Von Raina Bodyk

Der an Krebs erkrankte Vater hat sich nach unzähligen, nutzlosen Operationen vergiftet und ist zwei Tage lang gestorben.
Zurück bleiben eine junge Mutter und ihre vier Kinder, ein in sich gekehrtes, siebzehnjähriges Mädchen, dessen Nase sich ständig in einem Buch befindet, und drei Jungen, zwei davon mitten in einer schwierigen Pubertät.

Das Mädchen weint sich jeden Abend in den Schlaf.
Sie hasst es, in der Schule, sie ist kurz vor dem Abitur, schwarze Kleidung zu tragen. Sie fühlt sich dadurch anders. Die Lehrer gucken sie mitleidig an. Nur ihrer Mutter zuliebe beklagt sie sich nicht. Es gehört sich schließlich so. Die fünfzehn und sechzehn Jahre alten Jungen sind in der Lehre. Geraten in schlechte Gesellschaft. Beginnen zu stehlen, Autos zu knacken, sich nachts herumzutreiben und zu trinken.

Die Mutter, von ihrem Mann allein gelassen, macht sich Sorgen um das Auskommen für ihre Familie. Die Lebensversicherung ist längst aufgelöst, das Geld ging für den täglichen Bedarf drauf. Die Witwenrente minimal. Sie macht Heimarbeit für einen ortsansässigen Verlag, sortiert Bestellungen, Beschwerden, Mahnungen numerisch oder alphabetisch bis weit nach Mitternacht. Die ebenfalls im Haushalt wohnende Großmutter hilft, wo sie kann. Aber dann beginnt diese zu schreien. Laut. Manchmal die ganze Nacht. Beginnende Altersdemenz, sagen die Ärzte. Die Mutter bekommt kaum noch Schlaf. Immer wieder steht sie auf, um nach der Kranken zu sehen, versucht, sie zu beruhigen.

Tagsüber geht das Brüllen weiter. Sobald der älteste Sohn nach Hause kommt, wird er aggressiv, beginnt das Meckern, Schnauzen und Krakeelen. Seine Erbarmungslosigkeit kostet die Mutter unzählige Tränen. Er weiß genau, wie er sie auf die Palme bringen kann. Er schwänzt die Arbeit und die Berufsschule, jammert über zu wenig Geld. Hat immer nur Wünsche. Er ‚braucht‘ unbedingt ein Motorrad, natürlich eine richtig dicke Maschine. Er zerstört die ganze Familie. Hebt die Hand gegen seine Mutter, wagt immerhin nicht zuzuschlagen. Ein Rest von Anstand?

Die junge Frau tröstet die Mutter, hasst ihren Bruder. Kann sie sich ihren Wunschtraum erfüllen und bei dieser Lage in eine andere Stadt zum Studieren ziehen? Ihre Mutter allein lassen mit all den Problemen? Die Mutter redet ihr zu.

*

Nach zwei Semestern ist die Tochter zurück. Angstzustände und Panikattacken haben sie nach Hause flüchten lassen. Sie wagt nicht mehr, das Haus zu verlassen. Drei Jahre hockt sie in ihrem Sessel und liest. Ist die einzige, mit der die Mutter über ihre vielen Sorgen reden kann.

Als die zwei älteren Brüder endlich zur Bundeswehr eingezogen werden und nicht  mehr zuhause wohnen, lösen sich die Probleme mit ihnen schnell und für immer. Sie werden wieder die normalen, netten Jungs von früher. Nur die schrecklichen Sorgen um die Tochter bleiben. Die Mutter schleppt sie zu den verschiedensten Ärzten und sogar zu einem Wunderheiler. Jedoch haben sich die Ängste bereits zu tief eingegraben und sich verselbständigt. Panikanfälle kommen aus heiterem Himmel und geben ihr das Gefühl, gleich sterben zu müssen. Depressionen und Selbstmordgedanken folgen.

*

Eine Klinik im Schwarzwald soll’s richten. Die ersten zwei Wochen sind die Hölle. Ich habe meiner Familie verboten, mich anzurufen. Sonst wäre ich davongelaufen. Langsam geht es bergauf. Ich lerne erneut zu lachen, schließe Freundschaften. Ich übe, meine Meinung zu sagen. In der Schule empfand ich mich als anders, als schüchterner, unsicherer. Andererseits auch erwachsener. Hier fühle ich mich ‚richtig‘, wieder jung.

Es ist die Zeit von: “Massachusetts“, „San Francisco“, „Die kleine Kneipe“, „El Condor Pasa“. Nach den Therapien gehen wir quietschvergnügt zum Büdchen, bestellen einen Kakao und singen mit der Jukebox um die Wette. In meiner Schulzeit, als die Beatles und die Stones in waren, liebte ich Operette und Musicals. Fand darin all die Romantik, die ich im echten Leben nicht bekam, während die Mitschüler wechselnde Flirts hatten und Klammerblues tanzten.

Jetzt hier, in der sicheren Umgebung, kann ich vieles nachholen. Die Therapien helfen mir, ich selbst zu sein. Mein Arzt meint, in mir schlummere ganz viel Temperament, ich solle es rauslassen. Ich bin glücklich!

Dann tritt Heinz in mein Leben. Nur kurz. Schon etwas älter, das Haar stark gelichtet, den ich bisher kaum zur Kenntnis genommen habe. Ich weiß nur, dass er sich öfter mit einer Patientin aus meiner Gesprächstherapie zeigt. Er fragt mich, ob ich mich an einem Blumenstrauß für diese Dame beteiligen würde.

„Weißt du, ich frage alle ihre Bekannten. Sie hat es endlich geschafft, sich von ihren Eltern zu lösen und sich eine Stelle in einer Nachbarstadt gesucht. Ich bin sehr stolz auf sie. Die Blümchen sollen ihren Mut weiter bestärken.“

Er ist eindeutig in diese Frau verliebt. Ich stecke ihm ein paar Münzen zu, viel kann ich mir nicht leisten. Er strahlt mich dankbar an. Ich bin total gerührt.

*

Endlich! Nach fünf Monaten bin ich wieder zuhause. Befreit von den alten Problemen.

Meine Mutter schüttelt verwundert den Kopf: „Du bist so anders!“

„Wie, anders?“

„Ich weiß nicht, aber du hast dich verändert.“ Mir kommt es fast so vor, als sei sie enttäuscht. Ihre ausdruckslose Miene verrät nichts.

Ich bin bereit, endlich mein Studium wieder aufzunehmen. Bis Semesterbeginn verdiene ich mir ein bisschen Geld im selben Verlag, für den meine Mutter immer noch arbeitet.

Für meinen Studiengang muss ich ein einjähriges Pflichtpraktikum machen. Es geht in eine 100 km entfernte Universitätsstadt. Ich werde mir eine Studentenbude suchen müssen. Ich bin stolz auf alles, was ich tue, weil ich es ohne die alte Angst tue, die nicht mehr in jeder Ecke lauert wie ein Gespenst, das mich umbringen will. Die Wohnungssuche könnte sich schwierig gestalten. Irgendwas nur über eine Anzeige zu mieten, ist riskant. Wer weiß, was mich da erwartet. Bei meiner Suche vor ein paar Jahren sind mir die unglaublichsten Buden angeboten worden. So groß wie eine abgetrennte Flurecke, ein Keller, mit Apfelsinenkisten möbliert …

Wie soll ich es anstellen? Auf keinen Fall ohne Besichtigung entscheiden.

Halt, da fällt mir ein: In der Stadt wohnt doch Heinz! Meine Mitpatientin, die mit den Blumen, ist zu ihm gezogen. Nach einigem Zögern und leicht mulmigem Gefühl, schreibe ich ihm, ob er mir nach unserer ‚langen‘ Bekanntschaft nicht bei der Wohnungssuche behilflich sein könne. Hoffentlich denkt der jetzt nichts Falsches.

 

Am nächsten Samstag schellt es mittags an meiner Tür. Heinz in voller Größe! Kurz verschlägt es mir vor Überraschung die Sprache.

„Hallo, Karin. Ich dachte ich komme am besten vorbei und frage dich nach deinen Wünschen für das Zimmer.“

„Dafür bist du extra hergefahren?“ Es ist das zweite Mal, dass er mich stark beeindruckt. So ein Netter! „Wo hast du deine Freundin Monika gelassen? Hatte sie keine Zeit?“

„Oh! Hat sie dir nichts geschrieben? Sie ist wieder zurück in den Schwarzwald zum elterlichen Friseursalon. Sie wollte, dass ich mitkomme. Aber die Eltern bestimmen alles. Sie hatten sogar schon meinen künftigen Arbeitsplatz geplant. Monika gehorcht ihnen in allem wie ein Kind. Dabei hat sie sogar die Meisterprüfung gemacht. Das hätte nie gutgehen können. Ich bin gewissermaßen geflüchtet.“

Na ja, ich habe den vagen Verdacht, dass er nicht allzu sehr vom Kummer niedergedrückt ist. Zumindest nicht mehr. Angeregt unterhalten wir uns den ganzen Nachmittag, stellen fest, dass wir den gleichen Humor haben. Die Diskussionen sind mal lustig, mal ernst, sogar philosophisch. Es macht wirklich Spaß mit Heinz. Ich vergesse auch nicht, meine Wünsche für die benötigte Studentenbude vorzubringen. Sie muss nicht groß sein, aber hübsch und warm, nicht zu weit weg von der Uni.

Abends lädt Heinz mich zum Essen ein. Ich gebe zu, das hatte ich gehofft! Seit ich von zuhause weg bin, habe ich beim Essen gespart. Für das Geld treffe ich mich lieber mit netten Freunden, die ich hier kennengelernt habe. Abends besuchen wir am liebsten das „Petit Paris“, eine Bar im Zentrum, zum Tanzen und Flirten.

Da meine Mutter mich kaum unterstützen kann, muss das Wenige von ihr und das, was ich mir im Verlag verdient habe, für die Miete, die Bücher und fürs Essen reichen. Die ungewohnte, neue Freiheit genieße ich so sehr, dass es mir nichts ausmacht, mich fast nur von Knäckebrot und Frühlingsquark zu ernähren. Lieber ausgehen!

Und jetzt diese Einladung! Mein Magen knurrt schon gierig. Heinz führt mich in ein Restaurant in der Nähe und ich bestell mir Schnitzel mit Pommes und Salat. Wie köstlich! Der Teller ist prall gefüllt. Ich kaue, strahle und genieße.

Heinz scheint seine helle Freude an meinem Essensrausch zu haben. Er grinst immer wieder staunend, was ich alles verdrücken kann. Er muss lachen.

„Was hast du?“

„Ich freu mich nur, dass es dir schmeckt. So viel verschlingen habe ich schon lange keinen mehr gesehen.“

Mit vollem Mund nuschele ich: „Mmh, das ist sooo lecker. Gleich platze ich.“

„Soll ich dir noch eine Portion bestellen?“, grinst er

„Neeiin!“

 

Ein paar Tage später berichtet mir Heinz am Telefon, er habe ein schönes Zimmer nur für Mädchen für mich gefunden. Voll Stolz brüstet er sich damit, wie er als einziger Mann zwischen lauter jungen Damen Schlange gestanden hat für die Besichtigung und verständnislos angestarrt wurde. Ich wette, er hat es genossen!

*

Ja, so hat es damals mit Heinz angefangen. Später hat er mir immer wieder erzählt,  wie er sich bereits im Restaurant in mich verliebt hat. Ich gebe zu, bei mir hat es ein paar Tage länger gedauert. Er war viel älter als ich, so erwachsen. Er hatte sogar schon eine Scheidung hinter sich.

43 Ehejahre haben wir gemeinsam genossen, erlitten, gestritten, uns versöhnt, gelacht, ehe er mich allein zurück ließ. Wir waren (meistens) glücklich.

Das Merkwürdige, was mich bis heute erstaunt, ist, dass ich bereits zwei Tage nach unserem Kennenlernen meiner Freundin zugeflüstert habe: „Den werde ich heiraten!“ Wieso bin ich mir da so sicher gewesen? War ich doch zu der Zeit noch gar nicht verliebt. Oder doch?

Manchmal denke ich dann an einen Satz, den ich mal gehört habe: „Man bekommt nicht das, was man sich wünscht, sondern das, was man braucht.“ Passt irgendwie, oder?

 

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