Von Daniel Magar

(inspiriert von Long Time Coming von Bruce Springsteen)

Unbewusst reibt er seine feuchten Handflächen über die Hose, während er vor der Gegensprechanlage steht und ungläubig das Bild anstarrt. Als es geklingelt hatte, hatte er in den Besprechungschat nur schnell afk getippt und war zur Tür gehechtet, in der Erwartung, dass er mal wieder Packstation für die Nachbarn spielen durfte. Im Call hatten sie Englisch gesprochen, und vielleicht hatte sein Gehirn einfach nicht genug Zeit gehabt, um umzuschalten, jedenfalls ist der erste Gedanke, der ihm durch den Kopf schießt, als er sieht, dass es sich bei dem Mann vor der Tür keineswegs um den Postboten handelt, ebenfalls in Englisch. 

This can’t be good.

Er steht nun schon seit einigen Sekunden regungslos da und sieht, wie der Mann unten an der Tür langsam unruhig wird. Der Mann ist es nicht gewohnt, warten zu müssen. Doch erst das zweite Klingeln reißt ihn aus seiner Starre. 

“Was machst du denn hier?”, fragt er, weil ihm nichts Besseres einfällt, nachdem er den Telefonhörer an der Gegensprechanlage gedrückt hat.

“Das ist ja eine nette Begrüßung”, antwortert der Mann. “Ich wollte einfach mal Hallo sagen, was denn sonst?”

Er drückt den Summer und öffnet die Wohnungstür. Während der Besucher die Stufen in den zweiten Stock erklimmt, öffnet er Whatsapp und scrollt zum Chat mit seiner Mutter.

Zuletzt online heute 16:40 Uhr

Vor ungefähr einer Stunde. Ein gutes Zeichen … oder?

“Ist mit Mama alles okay?”

Der Vater schaut ihn belustigt. “Wie? Was soll denn nicht in Ordnung sein?”

“Ich mein ja nur …” Er schiebt das Handy in die Hosentasche, wischt sich wieder die Hände ab. “Weil du so plötzlich hier vorbeikommst.”

“Natürlich ist alles in Ordnung. Es muss doch nicht erst Verwandschaft sterben, damit ich mal meinen Sohn besuchen kann.” Der Vater kommt auf ihn zu. Er streckt die Hand aus, aber der Vater umarmt ihn kurz und ungelenk. Er folgt dem Vater ins Wohnzimmer und erwischt sich dabei, wie seine Augen auf der Suche nach einer noch in letzter Sekunde zu beseitigenden Unordentlichkeit durch die Wohnung huschen. Er zwingt sich, zu stoppen. Der Vater möchte einen grünen Tee statt eines Kaffees. Er muss vier Schränke öffnen, bis er die Tees findet.

“Ich trink nie Tee …”, sagt er, merkt dann aber, dass der Vater in der Zeitung blättert, die auf dem Tisch lag, und gar nicht darauf achtet, was er macht. Erst als er die Tasse auf den Tisch stellt und einen Aschenbecher daneben, hebt der Vater den Kopf.

“Ich rauche doch gar nicht mehr!”

“Ach.”

“Schon seit zwei Jahren.”

“Ja, stimmt …” Er erinnert sich dunkel, dass während einer der obligatorischen Neujahrsbesuche die gereizte Stimmung des Vaters damit entschuldigt wurde, dass dieser eine Woche zuvor seinen Zigarillos entsagt hatte. Ein Weihnachtsgeschenk für die Mutter.

Die Mutter, die ihn wieder zurückgenommen hatte. Nach all den Jahren, nach all den Erniedrigungen.

Es ist merkwürdig, sich den Vater als Nichtraucher vorzustellen. Die Erinnerungen an seine Jugend – an seine frühe Jugend – sind fest mit dem Geruch der Zigarillos verbunden. Er hatte sich, seit er denken konnte, über den Rauch beschwert, ihn dramatisch mit der Hand weggewedelt, weniger, weil es ihn wirklich störte, sondern mehr, um den Vater zu necken, immer in der Hoffnung, dass sich eine Kabbelei entwickelte, während der ihn der Vater aufs Sofa warf und dann so tat, als würde er ihm Rauch direkt ins Gesicht blasen. Irgendwann aber reagierte der Vater zunehmend genervt auf seine Kommentare. Statt Kabbeleien entwickelten sich echte Streits, und bald darauf waren zwar die Zigarillos weg, aber der Vater auch.

“Wie lange geht sie denn noch arbeiten?”, fragt der Vater nun und nickt mit dem Kopf auf ein Bild an der Wand.

“Nur noch knapp zwei Monate.”

“Dann wird’s ernst.”

“Hm-mm.”

Er weiß noch immer nicht, warum der Vater da ist. Vielleicht eine Krankheit? Der Vater ist definitiv älter geworden, als er ihn in Erinnerung hat. Aber dort scheint der Vater auch auf ewig Ende dreißig zu bleiben, seine Referenz ist also circa zwanzig Jahre daneben.

“Geht’s dir denn, äh … gut?”, fragt er schließlich.

“Besser denn je”, antwortet der Vater und zieht die Mundwinkel nach oben. “Ich gehe jetzt wieder regelmäßig in die Squashhalle.”

“Die abgebrannte?”

“Haben sie wieder aufgebaut. Zur Einweihung gab’s dreimal Spielen gratis, da dachte ich, warum nicht. Und das war der Anfang.” Der Vater berichtet, mit einem ehemaligen Arbeitskollegen zu spielen. Er kennt den Namen noch aus seiner Kindheit, als der Arbeitskollege gelegentlich zu Besuch kam. Einmal hatte der Arbeitskollege sogar mit ihm Mario Kart gespielt und ihn geschlagen. Erst danach gestand der Arbeitskollege, dass er selbst gerne nach der Arbeit spielte. Er fragt sich, ob der Arbeitskollege während all der Jahre Kontakt zum Vater gehabt hatte. Falls ja, was hatte der Arbeitskollege dann gesagt, als der Vater ihm offenbarte, künftig bei einer anderen Frau zu wohnen, ohne seinen zwölfjährigen Sohn?

Sie sitzen schweigend da, während der Vater den Teebeutel herausfischt, dann den Mund öffnet – und wieder schließt. Er lehnt sich nach vorne, als der Daumennagel des Vaters beginnt, abwechselnd an Zeige- und Mittelfinger zu kratzen. 

“Die Tür da ist falsch eingestellt.” Der Vater deutet auf den Schrank mit den Tassen. “Gib mir mal einen Schraubenzieher, dann mache ich das schnell.” 

Der Vater hat ihm nun den Rücken zugewandt, ist in seine Arbeit vertieft. “Das ist eine große Veränderung im Leben, das erste Kind. Damals haben wir gedacht, wir wären darauf vorbereitet, aber als du dann plötzlich da warst…” Der Vater öffnet und schließt die Tür, prüft den Spalt.

“Was war dann?”

Der Vater zuckt mit den Schultern, kratzt sich mit dem Schraubenzieher hinter dem Ohr. “Die Uhren ticken einfach plötzlich ganz anders. Alles dreht sich um das Kind.”

“Du warst doch arbeiten.”

“Tagsüber, ja. Aber an den Abenden und Wochenenden nicht. Und …”

Er wartet, dass der Vater aufhört, an der Tür zu schrauben und fortfährt.

“Was ich meine ist, dass es überwältigend sein kann, gerade in der Anfangsphase. Und gerade als Mann. Für die Frauen ist das anders, glaube ich. Wegen der Hormone und so. Aber wenn du dann plötzlich keine Zeit mehr für dich hast … Nicht mehr einfach tun und lassen kannst, was du möchtest, nicht mehr in Urlaub fahren, wann und wohin du willst.”

“Für Urlaub haben wir eh kein Geld.”

“Du weißt doch, was ich sagen will …”

“Du willst mir sagen, dass du es bereust, Vater geworden zu sein. Bist du deshalb gekommen?”

Der Vater seufzt, klettert langsam von der Anrichte herunter und setzt sich zurück an den Tisch. Wieder beginnt der Daumennagel zu kratzen. “Ich will nur, dass du besser vorbereitet bist, als ich es damals war. Dass du weißt, was auf dich zukommt.” Der Vater räuspert sich, trinkt einen Schluck Tee. “Damit du nicht irgendwann den gleichen Fehler machst wie ich.”

Die Hand, die der Vater ihm jetzt zögerlich auf die Schulter legt, ist die gleiche, die damals auch damals auf seiner Schulter lag, als der Vater sich morgens zu ihm aufs Bett gesetzt hatte, um ihm zu erklären, dass er ausziehen würde, dass er so nicht länger leben konnte. Er hatte einen Großteil seiner restlichen Jugend darüber nachgedacht, was genau dieses so meinte.

Jetzt, in der Küche seiner Wohnung, schaut er den Vater ebenfalls nicht an. Er wäre froh, der Vater würde die Hand von seiner Schulter nehmen. Sie löst in ihm den Impuls aus, wegzulaufen, und obwohl der Vater die Hand einfach nur abgelegt hat, scheint sie ihn herunterzudrücken, festzuhalten. Er weiß, dass er etwas sagen muss, um aus der Situation herauszukommen.

“Wir sind sehr glücklich.”

“Das waren wir auch. Und dann waren wir — nein, sorry — war ich es irgendwann nicht mehr.”

Er hat schon oft darüber nachgedacht, ob es ihm auch eines Tages passieren könnte. Er sieht gewisse Anlagen in sich, die ihn beunruhigen. Doch diese Sorgen mit dem Vater zu teilen, würde sich wie eine Handreichung anfühlen, wie der erste Schritt der Vergebung, also schweigt er und wartet.

“Es tut mir leid, Timo. Ich hätte nicht gehen dürfen.”

Er kann nicht anders, als den Vater nun doch anzuschauen. Der Vater erwidert seinen Blick, es ist offentlich, dass er noch etwas sagen möchte — doch dann schüttelt der Vater doch nur leicht den Kopf und starrt wieder in seine Teetasse.

Wieder ist da der Instinkt, dem Vater entgegenzukommen, etwas Beschwichtigendes zu erwidern, aber er kämpft diesen Instinkt entschlossen nieder. Sein Handy klingelt im Nebenzimmer. Er entschuldigt sich und nimmt das Gespräch an. Eine berufliche Angelegenheit, die warten kann. Er verspricht dem Anrufer einen baldigen Rückruf und geht zurück ins Esszimmer. Der Vater schaut ebenfalls auf sein Handy, liest vor, dass der Transfer eines Spielers zu den Bayern jetzt abgeschlossen ist, ein Verteidiger von ManCity, ziemlich große Sache. Sie unterhalten sich zehn Minuten über Fußball, dann bedankt sich der Vater für den Tee und steckt das Handy zurück in die Tasche. Zum Abschied umarmt der Vater ihn erneut, hält ihn für einige Sekunden fest.

“Sag uns Bescheid, sobald es losgeht, ja? Ich will keine Sekunde verpassen.”

Er nickt, dann schließt er die Tür hinter dem Vater.