Von Ingo Althöfer

1972 war ein ungewöhnliches Lied in der Hitparade. Die 15-jährige Juliane W aus Essen besang einen Freund, der Drogen probiert hatte, auf die schiefe Bahn geriet und schließlich am Rauschgift starb. Conny war der erste Drogentote von Essen. Man spürte Juliane die Bestürzung über seinen Tod an. Das Lied kannte damals fast jeder. Manche hatten die Hoffnung, dass durch den Inhalt junge Menschen vor Drogen bewahrt werden würden. 

Aber es gab weitere Opfer, immer mehr. Jahre später starb auch Mike durch Rauschgift, Sohn einer reichen Dynastie nahe Essen. Eigentlich eine heile Familie mit warmherziger Mutter und Großmutter. Aber Mike war in der Pubertät mehrfach falsch abgebogen und in der Essener Szene gelandet. Wenn er sich einen Schuss setzte, dann manchmal mit dem Spruch: „Jetzt geh ich wieder zum Regenbogen!“ Die Beerdigung fand im engsten Familienkreis statt.

Von Mikes Schicksal erfuhr ich viele Jahre später, in meiner Phase als Spiele-Erfinder. Sofort waren Bilder vor dem inneren Auge, und bald ein Computerspiel fertig: „Mike und der Regenbogen“. Im Spiel rannten fünf Mikes in Richtung Regenbogen, während zwei No-Figuren verzweifelt versuchten, die unvernünftigen Jungen daran zu hindern. 

Kurz nach dem Online-Hängen des Spiels rauschte eine Anwaltskanzlei durch mein Leben. Die Familie von Mike fühle sich in ihren Persönlichkeitsrechten verletzt. Ich solle mitteilen, wo überall im Internet das Spiel zu finden sei, es löschen lassen und eine Unterlassungs-Erklärung abgeben. Natürlich war ich erschrocken, machte sofort das Gewünschte und hoffte, damit das Ärgernis aus der Welt geschafft zu haben. Sieben Tage später schlug eine zweite Bombe der Kanzlei ein. Wegen der Bearbeitung meines Verstoßes seien Anwalts-Gebühren fällig. Den genau genannten vierstelligen Euro-Betrag solle ich innerhalb von zehn Tagen überweisen.

Mir war klar, dass ich Mist gebaut hatte. Aber der Preis gleich so hoch? Einen langjährigen Freund bat ich um Rat, bodenständiger Anwalt aus Altenessen. Er dröselte den Fall auf und kam zum Schluss: die Rechnung sei so üblich. Aber ich könne es ohne Zahlung auf einen Prozess ankommen lassen. Immerhin sei der Streitwert überschaubar und selbst im Verlustfall keine Katastrophe. Ich sollte die zu erwartenden Kosten gegen den Publicity-Wert einer Gerichtsverhandlung zu meinem Spiel abwägen. Die Beste aller Ehefrauen meuterte: Ein Prozess sei das Letzte, was sie wolle. Dann würde es wochenlang bei den Mahlzeiten nur dieses Thema geben, darauf habe sie keinen Bock. 

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Eine zweite Meinung kam aus St. Pauli. Freund und Anwalt Hinnerk riet ganz pragmatisch: Wenn mir der angesetzte Betrag zu hoch scheine, könne ich für mich selbst überlegen, wie viel Euro es mir Wert sei, die Angelegenheit aus der Welt zu schaffen. Diese Zahl sollte ich in einen Verrechnungsscheck schreiben und im Begleitbrief erklären, dass sie klagen müssten, wenn sie mehr wollten. 

Ich bewunderte seine Weisheit, fand 350 eine schöne Zahl und schickte den Brief mit etwas Bangen ab. Wann würde wohl eine Antwort des Anwalts kommen? Und was wäre, wenn der Brief bei der Post verloren ginge? Drei Tage nach dem Absenden hielt ich die Spannung nicht mehr aus und holte Kontoauszüge – Online-Banking kannte mein Institut damals noch nicht. Der Auszugsdrucker ratterte gemächlich in seinem einschläfernden Tempo, dann sah ich eine „minus 350“ auf dem ausgespuckten Blatt. Erleichterung. Am liebsten hätte ich gejubelt, aber so etwas macht man in der Sparkassen-Halle besser nicht. 

Auf dem Heimweg begann das Grübeln: Wenn die so schnell einlösen, waren 350 vielleicht doch zu viel gewesen?! Hätten eventuell 250 Euro gereicht? Na ja, erst mal den Begleitbrief der Kanzlei abwarten. Aber da kam kein Brief. Nix, niente, nullo! Eine Woche, zwei Wochen, drei Wochen gewartet. Immer noch: nix niente nullo. Irgendwann rief ich wieder bei Hinnerk an. Seine Antwort ließ keine Fragen offen: 

„Hatte ich dir das nicht gesagt? Wenn sich die Kanzlei mit dem Scheck zufrieden gibt, mach nicht den Fehler, dich zu grämen. Du hast geboten, was es dir wert war, und ändern kannst du es jetzt auch nicht mehr. Und warum sollten sie außer der Einlösung des Schecks etwas machen? So halten sie sich alle Optionen offen.“

Die Gattin war zufrieden – und ihr Gatte hatte eine wichtige Lektion gelernt.

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