Von Marianne Apfelstedt

 

Deine Stimme höre ich nur noch selten. Die Worte sind dir abhandengekommen, als die Windungen verkalkten. Wenn du mir antwortest, dann nicht auf meine Frage, sondern mit Worten, die sich aneinanderreihen wie die Wolken am Himmel, die der Wind verbläst und neuformiert.

Du nimmst den Löffel in die runzelige Hand, schaust ihn an und legst ihn wieder auf den Tisch. Dein Blick aus wässrig blauen Augen, die Farbe verblasst, wie deine Erinnerungen. Nicht eine Wimper bewegst du. Ich nehme den Löffel, fülle ihn mit Suppe und führe ihn an deinen Mund. Du öffnest und schluckst die Suppe hinunter. Mit einer Serviette wische ich dir die schmalen Lippen ab. Beim nächsten Suppenlöffel strahlen die blauen Augen. Die Fältchen darum herum vertiefen sich und ein Lächeln huscht über dein Gesicht. Kraftmoment. Ein kurzes Auftauchen aus dem Nebel. Nach dem Essen räume ich das Geschirr ab und lege eine Serviette vor dich auf den Tisch. Sanft streichst du darüber, immer wieder. Deine Hände, die gewohnt waren Holz zu bearbeiten und den Garten umzugraben, wollen nicht stillhalten. Mit dem Geschirrtuch in den Händen sehe ich dir zu, wie du die Papierserviette fein säuberlich zuerst in Streifen und dann in akkurate Quadrate zerreißt. Du setzt sie wie ein Puzzle wieder vor dir zusammen. Deine Hände mit den versprengten Altersflecken legen sich auf die sehnigen Oberschenkel. Stillstand. Das karierte Tuch hänge ich zum Trocknen über den Heizkörper und gönne meinen Händen einen Klecks Handcreme.
„Die Sonne scheint. Komm, wir gehen spazieren.“ Ich ziehe dir die Halbschuhe an und helfe dir beim Aufstehen. Nehme dich an die Hand, so wie du früher unsere Enkelkinder. Mein Blick fällt auf das Foto an der Wand. Unsere Mädels, Kathrin, Sara und Isabella mit dir im Garten beim Turnen.

 

„So, du fängst an Kathrin.“ Die drei kleinen Mädchen im Alter zwischen vier und sieben Jahren standen dicht hintereinander vor der Turnmatte. Kathrin, das Schulkind machte eine Rolle vorwärts und gleich eine zweite über die Matte hinaus ins weiche Gras. Sara purzelte hinterher. Isabella, die Jüngste, bückte sich. Setzte den Kopf auf dem Boden auf, die Beine blieben durchgedrückt. Dann richtete sie sich wieder auf.
„Geht nicht.“
„Schau, so!“ Sara turnte einen Purzelbaum auf dem Gras.
„Ich helfe dir. Wir probieren das gemeinsam.“ Opa Helmut kniete sich neben Isabella. „Mach dich klein, roll dich zusammen wie ein Igel. Lass deine Knie locker.“ Eine Hand legte er an ihre Kniekehlen und die andere in den Nacken. Ganz sachte half er mit. Nach einigen Versuchen hatte sie den Dreh raus.
„Jetzt kann ich es selbst“, rief Isabella. Kurze Zeit später purzelten alle drei wie die Clowns in der Manege vorwärts und rückwärts durch den Garten. Wir setzten uns mit Kaffee und frisch gebackenem Kuchen an den Gartentisch und es dauerte nie lange, bis die Mädchen sich zu uns setzten. Erinnerst du dich noch an diese Glücksmomente?

 

Allein, ohne meine Hand stehst du wie eine Statue mitten im Flur. Vergessen, was du vor Minuten wolltest, wissen deine Beine nicht wohin. Ich klopfe mit dem Finger sachte auf das Foto in deiner Blickrichtung.

„Schau Helmut, das sind Isabella und Sara bei uns auf der Terrasse.“ Du strahlst mich an: „Fräulein!“
Ich hake dich ein und wir schlendern die Straße unserer Siedlung entlang. Hier ist mir jeder Gartenzaun vertraut und die Menschen dahinter. Frau Maier arbeitet im Vorgarten und kommt auf ein Schwätzchen an den Zaun.
„Hallo Helmut. Wie gehts ihm denn?“, spricht sie mich an.
„Nicht schlechter als sonst. Ihre Dahlien blühen wunderschön, ein richtiger Blickfang jetzt im Herbst.“
„Ja, das sind Erbstücke meiner Mutter. Helmut hat sie immer bewundert, wo er doch so gerne im Garten gewerkelt hat. Jetzt kann er ja nichts mehr tun. Gell drum haben Sie dieses Jahr keine Gemüsebeete angelegt. Ich sag ja immer zu meinem Mann, die Frau Münsinger hat jetzt anderes zu tun, als sich um den Garten zu kümmern. …“ Während Frau Maier mir mitteilt, was sie ihrem Gatten alles erzählt hat, stehen wir festgewurzelt am Zaun. Ich mühsam lächelnd, du entrückt. Mit den Fingern der rechten Hand kratzt du am Holz vor dir. Du ziehst die Farbe Schicht für Schicht nach unten ab. Bevor du dein Tun auf die anderen Zaunlatten ausweitest, verabschiede ich mich von der Nachbarin. Ich hake mich an deinem Arm ein und nehme dich mit auf unsere Runde, wie jeden Nachmittag. Ein Stück weiter bleibst du stehen und streifst meinen Arm ab, zeigst auf die Böschung und sagst: „Auf …, ja immer …, wiederkomma …,“ Ich schaue in die gleiche Richtung wie du, frage mich, was du siehst. Vor uns sind verschiedene Sträucher. Dein auf auf wird lauter und eindringlicher. Etwas hat deine Aufmerksamkeit erregt. Meine Augen blicken suchend durch das Grün vor uns, ich sehe am Boden einen dicken Ast. Gebrochen beim letzten Sturm. Ich gehe die wenigen Meter bis zum Unterholz und ziehe ihn heraus. Du nimmst mir mit strahlendem Blick das Holz ab, murmelst wieder auf… auf… Ohne zu warten, drehst du dich um und läufst mit großen Schritten den Weg zurück. Am Gartenhaus legst du das Fundstück zu den Holzscheiten für den Winter.

 

Noch vor dem Winter, jedes Jahr im Herbst, wenn sich die Blätter an den Bäumen verfärbten und raschelnd zu Boden fielen, traf sich unsere Familie im Garten zum Holzmachen. Schon früh am Morgen wurden die Meterstücke mit der Wippsäge in handliche Holzscheite geschnitten. Mit der Schubkarre fuhren unsere Söhne die Ladungen an den Rand des Gartens, wo viele fleißige Hände Schicht um Schicht die Scheite auf waagerechten Holzstämmen stapelten. Meist war schon am späten Nachmittag das Brennholz fertig aufgeschichtet. Die ganze Familie setzte sich dann an ein Lagerfeuer, es gab Stockbrot, Würstchen und Kartoffelsalat. Mit dem Rauch zog unser Lachen und das Gemurmel unserer Stimmen in den Himmel.

 

Eben noch voll Tatendrang, wandert dein Blick nach oben in den Himmel. Erinnerst du dich an unsere Lagerfeuer? Dann sinkt dein Kopf nach unten und die Arme hängen kraftlos hinunter. Ich führe dich hinein, ziehe dir die Jacke und die Schuhe aus. Als ich dir ein Stück Marmorkuchen und Milchkaffee auf den Tisch stelle, kommt Bewegung in dich. Ich trinke schwarzen Kaffee und sehe dir zu, wie du den Rand des Kuchens in deine Tasse tunkst. Dann nimmst du die letzten Kuchenkrümel vom Teller mit dem Zeigefinger auf und führst sie zu den Lippen. Nach dieser Anstrengung sinkt deine Stirn auf den Tisch. An den Platz, wo gerade noch dein leerer Teller stand. Ich wecke dich und laufe mit dir zum Sofa im Wohnzimmer, wo du dich auf den Rücken legst. Als ich dich mit einer Decke zudecke bist du bereits eingeschlafen.
Mit einem Roman setze ich mich in den Sessel dir gegenüber. Bin wohl eingenickt und erwache erst, als ich deine ängstliche Stimme höre.

 

 

https://www.youtube.com/watch?v=XU2Aigf5t34

 

 

 

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