von Franck Sezelli

     

     

    –  Nowgorod im Oktober 1983

     

    Nach der Vorlesung über den Code civil Napoléons als Gundlage des bürgerlichen Rechts im europäischen Westen schlenderten Pjotr und Tatjana in der noch erstaunlich warmen Herbstsonne die Leningradskaja Ulitza entlang. Pjotr schaute seine Kommilitonin verliebt von der Seite an. Ihm gefielen besonders die leuchtenden blauen Augen und das blonde lange Haar von Tatjana. »Kommst du noch auf einen Kaffee mit in die Stolowaja  ›Dva Perza‹? Die haben übrigens auch leckeres Gebäck, ich bin da schon manchmal nach der Uni dort gewesen.«

    »Einverstanden! Ich kenne sie zwar noch nicht, aber wenn du das sagst. Mir ist aber ein Tee lieber.«

    Keine fünf Minuten später saßen sie sich in dem ungewöhnlich sauberen Selbstbedienungs-Imbiss gegenüber.

    Tatjana entgingen die bewundernden Blicke ihres Mitstudenten natürlich nicht. »Was schaust du mich so an? Willst du mit mir anbandeln?«

    »Sehr gern! Ich mag dich und bin gern mit dir zusammen.« Pjotr zwinkerte ihr zu und sagte: »Ich könnte dich stundenlang anschauen, du bist wunderschön.«

    Tatjana errötete leicht. »Was würdest du sagen, wenn du erfährst, dass ich vielleicht gar keine echte Russin bin?«

    »Das würde nichts ändern. Aber wie kommst du denn darauf?«

    »Es könnte sein, dass ich eine Halbfranzösin bin …«

    »Wie meinst du das: Es könnte sein?«

    »Pjotr, kennst du vielleicht das französische Chanson  ›Nathalie‹ von Gilbert Bécaud?«

    »Ja, meine Eltern hatten eine Schallplatte mit diesem Lied. Ich habe in der Schule ja auch Französisch gelernt und habe das Lied besonders gemocht. Aber was hat das mit dir zu tun?«

    »Meine Mutter heißt Natalja. Sie hat Romanistik studiert und während des Studiums als Fremdenführerin gearbeitet. Immer wenn sie das Chanson hört – und sie hört es oft – nehmen ihre Augen einen feuchten Glanz an. Manchmal wird sie auch schwermütig, ein andermal aber lebt sie besonders auf.«

    »Ja, und? Ihr lebt doch in Leningrad, dachte ich. In dem Chanson geht es doch um Moskau.«

    »Ja, meine Mutter hat in Moskau studiert und dort auch als Touristenführerin gearbeitet. Kurz, nachdem ich geboren wurde, ist sie mit mir nach Leningrad gezogen und ist dort Französischlehrerin. Sie bezieht das Lied offensichtlich auf sich, auch wenn sie nie deutlicher wurde. Ein Franzose, den sie im Januar 1964 begleitet hat, nannte sie Nathalie.«

    »Du meinst, nach dem Besuch des Roten Platzes und des Lenin-Mausoleums war sie mit ihm auch im Café ›Puschkin‹ und dann im Studentenheim, wie Bécaud das singt?«

    »Davon hat sie oft erzählt. Sie haben mit den anderen Studenten viel diskutiert und Schampanskoje getrunken, über Gott und die Welt gesprochen, das heißt über die Oktoberrevolution und unser Land, über  Frankreich und Paris.«

    Pjotr bekam große Augen. »Da wäre ich gern dabei gewesen. Im Lied geht es dann doch aber weiter mit Et quand la chambre fut vide … je suis resté seul avec mon guide Nathalie: ›Und als das Zimmer leer war‹, die anderen waren gegangen, ›ich blieb allein mit meinem Guide Nathalie‹. Meinst du, deswegen? Wann bist du geboren?«

    »Ich bin im Oktober 1964 geboren, meinen Vater habe ich nie kennengelernt. Aber ob sie, wie Nathalie im Lied, mit dem Franzosen allein im Zimmer war, hat sie auch nie erzählt. Mütter erzählen nicht alles ihren Kindern.«

    »Weißt du denn, wie der Franzose hieß, den sie da als Führerin betreut hat und von dem sie so schwärmt?«

    »Gilbert.«

    Pjotr blieb der Mund offen stehen. Er sagte nichts.

    »Weißt du, Pjotr, wenn ich mit meinen Freunden an der Newa spazieren ging, hatte ich oft das Gefühl, das könnte auch die Seine sein. Und wenn wir den Newski-Prospekt entlang schlenderten und uns die Auslagen in den Geschäften ansahen, meinte ich manchmal, auf den Champs Élysées zu sein. Es war so ein seltsames Gefühl, wie von einer äußeren Kraft in mich hineinprojiziert. Ich konnte nichts dagegen tun.«

    »Aber Tatjana, du studierst mit Jura doch etwas Handfestes. Da weißt du doch, dass es solche übernatürlichen Kräfte gar nicht gibt.«

    »Weiß man’s? Vielleicht bin ich doch Halbfranzösin! Das erklärt es dann irgendwie …«

    »So ein Quatsch! Für mich bist du das schönste Mädchen der Welt, egal ob Russin oder Französin oder Was-weiß-ich oder alles nur halb!«

    »Das freut mich, lieber Pjotr. Ich habe das so noch niemandem erzählt. Zu dir habe ich Vertrauen. Ich frage mich, ob ich Monsieur Bécaud nicht einmal einen Brief schreiben sollte.«

    Pjotr fasste sich überlegend ans Kinn. »Was willst du ihm denn schreiben?«

    »Ein bisschen Französisch kann ich auch noch von der Schule her. Mama würde ich da nicht einbeziehen wollen. Ich könnte ihm schreiben, dass ich aus dem kalten Leningrad komme und mich nach Frankreich sehne. Dass ich jetzt 19 Jahre alt bin und in Nowgorod Jura studiere.

    Erinnern Sie sich, vor zwanzig Jahren waren Sie in Moskau, la place Rouge était vide, der Rote Platz war leer, vor Ihnen lief Ihre Führerin Nathalie. Später waren Sie mit ihr im Café ›Puschkin‹. Pouchkine elle en parle tout le temps. C’était son bon temps. Meine Mutter redet immerzu von ›Puschkin‹. Das war ihre schöne Zeit.«

    »Hmm, das willst du Monsieur ›100000 Volt‹ schreiben? Du weißt doch gar nicht, ob er dein Vater ist.«

    »Aber ich bin Nathalies Tochter! Ich könnte ihm ein Foto von mir schicken und ihn fragen, ob ich Mama ähnlich sehe. Und ich könnte ihm schreiben, dass ich gern Paris besuchen würde, voir les magasins et les rues la nuit, die Geschäfte und die Straßen bei Nacht sehen, aber dass es kompliziert ist, einen Reisepass zu bekommen. Meine Freunde und ich würden uns auch freuen, wenn er nach Leningrad kommt, am besten während der Weißen Nächte. Alle lieben ihn und seine Erfolge und vor allem ›Nathalie‹. Ich könnte ihn bitten, uns Ansichtskarten zu schicken, vom Eiffelturm, vom Schloss Versailles.«

    Pjotr langte über den Tisch und streichelte zärtlich den Arm Tatjanas.

     

     

     

     

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    Fußnoten:

    Nowgorod, von dem Gilbert Bécaud (1927 – 2001) in ›La fille de Nathalie‹ singt als dem Ort, an dem das Mädchen studiert, heißt heute Weliki Nowgorod.

    Die Stadt Nishnij Nowgorod, an die mancher bei der Nennung des Stadtnamens denken mag, hieß seinerzeit Gorki.

     

    Das Chanson ›Nathalie‹ von Gilbert Bécaud mit dem Text von Pierre Delanoë kam 1964 heraus und wurde international einer seiner größten Erfolge. Das kennen vielleicht auch noch Jüngere. 
    https://www.youtube.com/watch?v=TilQ8BIHisw
    1983, also 19 Jahre später, brachten Gilbert Bécaud und  Pierre Delanoë mit ›La fille de Nathalie‹ eine Art musikalischer Fortsetzung heraus.

    https://www.youtube.com/watch?v=GVPDy8yt-qI

     

    In meinem Text kursiv gesetzt sind wörtliche Passagen aus den Chansons  ›Nathalie‹ und ›La fille de Nathalie‹.

     

    Die Originaltexte mit brauchbaren deutschen Übersetzungen findet man hier:
    https://lyricstranslate.com/de/nathalie-nathalie.html-16

    https://lyricstranslate.com/de/la-fille-de-nathalie-nathalies-tochter.html