Von Angelika Brox



Früher stürmte er, sobald er die Hausaufgaben erledigt hatte, nach draußen, um mit seinen Freunden Fußball zu spielen, am Bach Dämme zu bauen oder was immer Jungen in diesem Alter gern machten. Vor dem Abendessen sah sie ihn dann nur noch, wenn er sich zwischendurch ein Wurstbrot holen wollte. Kurz nach seinem zwölften Geburtstag fing es an. Thomas veränderte sich. Sie spürte, dass mit ihrem Sohn etwas nicht stimmte. Immer öfter blieb er lieber daheim. „Ich bin müde“, sagte er, oder: „Meine Beine tun weh.“
„Wachstumsschmerzen“, meinte der Kinderarzt.
Manchmal wurde sie nachts wach, weil Thomas mit nackten Füßen in die Küche tappte, um ein Glas Wasser zu trinken, oder weil er im Schlaf seine Bettdecke zerwühlte und leise stöhnte. Seine Stirn fühlte sich heiß an, das Fieberthermometer zeigte meist Temperaturen zwischen 38 und 38,5 Grad Celsius. „Mein Kopf, mein Kopf“, jammerte er. Tröstend streichelte sie ihm die dichten, weichen Ponyfransen aus der Stirn. Eigentlich fand er sich inzwischen zu alt für Zärtlichkeiten. Dass er sie jetzt zuließ, zeigte ihr, wie schlecht es ihm ging. Während sie in das bleiche Gesicht ihres Sohnes schaute, spürte sie mit ihm den Schmerz.
„Eine Infektion“, diagnostizierte der Kinderarzt.
Das erklärte allerdings nicht die blasse Haut und die häufigen blauen Flecken.
Eines Nachts kletterte das Fieber über 39 Grad. Sie legte Thomas einen feuchten Waschlappen auf die heiße Stirn und machte ihm kalte Wadenwickel. Doch die Temperatur stieg weiter. Er starrte sie aus glasigen Augen an, auf seinen Wangen bildeten sich rote Flecken. Mit zitternden Händen rüttelte sie Hans aus dem Schlaf. Er warf einen kurzen Blick auf seinen Sohn. „Der Kinderarzt kann mich mal“, sagte er. „Wir fahren ins Krankenhaus. Sofort.“
Es folgten Bluttests, Röntgenaufnahmen, Ultraschall und Lumbalpunktion. Nach endlosen Wartestunden auf Krankenhausfluren oder vor Sprechzimmern kam der Moment, der ihr altes, sicheres Leben aus seiner Verankerung riss: „Es tut mir sehr leid, Ihr Sohn hat Leukämie.“ Was der Arzt anschließend sagte, rauschte als Schallwellen ohne erkennbaren Sinn an ihr vorbei. Obwohl Hans und sie schon einige schwere Situationen gemeinsam überstanden hatten, war es das erste Mal, dass sie ihn weinen sah.
In den folgenden Monaten fragte sie sich manchmal, für wen es schlimmer war, für Thomas, weil er so vieles erdulden musste, oder für Hans und sie, weil sie ihr Kind leiden sehen mussten. Trotzdem hatten sie Glück im Unglück, wie ihnen der Onkologe erklärte. Wäre ihr Kind nur wenige Jahre früher erkrankt, hätte es kaum Chancen gehabt. Doch nun, seit Anfang der Siebzigerjahre, gab es eine neue Methode aus Amerika, ein besonders intensives, komplexes Behandlungsprogramm, das sich als sehr erfolgreich erwiesen hatte. Da es von einem Dr. Donald Pinkel entwickelt worden war, nannte man es die Pinkel-Therapie. Natürlich erzählte sie Thomas sofort, dass er eine Pinkel-Therapie bekäme. Darüber musste er laut lachen, klang fast so fröhlich wie früher. Ihr Herz zog sich zusammen. Vielleicht würde ja alles gut …

Sie taucht die Blätter ins Wasser und rudert mit kräftigen Zügen aufs Meer hinaus. Auf der Holzbank ihr gegenüber sitzt Thomas. Seine Haare, die fast bis zur Taille reichen, wehen in der warmen Brise. Sie lächelt ihm zu. Damals, in den schlimmsten Phasen der Chemotherapie, hatte er furchtbar ausgesehen, abgemagert, bleich, unter den Augen breite Ringe in tiefdunklem Braun. Als ihm dann auch noch in fedrigen Büscheln die Haare ausfielen, traute er sich nicht mehr, in den Spiegel zu schauen. Er verlor den Mut und wollte aufgeben. Hans und sie versprachen ihm, wenn er wieder gesund sei, dürfe er seine Haare so lang tragen, wie er wolle. Dieses Versprechen haben sie gehalten. Seitdem hütet Thomas seine Haare wie einen kostbaren Besitz.
In stetigem Rhythmus taucht sie die Ruder ein und zieht sie am Boot entlang durchs Wasser. Der Strand, die Sonnenschirme und Dünen werden kleiner. Sie beginnt zu summen. Ein Ohrwurm krabbelt ihr ins Ohr und kitzelt eine Erinnerung wach: „La Mer …“
Wie gern hat sie doch einst dieses Lied gehört, in dem Charles Trenet die Schönheit der tanzenden Wellen mit ihren silbern glitzernden Lichtreflexen unter dem endlosen Sommerhimmel besang.

Nachdem Thomas endlich, endlich seinen Kampf gewonnen hatte, machten die drei eine Reise in den Süden Frankreichs. Ängste, Schmerzen und schlaflose Nächte ließen sie hinter sich zurück. Die Sonne schien vom leuchtend blauen Himmel herab, wärmte ihre Körper und ihre Seelen. Sie wanderten durch malerische Dörfer, badeten im Meer und unterwegs spielte der Kassettenrekorder im Auto französische Chansons, vor allem immer wieder La Mer:
„La mer qu’on voit danser …“

Wind kommt auf, trägt warme Luft vom Land übers Meer. Die Wellenkämme schwingen höher, brechen sich klatschend am hölzernen Rumpf und lassen das Boot stärker schaukeln. Sie wendet und rudert zurück in Richtung Ufer. Schon nähert sich eine Nebelwand und einige Augenblicke später sind sie von milchigen Schwaden eingehüllt. Jetzt nur nicht die Orientierung verlieren! Sie rudert, so fest sie kann. Die Muskeln schmerzen, ihre Stirn wird feucht. Als sie fast am Ende ihrer Kräfte ist, lichtet sich der Nebel und die Sonne dringt durch. Mit einem Seufzer legt sie die Blätter flach auf dem Wasser ab, wischt sich den Schweiß von der Stirn und schaut zu Thomas hinüber. Geht es ihm gut?
Er sieht verändert aus. Seine Haare sind unter einer Mütze verborgen, das Gesicht wirkt weicher, die Augen blicken kindlich und vertrauensvoll, als hätten sie noch nie Leid gesehen. Sie blinzelt, dann wird es ihr klar: Dort sitzt nicht ihr Sohn, sondern ihr Enkel. Daniel. Sie erinnert sich wieder an Thomas‘ Hochzeit mit Sabine. Wie glücklich Hans und sie damals waren, wie stolz auf ihren wunderbaren Jungen! Er küsste die Braut und sie strich ihm zärtlich über den langen Zopf, der auf seinen Rücken fiel.
Und jetzt sitzt schon sein eigener Sohn hier mit ihr im Boot. Unglaublich. Sie schüttelt den Kopf, streicht ein paar Strähnen hinter die Ohren – und stutzt. Wann sind ihre Haare weiß geworden? Seit wann ist die Haut auf ihren Händen so dünn und voller Altersflecken?
Verwirrt schaut sie zur Bank ihr gegenüber. Daniel ist verschwunden, stattdessen sitzen dort zwei kleine Mädchen. Auch die kennt sie: Leni und Luisa, Daniels Töchter. Nicht zu fassen, sie ist bereits Uroma! In ihr Lächeln mischt sich ein Hauch Wehmut: Hans hätte seine Urenkelinnen sicher gerne kennengelernt.
Am Horizont färbt die Abendsonne die Wolken orange-rot, die Wellen schimmern wie flüssiges dunkles Gold. Sie schließt die Augen und genießt die letzten warmen Strahlen. Als sie die Augen wieder öffnet, ist sie allein. Auf einmal fühlt sie sich sehr müde. Sie faltet aus ihrer Jacke ein Kissen und legt sich auf dem Boden des Bootes nieder. Über ihr ziehen rosa Wolken dahin. Eine neue Melodie erklingt in ihrem Kopf: „Lass nun ruhig los das Ruder …“


https://www.youtube.com/watch?v=Jus6JxYMHD8


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