt Heinz diese Freude und schubst die Schaukel noch etwas kraftvoller an.

 

Marlenes neunter Geburtstag war ein besonderer. Der Tag begann früh. Das blonde Mädchen klapperte an den Gitterstäben ihres Bettes und wurde – wie so oft – heraus geholt und vor der Stereoanlage alleine gelassen. Marlene liebt nicht nur das Schaukeln, sie liebt auch Musik, wenn sie ihren Magen zum Vibrieren brachte. Gut und gerne kann sie sich eine Stunde vor der Lautsprecherbox vergnügen und ihrer Mutter den nötigen Schlaf gönnen. Meist liegt sie auf dem Rücken, lauscht den Klängen, setzt sich ruckartig auf und wiegt den Körper im Takt, lässt sich wieder fallen, wenn ihre Kraft nachlässt, um sich irgendwann wieder erneut aufzurichten. 

An diesem besonderen Morgen war es anders. Sie nutzte ihre frisch erworbene Fähigkeit, koordiniert zu krabbeln, und fand die unverschlossene Küche, in deren hinterem Eck ein Tisch stand und darauf der Kuchen. Schokoladentorte.  Sie fand den Kuchen und zog ihn behände vom Tisch, saß alsbald mitten darin und stopfte ungestört Stück für Stück in ihren Mund. 

Heinz kennt die Geschichte nur aus Erzählungen. Als er sie zum ersten Mal gehört hatte, freute er sich über Marlenes Selbständigkeit.

 

Halb sechs morgens. Marlene sitzt aufrecht auf der Schlafcouch, schüttelt den Kopf, juchzt und patscht in sein Gesicht. 

„Oh, bitte noch ein halbes Stündchen. Schau mal, es ist noch ganz dunkel.“ Heinz spricht leise und zeigt auf den heruntergelassenen Rollladen. Marlene folgt weder der zeigenden Hand noch hört sie auf das Gesagte. Unaufhaltsam dreht sie den Oberkörper rhythmisch hin und her. Ihre Arme baumeln und treffen Heinz. Meist dann, wenn er gerade wieder eingeschlafen ist. Dreimal gibt es ein schreckhaftes Erwachen bis er endlich knurrt: „Ist ja gut, ich mache Dir deine Milch warm.“

 

Heinz ist zeugungsunfähig. Der Verdacht bestand schon früh. Die notwendigen Untersuchungen hatte er vor ein paar Jahren über sich ergehen lassen und hatte die Diagnose schweren Herzens akzeptiert. „Nein, eine Behandlung hätte keine Erfolgsaussichten. Es wäre herausgeworfenes Geld“, waren die unmissverständlichen Worte des Arztes. Trotzdem wünscht sich Heinz ein Familie. Immerhin war er zu der Zeit, als der Arzt über ihn urteilte, frisch verlobt. Aber eine Verlobung reicht nicht aus, um ein Kind zu zeugen. Auch seine Partnerin wünschte sich Kinder. Franz kam und löste das Problem mit seinen Möglichkeiten. Heinz hielt anfänglich an seiner Verlobten fest, doch dann fraß der Schmerz die Liebe mehr und mehr auf. Das Beziehungsgeflecht überlebte die Schwangerschaft nur ein paar Monate. Der Erzeuger verabschiedete sich. 

 

Zwei Wochen nach der Geburt begann das Gewitter in Marlenes Hirn. Immer wieder schlug der Blitz ein. Den Medikamenten gelang es zu spät, die Krampfanfälle zu vertreiben. Die Ärzte verweigerten eine Prognose. Sie konnten nicht sagen, wie viel durch die Blitzschläge zerstört worden war. 

 

Der Richter entschied, die finanzielle Sorge habe der leibliche Vater zu tragen. Heinz dagegen entschied sich für die väterlichen Freuden. Fortan bot er Marlene jedes Wochenenden eine Urlaubsadresse an. 

Keiner verstand seine Entscheidung, warum auch? 

Keiner hatte den entscheidenden Augenblick miterlebt. 

Vermeintliche Freunde sagten, was bist du nur für ein Heinz und wendeten sich von ihm ab. Andere blieben kopfschüttelnd und sprachen nicht über dieses Thema.

 

Heinz suchte das Weite und fand es im vorderen Odenwald. Joggend erkundete er die Wälder und Wiesen. Je ausdauernder er wurde, desto größere Kreise zog er. Ihm wurde gesagt, er würde vor sich selbst davonlaufen. Heinz bekundete aber, er kehre immer wieder zu seinem Ausgangspunkt zurück, lediglich erholter und energiegeladener.

Nebenbei verlor er noch ein paar überflüssige Pfunde. 

 

Krankenhäuser sehen alle gleich aus, und vor allem, sie riechen gleich. Es dauerte Jahre bis Heinz diesen Geruch loswurde. Nachdem die Ärzte aufgegeben hatten, lebte Marlene bei ihrer Mutter und in zwei Zeiten. Die normale Zeit verging nach dem Takt der Jahreszeiten, die Entwicklungszeit des Mädchens dagegen gemächlicher. Oft stand sie sogar ganz still. Marlene wollte häufig alleine sein, verweigerte jegliche Nähe. Sie würdigte die Außenwelt mit keinem Blick. 

Heinz genoss die Zeit. Er lernte ein wenig die uneigennützige Liebe kennen. 

 

Das Quietschen der Schaukel ist nicht mehr. Marlene streckt ihre Arme aus, es ist genug, sie will aus der Enge der Schaukel befreit werden. Heinz tut ihr den Gefallen und kurze Zeit später sitzt sie auf seinem Schoß. Schwer wie der Blumenkasten, der am Balkongeländer hängt. Plötzlich will sie Nähe. Die Hände betasten sein Gesicht. Ihre graublauen Augen bohren sich in sein Herz und Heinz kennt den Grund für all sein Tun, für seine Entscheidung, die damals gefallen war, als er Marlene, gleich nach der Entbindung, in den Armen gehalten hatte. 

 

Die Zeit beginnt mit dem allerersten Mal. 

 

V2  

5883 Anschläge