Von Renate Oberrisser

Aus seiner Kaffeetasse schlürfend scrollt Emil durch die Vielfalt der Online Medien. Mit vollem 

Mund bleibt er an einem Artikel hängen. ALL-GENDER WC: Diese Toilette steht allen Menschen offen. Eine Herrentoilette finden Sie in der Nähe.‘ 

„Und was ist mit dem Damen WC? Es gibt bestimmt Frauen jeden Alters, welche die öffentliche Toilette nicht mit All-Gender, sondern nur mit Vertreterinnen des eigenen Geschlechts teilen möchten. Mit welchen Themen die Menschheit in den letzten Jahren begonnen hat sich auseinanderzusetzen?!“ Atemlos prustet Emil Kaffeetropfen über sein Tablet. 

„Nein, kein vor sich hin nickender, sondern ein kopfschüttelnder Wackeldackel, damit könnte ich mich identifizieren.“ Gelegentlich ergibt es sich bei Emil, wenn auch etwas abweichend, mit aktuellen Trends mitzuschwimmen. 

Mit einem letzten Blick auf eine weitere Schlagzeile und dem dazugehörigen Bild schaltet Emil das Tablet aus, wischt mit einem Putztuch darüber und macht sich auf den Weg zur Arbeit.

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Emil ist ein bodenständiger Mensch, wie sein Vater einer war. Als jüngstes von fünf Kindern und einziger Sohn hätte er eine höhere Schule besuchen können. Damals entschied er sich jedoch, das Handwerk seines Vaters zu erlernen, in der Hoffnung, dadurch ein besseres Verhältnis zu diesem aufbauen zu können. 

„Ihr beide, ihr seid so verschieden, kein Wunder, dass ihr so oft aneinander geratet“, bemerkten seine Schwestern. „Du und dein Vater, ihr seid euch in manchem so ähnlich. Vor allem könnt ihr eure Liebe zueinander nicht zeigen“, meinte hingegen seine Mutter . 

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Die alte Frau Müller öffnet Emil die Wohnungstür. 

„Emil, du bist ein Schatz. Was würde ich nur ohne dich machen. Kannst du mir auch ausnahmsweise den Lichtschalter in der Küche reparieren? Ich weiß, du kommst eigentlich wegen dem verstopften Abfluss. Aber … .“ Emil nickt wissend. Als Frau Müller anrief, teilte er sie vorausahnend als letzten Termin des Tages ein. Für die längere Fahrt in sein Heimatdorf. Das spontane Abendessen inbegriffen.

„Weißt du Emil, ich kann mich noch gut an deinen Vater erinnern. Der war auch immer so hilfsbereit. Trotz seiner Beeinträchtigung. Die war nie ein Hindernis für ihn. Ach Emil, was sind das nur für Zeiten in denen wir leben.“ Frau Müller beginnt über ihre Sorgen um die heutige Jugend und die Zukunft, über die Welt und ihre Erinnerungen an früher zu philosophieren. 

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Eine Melodie geistert durch Emils Kopf. Den ganzen Tag schon und immer wieder. Nur der Text, der richtige Text will ihm nicht einfallen.

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Seine Mutter war mit seinem Vater in zweiter Ehe verheiratet. Dazumal war es ein großes Glück, wenn sich ein Mann für einen verwitwete Frau mit mehreren Kindern entschied. 

Wie in jedem kleinen Dorf wurde hinter vorgehaltener Hand und offenkundig , gerne und breit über jeden und alles getratscht. Bevorzugt wurde über Heiratsgründe spekuliert. Bei Emil hätte es sich allerdings um ein Blauwalbaby handeln müssen. Den Begriff Patchwork-Familie gab es damals noch nicht. Der männliche Familienzuwachs wurde von den vier Mädchen jedenfalls begeistert angenommen.

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„Schon verrückt, dass ich heute so einiges anders sehe. Vielleicht sollte ich nicht so viel in Büchern schmökern und nicht so neugierig sein. Dein Vater zog mich früher immer mit meiner Wissbegierde auf. Er hat nie viel darüber geredet, was ihm widerfuhr. Hat er dir jemals davon erzählt? Viel lieber hat er von euch berichtet. Von seinem Sohn und seiner Frau und seinen Töchtern. Da haben seine Augen zu leuchten begonnen.“  

Emil fuhr gerne zur alten Frau Müller um ihren Erzählungen zu lauschen. Vieles worüber sein Vater nie gesprochen hatte, erfuhr er von ihr. Andererseits konnte er mit niemand anderem so gut über seinen eigenen Sohn sprechen, den er seit der Scheidung viel zu selten gesehen hatte und der mittlerweile kurz vor der Matura stand.

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Während der Heimfahrt bedauert Emil wieder einmal seine Nachlässigkeit nie CD’s für längere Fahrten mitzunehmen. Er zappt durch die einzelnen Sender und bleibt bei einem alten Schlager hängen. Es ist die Melodie, die bereits den ganzen Tag durch seinen Kopf geistert. Nur der Text, es ist ein falscher. Der Liedtext. Er windet sich. Er verformt sich. Er schreibt sich neu. Doch dann… . Diese Melancholie … . Sie passt nicht mehr dazu.

Emil erinnert sich an Rabenschwarz und ein Schauder läuft über seinen Rücken. 

Zuhause angekommen schaltet er sein Tablet ein und sucht das passende YouTube Video. ‚Rammstein was inspired by Frank Zander‘ liest er in den Kommentaren. Und er per-formt kratzig sein Lied.  


Dieser Zug fährt nach Irgendwo. 

Nicht allein mit seiner Fracht.

Mit jeder Stunde, die vergeht, 

kommt er näher an sein Ziel.

Dieser Zug fährt nach Irgendwo, 

als wenn es gestern gar nicht gibt.

Dieser Zug fährt nach Irgendwo, 

und niemand stellt
von grün auf rot das Licht. 

Macht es euch den gar nichts aus,

dass unzählig Leben mit einem mal zerbricht.

Dieser Zug fährt nach Irgendwo.

Sagt doch dieses Wort, 

sagt doch nur dieses eine Wort! 

Trotzdem wird nichts so wie früher sein.

Dieser Zug fährt nach Irgendwo.

Die Zeit verrinnt, die Stunden gehen, 

bald bricht ein neuer Tag heran.
Noch ist es nicht zu spät, 

doch wenn die Tür sich schließt, 

was dann? 

Wie einst viele Männer einen Zug nach Irgendwo bestiegen, musste dies auch Emils Vater als viel zu junger Bursche. Emils Vater kam zurück. Sein rechtes Bein war jedoch nicht das einzige, dass er damals verlor. Der eigene Vater, der einzige Bruder und viele Freunde kehrten nie mehr heim. Bedenkenlos wurden viel zu viele auf jeder Seite geopfert.

„Und wieder werden  haufenweise Kampfgeräte geliefert. Werden morgen unzählige Menschen folgen? Steht meinem Sohn und mir das gleiche Schicksal bevor wie einst meinem Vater und dem seinen?“ Emil nimmt sein Handy und wählt eine bestimmte Nummer. 

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