Von Matthias Herrmann

Autsch! Okay, ich bin Langschläfer, aber so ruppig braucht mich Leah echt nicht zu wecken! Oder ist sie immer noch sauer wegen des Streits gestern Abend? Sie will wieder in die Kirche eintreten! Nach 20 Jahren zieht es sie wieder zu Weihrauch und Beichtstuhl. Ich fasse es nicht! Nichts für mich: Opium für das Volk! Und dann fragt sie mich, ob ich mit zum Gottesdienst käme. Das wäre doch ein schönes, gemeinsames Erlebnis. Autsch! He, jetzt reicht´s aber, Leah! 

Ich versuche, mich aufzurichten. Aber was ist denn mit unserem Bett passiert? Das ist doch Stroh, das mich hier in den Hintern pikst. Das ist nicht witzig, Leah! Jetzt reißt sie die Tür auf, Sonnenlicht knallt mir ins Gesicht. 

„Los, aufstehen, Zadok! Ich bezahle dich nicht fürs Abhängen!“

Hä? Leah? Zadok? Was ist hier los? Warum trage ich so ein Nachthemd? Und was ist mit meinen Beinen? Ich. Das gibt´s doch nicht! Ich kann sie nicht rühren. Nicht bewegen. Sie sind wie abgestorben. Wie kann das sein: „Hilfe! Hilfe!“ 

„Schlecht geträumt, Zadok. Los!“

Der Grobian zerrt mich hoch, wirft mich wie einen Sack über die Schulter und trottet los. 

„Bis heute Abend, muss das Netz geflickt sein! Und pass auf, dass du nicht wieder so viele Nadeln verbrauchst!“, faltet der Kerl mich zusammen, bevor er mich hier am Kiesstrand eines Sees auf einer Tragbahre absetzt. Ein Netz liegt vor mir, einige Nadeln aus Hühnerknochen, eine Rolle Faden. 

„Was soll das? Hier muss ein Irrtum vorliegen!“ 

Der Typ starrt mich entgeistert an: „Irrtum ist gut. Du machst mich irre. Bist du besoffen, Zadok? Jetzt mache dich an die Netze. Ich muss in die Stadt!“ 

Zum Abschied wirft er mir noch ein Fladenbrot und Honigwaben zu. Dann ist er weg. 

Was ist hier los? Ich bin offenbar in einer anderen Welt gelandet. Und: Ich bin gelähmt. Aber: Bin ich überhaupt wach? Ich kneife mich in die Wange, ziehe an den Haaren. Au! Das ist kein Traum. Ja, Mensch, hatten wir das nicht als Schullektüre? Einer wacht auf, und hat sich in ein Insekt verwandelt? Schreckliche Story fand ich damals. 

Egal, ich muss hier schnellstens verduften. Ob Alptraum, Teleportation oder Ausgeburt eines Dichterhirns! Beine in die Hand nehmen und los! Doch mit los ist nichts! Ich spüre meine Füße nicht, meine Beine sind lahm, hängen so schlapp an mir dran! Ich kann noch so viel aufstehen wollen. Nichts geht! Ich sitze hier an diesem See fest.

Am Ufer liegen Holzkähne, vermutlich Fischerboote. Dort hinten am Seeufer scheinen sich einige Gebäude zu befinden. Die Sonne knallt jetzt richtig. Ich robbe in den Schatten eines Baumes. He, das ist ja eine Palme! Hatten wir die Ägyptenreise nicht gecancelt? Zu gefährlich in diesen Zeiten! 

War etwas im Essen gewesen? Leah und ich haben seit Jahren nicht mehr gekifft oder irgendetwas genommen. Das letzte Mal war auf Urs Party, die Spacecakes vom Buffet. Und das hatte ein böses Ende mit Sturzflug im Bad inklusive Platzwunde. Seitdem hielten wir uns doch von Drogen fern! Mensch, das ergibt keinen Sinn! 

„Onkel Zadok, warum guckst du denn so traurig?“

Ein kleiner, verstrubbelter Junge steht vor mir. Auch er trägt eines dieser Nachthemden. 

„Wer bist du?“

„Hallo! Ich bin dein Neffe Samson. Ist bei dir alles in Ordnung?“, fragt er kurz, um sich dann auf die Honigwaben zu stürzen und sie aufzufuttern. 

„Die sind echt so lecker. Das einzige gute an Barabas!“ 

Ich kombiniere: Barabas ist vermutlich der Typ, der mich hierher verfrachtet hat. 

„Wunderst du dich überhaupt nicht, dass ich heute hier bin?“, fragt Samson mich jetzt. 

„Warum sollte ich mich wundern?“ 

„Du bist heute echt komisch.“ 

„Nein. Nein. Warum sollte ich mich wundern?“, bohre ich nach.

„Sonst um diese Zeit bin ich in der Tora-Schule.“ 

Leute, was ist eine Tora-Schule? 

„Na, wunderst du nicht?“ 

„Okay. Auf einmal geht se uff die Tür, ick wundere mir! Zufrieden?“ 

Der Junge blickt mich forschend an, schüttelt dann den Kopf.

„Die Schule fällt heute aus.“ 

„Das soll vorkommen, Samson.“ 

„Dieser Jesus von Nazareth ist in der Stadt!“ 

Also doch: Leah steckt dahinter! Nach dem Streit gestern Abend hat sie mir etwas in den Wein getan. 

„Alle Leute wollen ihn sehen. Du kennst doch den blinden Krüppel am Stadttor? Der auch nicht laufen kann. So wie du. Der war bei diesem Jesus. Der läuft jetzt! Der kann sehen! Jesus macht jeden gesund.“

Leah, Leah, du hast es echt drauf! 

„Willst du nicht auch zu ihm? Er kann dich gesund machen! Bestimmt!“ 

 

„Und wenn wir in der Synagoge sind, bezahlst du uns?“, fragt einer der vier Tagelöhner, die ich mit Samsons Hilfe angeheuert habe. 

„Keine Sorge! Zum Geldausgeben kommt man als Krüppel nicht. Was glaubst du, wie viele Netze ich schon geflickt habe? Also! Macht ihr euren Job, dann gibt´s die Kohle!“ 

Wow, der Typ glaubt mir. Jetzt heben sie mich hoch, ich klammere mich an der Tragbahre fest und los zuckeln wir. Doch weit kommen wir nicht. Schon verstopfen immer mehr Leute die Gasse. 

Der Junge läuft neben mir. 

„Da hinten in der Synagoge ist er!“

Die Leute strömen von überall zusammen. Auf Krücken. Auf Tragbahren. Blinde tasten sich an den Wänden entlang. Selbst um Aussätzige macht keiner einen Bogen. Alle versuchen sich vorzuarbeiten. Drücken. Schieben. Manche kriechen sogar am Boden zwischen den Beinen hindurch. Dort hinten fliegen die Fäuste. Doch trotz dieses Kampfes, dieses verzweifelten Geschiebes, ist es seltsam still. Kein Geschrei. Kein Geheule. Jeder versucht verbissen, aber schweigsam zu ihm zu kommen. 

Mit der Bahre ist an ein Durchkommen nicht zu denken. Wir stecken fest. Zwar in Sichtweise, aber chancenlos. 

„Los weiter“, treibe ich die vier Träger an. 

„Keine Chance!“ 

Jetzt sehe ich, dass Leute durch die Fenster in die Synagoge klettern und selbst auf dem Dach turnen Kinder herum. Plötzlich muss ich an meinen Sohn denken. Gestern Abend hatten wir noch Wicki geguckt. Wicki, der immer einen genialen Einfall hat. Links die Nase gerieben. Rechts gerieben. Unterstrich. Fingerschnalzen. Sternenregen. Wicki, was würdest du machen, um zu Jesus zu kommen? 

„Vergiss es, Zadok. Das sind Legionen von Krüppeln hier. Kannst dein Geld behalten. Ich bin raus“, verkündet jetzt einer der Träger. 

„He! Warte! Ich habe einen Plan.“ 

Ich mache es. Absurd. Egal. Rechts gerieben. Links gerieben. Unterstrich und schnipp! Und schnipp! Und: Sternenregen! Die Kinder. Dort. Auf dem Dach. Wir müssen da rauf. Und von dort in die Synagoge hinein. Vielleicht durch einen Kamin? Irgendwelche Fenster?

„Los, Leute. Da die Treppe hinauf. Bringt mich auf das Dach!“ 

Die Aussicht auf Erfolg und damit Bezahlung motiviert die Truppe. Von hinten kommen wir über die Außentreppe auf das Dach hinauf. 

Schnell sind die Schindeln abgedeckt, die Decke zerkloppt. Wir blicken auf ein Meer von Köpfen. Alle einer Person zugewandt, die einfach weiterspricht. Aus der Menge zeigen sie jetzt auf uns. Winken. Hinter uns schimpft einer: „Das werdet ihr mir bezahlen. Hier das Dach kaputt machen!“ 

„Los, durch die Öffnung!“

Langsam lassen die vier mich an den Seilen hinab. Trotzdem schaukele ich gefährlich hin und her. Endlich lande ich auf dem Boden. Ich blicke kurz hoch zur Öffnung in der Decke. Dort liegen meine Träger und Samson. Bäuchlings. Starren. Neben mir auf Augenhöhe: Füße, Zehen, Beine, Waden, Knie, Sandalen, Säume. Doch da kniet sich plötzlich einer neben mich auf den Boden, legt mir die Hand auf die Schulter und fragt: „Was möchtest du?“ 

„Ich möchte laufen können.“ 

„Deine Schuld ist dir vergeben.“ 

Okay, nicht schlecht. Hypothek abbezahlt. Steuerschummelei vergessen. Flirt mit der Nachbarin vergeben. Aber wieder laufen können, wäre auch schon etwas. Auch in dieser Welt hier. 

Plötzlich wird die Menge unruhig. Manche tuscheln, grunzen verärgert, scharren mit den Füßen, nörgeln und schütteln den Kopf. Und was macht dieser Jesus jetzt? Steht auf, blickt sich um, wendet sich dann den Meckerköpfen zu: „Was ist leichter? Ihm hier seine Schuld zu vergeben, oder zu sagen: Steh auf. Nimm deine Tragbahre. Und geh nach Hause.“ 

Da fangen die jetzt an zu diskutieren: „Nur Gott allein kann Schuld vergeben! Du lästerst Gott!“ 

Oh, Mann. Das ist schlimmer als mit Leah. Immer debattieren. Widersprechen. Herumstreiten. Ich drücke mich hoch, packe den Jesus am Gewand, will ihn zu mir runterziehen: „He! Könnt ihr das nicht später klären? Können wir hier nicht weitermachen?“ 

Der legt mir die Hand auf die Schulter. 

„Gleich. Gleich geht´s los!“ 

Dann hebt er die Hand. Die Streithähne kapieren das. Schweigen endlich. 

„Um euch zu beweisen, dass mir die Macht gegeben ist, Schuld zu vergeben, sage ich jetzt zu diesem hier: Steh auf. Nimm deine Trage. Und geh nach Hause!“ 

 

Rumms! Stellt euch vor, ihr seid wieder Babys. Ihr könnt nicht laufen. Liegt auf dem Rücken herum. Da packt euch plötzlich jemand – eine Megabockskräftige Superkraft – an eurem Strampelanzug, stellt euch auf die Beine und ihr, ihr könnt auf einmal Trippel-Trappel-Schritte tun. Ohne umzufallen! So stehe ich jetzt, gehe auf diesen Jesus zu. Umarme ihn. Danke, Brudi. Danke! Und die Leute flippen komplett aus. Kein Streit mehr. Nur noch Jubel. Sie packten mich. Werfen mich hoch. Tragen mich auf Händen. Alles brüllt, schreit, jubelt, tanzt jetzt. Wie irre. Die Kollegen und Samson oben auf dem Dach hüpfen herum wie kleine Kinder. Ich werde weitergereicht. Jetzt kann ich laufen und darf es nicht. Wie so ein Kloppo nach dem Gewinn der Champions League! 

 

Irgendwann habe ich endlich wieder festen Boden unter den Füßen, stehe ich auf meinen ureigenen Beinen. Kann laufen, schlendern, sprinten. Oder nur rumstehen. Ich renne zurück zum See, hüpfe im Wasser herum, kraule durch die Wellen. Erschöpft und ziemlich glücklich lasse ich mich am Ufer fallen. Schließ die Augen, spüre die warme Sonne auf meinen Beinen und plötzlich Lippen auf meiner Wange. Ich grunze zufrieden.

„Hmm. Was ist los?“

„Ich gehe jetzt in die Kirche“, sagt Leah.

„Warte. Ich komme mit!“

 

9.821 – V2