Von Susanne Beck-Flemming

 

Als Anuk-Aimée erwachte, spürte sie sofort, dass etwas nicht stimmte. Wieder einmal hatte sich ihr Bewusstsein oder ihre Seele, wie man es auch nennen mag, einen neuen Körper ausgesucht, mit dem sie nun zurechtkommen musste.

Sie schluckte schwer. Es war bereits das dritte Mal in dieser Woche, dass sie in einem anderen Körper aufwachte. Sie schloss die Augen, atmete tief durch und erinnerte sich an die erste Regel der neuen Welt: Panik hilft niemandem und macht alles nur noch schlimmer. Sie zählte langsam bis 18, ihre Zahl, danach war sie wieder ok.

Anuk-Aimée stand auf, betrachtete sich im Spiegel und begann das Beste aus ihrer neuen Situation zu machen. Sie hatte gelernt, sich schnell anzupassen, Fähigkeiten zu nutzen, die sie zuvor nicht besessen hatte und jeden Tag als ein neues Abenteuer zu betrachten. Das Leben als Spiel anzusehen war ihre Methode, um mit dem ganzen Irrsinn zurecht zu kommen.

Die ständigen Wechsel zehrten an ihr, wie an allen anderen auch. Das Schlimmste war, dass mit jedem Körperwechsel die Erinnerungen an das ursprüngliche Ich immer mehr und mehr verblassten. Für diejenigen wie Anuk-Aimée, die zahlreiche Wechsel durchlebt hatten, wurde die Erinnerung an die ursprüngliche Identität zu einem fernen Echo, das mit jedem neuen Erwachen leiser wurde.

Sich im Spiegel zu betrachten, der Schreck, die Fremdheit, die Einsamkeit, das bloße „Ich will nicht mehr“, das sich manchmal, aber nur manchmal, ganz selten, abwechselt mit einem „zu irgendwas ist alles gut“ war ein trauriges Symbol dieser neuen Ära.

Die Welt, in der Anuk-Aimée lebte, war von einem Tag auf den anderen in ein Chaos gestürzt worden, als das Bewusstsein der Menschen plötzlich begann unkontrolliert zwischen Körpern zu wechseln. Erst waren es nur vereinzelte Meldungen, doch es ging rasend schnell und mittlerweile ist das die neue Realität.

Identitätsverlust, eine Epidemie des Suizids und tiefgreifende soziale, politische Krisen hatten die Grundfeste der menschlichen Zivilisation so sehr erschüttert, dass es nur schwer zu ertragen war. Die Wirtschaft lag in Trümmern. Familienbande, Freundschaften und Beziehungen wurden zerrüttet, da niemand mehr sicher sein konnte, wer am nächsten Tag in der Haut des Anderen steckte. Zahlreiche Unfälle, Mord und Totschlag waren allgegenwärtig. Die Gesellschaft stand am Rande des Kollapses, unfähig eine Lösung zu finden. In dieser erschreckenden Zukunft waren die Menschen gefangen in einem Zyklus aus Chaos und Unsicherheit, aus Zusammenbruch und „Überlebenwollen“.

 

Vielleicht war es auch so etwas wie „Man erntet, was man sät“, nur WAS wurde gesät, dass so eine Ernte dabei herauskommt?

Inmitten dieser Dystopie gab es auch Momente, die eine gewisse Komik in das Dunkel brachten. Ein solches Ereignis war die Geschichte vom „Chor der letzten Souffleure“, ursprünglich eine Gruppe von Cyber-Kriminellen, die es geschafft hatten, ein beträchtliches Vermögen anzuhäufen. Dank ihnen hatten die meisten noch einen funktionierenden Internetzugang, so dass die Aufführungen des Chores zu einem viralen Phänomen wurden, das weit über die Grenzen ihrer unmittelbaren Umgebung hinausging.

Da Geld inzwischen nicht mehr so viel bedeutete, nutzten sie ihre Fähigkeiten und  Bekanntheit nun für ihre Events, um Menschen zusammenzubringen, aufzurichten und zu forschen, indem sie unerwartete Chor-Aufführungen an öffentlichen Plätzen organisierten.

Ihr berühmtestes Stück war „Tiramisu“, eine Ode an die Süßspeise, die symbolisch für die Schichten der menschlichen Seele stand und wie diese, trotz aller Widrigkeiten, süß und reichhaltig bleiben konnte. Ihre Performance dazu war der „Tanz der Irrlichter“, ein hypnotischer, ausgelassener, rhythmischer Trommelgesang mit einem speziellen Kreistanz, der die Menschen für kurze Zeit alle Pein vergessen und Hoffnung aufkeimen ließ.

„Tiramisu“, ein Lied das zur Hymne der Hoffnung wurde, ein Akt des Trotzes gegen die Aufgabe der Welt. Eine kreative und emotionale Kraft, die aus den Flashmob-Aufführungen und dem gemeinsamen Singen entsteht.

T – Trau dich, gibt nicht auf und bleibe liegen, am Ende wird die Menschheit siegen!

I – Identität, mal hier, mal dort, in neuer Form, am neuem Ort. Als flinker Wechselbalg geboren, schreie es hinaus: „Wir sind noch lange nicht verloren!“

R – Rebellen sind wir heute. Früher ganz normale Leute. Wir fragen Wie, Warum, Weshalb, Wohin, was soll der stete Neubeginn?

A – Abenteuer, liegen uns zu Füßen, machen wir das Beste aus den Schicksals Grüßen!

M – Mutig, werden wir das alles meistern, gerade stehen wie ein Baum im Wind, unsere Wurzeln tief verankern, so dass wir bleiben, wer wir sind!

I – Improvisationstheater, können wir. 1 x 1 = 4

S – Singen wir gemeinsam unsere Lieder, laut und stark und skrupellos, finden wir im Beifall Widerhall. Mutig, frei und grenzenlos!

U – Unerwartet Wandel, webt aus Enden Neubeginn und irgendwann, ja irgendwann, verstehen wir den Sinn!

Anuk-Aimée freute sich schon lange auf diesen Tag, an dem sie das erste Mal live bei der neuesten Chor-Aufführung dabei sein konnte. In der Hoffnung, zumindest für eine kurze Zeit dem düsteren Alltag zu entfliehen, machte sie sich auf den Weg zum zentralen Platz, wo der Auftritt stattfinden sollte. Das Leben hatte in der letzten Zeit wenig zu lachen gegeben, doch heute fühlte sie eine ungewohnte Vorfreude in sich aufkeimen.

Als sie ankam, war der Platz bereits voller Menschen, die alle begierig auf das Spektakel warteten. Die Luft war erfüllt von einer gespannten Erwartung, als die ersten Töne von „Tiramisu“ erklangen. Doch ehe die Aufführung ihren Höhepunkt erreichen konnte, wurden die Anwesenden Zeugen eines Phänomens, das die Grenzen des bisher Erlebten abermals sprengte.

Plötzlich wurde Anuk-Aimée erneut von einem Körperwechsel erfasst. Doch diesmal fand sie sich nicht in einem anderen Menschen wieder, sondern – durch eine bizarre Wendung der Ereignisse, die selbst in dieser chaotischen Welt unerhört war – im Körper eines Alpakas, das zufällig am Rande des Platzes graste.

Als Anuk-Aimée in den Körper des Alpakas wechselte, reagierte sie instinktiv mit einem lauten, anhaltenden Schrei der Verwirrung und des Schocks. Dieser menschliche Ausdruck von Überraschung fand auf unerwartete Weise seinen Weg durch das Alpaka, das den Schrei in einer Weise weiterschrie, die für ein Alpaka absolut untypisch war.

Die Menschenmenge, die zunächst nichtsahnend der Musik lauschte, wurde auf die  gleichzeitigen, ungewöhnlichen Laute von Anuk-Aimée und dem Alpaka aufmerksam gemacht. Der Schrei, der sowohl menschliche Emotion als auch tierische Töne vermischte, ließ die Menge verstummen und sorgte für einen Moment der Verwirrung, bevor das Erstaunen einsetzte.

 

Als das Alpaka dann begann, sich im Takt der Musik zu bewegen, war es für die Anwesenden klar, dass Anouk-Aimeés Bewusstsein auf das Tier übergegangen sein musste. Ihr ungewöhnlicher Tanz, eine Mischung aus der Anmut eines Alpakas und dem bewussten Rhythmusgefühl eines Menschen, wurde schnell zum Mittelpunkt der Aufführung, denn die Menge brach in schallendes Gelächter aus.

Ein surreales, doch erheiterndes Bild entstand.

 

In den Wochen vor der Aufführung hatte es schon vereinzelte Warnungen gegeben, flüsternde Gerüchte, die besagten, dass nun auch Mensch und Tier in den Strudel der unkontrollierbaren Körperwechsel gezogen werden könnten – eine neue, beunruhigende Wendung in der bereits chaotischen Realität.

Dieser unerwartete Vorfall, so absurd und unvorhergesehen er auch war, wurde zu einem mächtigen Symbol des Widerstands.

Es war eine lebendige Erinnerung daran, dass trotz der Dunkelheit, die die Welt umgab, inmitten von Unordnung und Verwirrung, inmitten der Verluste und des Schmerzes doch auch Freude und Lachen immer noch möglich waren. Es wurde zu einer Rebellion gegen die Verzweiflung, ein Beweis dafür, dass das Leben, in welcher Form auch immer, weiterging und die Hoffnung nie sterben durfte.

Die Menschheit mag durch unzählige Herausforderungen gegangen sein und noch gehen, ihre Identität mag verschwommen und ihre Zukunft mehr als ungewiss sein, doch die Fähigkeit, Freude in der Dunkelheit zu finden, bleibt unverändert.

Anuk-Aimée hatte gelernt, dass es nicht die äußere Hülle war, die zählte, sondern die Fähigkeit, sich anzupassen und die Hoffnung zu bewahren, selbst wenn das Universum beschließt, die Regeln umzuschreiben und alles gegen uns zu werfen, und uns zu verschlingen droht.

 

Der Chor bewies sein Talent erneut, indem er ein improvisiertes Lied, mit einem Hauch von Wahnsinn darbot, dessen Fazit es war, nicht mehr nur zu heulen, sondern die Ereignisse anzunehmen und die Vision, etwas daraus zu machen.

 

Der neue Leitspruch lautet: „Welt, biet an die Geschenke  – ALPAKA“.

 

 

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