von Monika Heil
Sogar der Kultusminister ist anwesend. Mehr als einhundert Gäste füllen den Festsaal im Frankfurter Rathaus. Und alle sind nur seinetwegen gekommen – Professor Alvar Anderson. Die städtische Kulturbeauftragte führt ihn zu seinem Platz in der ersten Reihe, dem Ehrenplatz für den ausländischen Gast. Mit einem kurzen Nicken und einem warmen Lächeln grüßt er seine Nachbarn rechts und links, den finnischen Botschafter und die Vorsitzende des Architektenverbandes. Beide sind noch recht jung und offensichtlich voll Bewunderung für den großen, schmalen Herrn im dunklen Anzug, dessen dichtes, weißes Haar die natürliche Bräune seiner Haut hervorhebt. Er hält die Hände entspannt über den Silberknauf seines Stockes aus edlem, schwarzem Holz und schaut erwartungsvoll zum blumengeschmückten Podium, wo der Minister gerade ans Pult tritt. Sofort herrscht Stille im historischen Saal des alten Rathauses.
„Hochverehrter Herr Professor, sehr verehrte Damen, meine Herren. Es ist mir eine große Ehre …“
Der Professor lauscht den einleitenden Worten, ohne sie innerlich aufzunehmen. Obwohl er sicher ist, dass er auf Außenstehende gelassen wirkt, fühlt er sich unbehaglich. Trotz jahrelanger Routine mag er es noch immer nicht, im Fokus der Öffentlichkeit zu stehen.
„Wo liegt der Schlüssel zu seinem Erfolg?“
Eine Frage, deren exakte Antwort nur der Professor für Architektur und Bauwesen kennt. Der Redner versucht dennoch, eine eigene Erklärung zu finden.
Der alte Herr schließt die Augen. Sofort sieht er sich selbst im Alter von zehn oder elf Jahren mit kurzen Hosen und klobigen Schuhen aufgeregt draußen am Zaun seines Elternhauses stehen. Unbemerkt hatte er sich an jenem Tag von der Mutter entfernt, um sein erstes großes Abenteuer zu erleben. Wäre er damals umgekehrt, weder die Eltern noch irgend jemand anderes auf der Welt hätte etwas von den aufregenden Plänen erfahren. Sein Gesicht strahlte, sein Herz pochte heftig. Er zögerte nur kurz, stand fest auf seinen stämmigen Beinen. Die braunen Hosen und das karierte Hemd waren nicht mehr ganz sauber. Der Kinderrucksack aus Jute enthielt lediglich Brot, Leitungswasser und etwas Kleingeld für den Bus.
Mit seinen heute knapp achtzig Jahren erinnert er sich an jede Einzelheit, spürt dem Gefühl von Trotz und gespannter Erregung noch einmal nach. Er sieht sich den schmalen Weg zur Hauptstraße laufen, um kurz darauf das Ufer eines Sees zu erreichen. Den konnte er nur mit einem Boot überqueren, denn für die meisten finnischen Seen war und ist dies die einzige Verbindung zum jenseitigen Ufer.
Während Alvar auf den Fährmann wartete, schaute er sich aufmerksam um. Er projizierte seine Umgebung auf eine innere Fotoplatte, die er in Zukunft jederzeit würde abrufen können. Der Hof, von der Mutter praktisch allein bewirtschaftet, da der Vater oft nur am Wochenende nach Hause kam, das rot gestrichene Holzhaus, das helle Grün der Birken, das gebrochene Weiß der Stämme und der braune Farbfleck „Hund“. Jedes Detail prägte er sich ein. Seinen großen Wunsch, Häuser zu bauen, Heimat für andere zu schaffen, konnte er nur erreichen, wenn er diese wunderbare kleine Welt, die zu verlassen er im Begriff war, im Herzen festhielt.
„Der Schlüssel liegt auf dem Hof meiner Eltern, Herr Minister“, hätte er dem Laudator beinahe zugerufen. Doch der Redner hält sich an den scheinbar chronologischen Ablauf der Biografie.
„Früh verließ er das Elternhaus – jung und unerfahren.“
Obwohl der Blick des Professors amüsiert wirkt, schüttelt er fast unmerklich den Kopf. Er lehnt sich zurück und seine Gedanken verlassen erneut den Festsaal.
Und schon steht er wieder am hölzernen Rumpf der kleinen Fähre, sieht in das faltige, wettergegerbte Gesicht des alten Bootsmannes, dessen Augen die Erfahrungen eines langen Lebens widerspiegelten, auch wenn sich seine kleine Welt äußerlich kaum veränderte. Wandel ist Veränderung, hatte Alvar irgendwo gelesen und für ihn war die Zeit der Veränderung an jenem Tag gekommen, glaubte er mit kindlicher Zuversicht.
Nachdem Alvar wieder festen Boden unter seinen Füßen spürte, rannte er zur nahen Haltestelle. Dort stand bereits der Bus nach Helsinki zur Abfahrt bereit. Der Junge hielt das Geld für die einstündige Fahrt in seiner kleinen, verschwitzten Hand. Er versuchte, seine Aufgeregtheit hinter einer forschen Miene zu verbergen. Wortlos legte er die Münzen auf die Ablage und erhielt seinen Fahrschein. Erleichtert atmete er auf und verzog sich eilig in die letzte Bankreihe.
Der Professor schmunzelt, als ihm bewusst wird, dass er heute in der ersten Reihe sitzt. Er fängt einen irritierten Blick des Laudators auf, dessen Rede im Augenblick überhaupt nicht heiter, sondern nüchtern und langweilig klingt.
„Steinig war sein Weg zum Erfolg. Lange Studienjahre folgten …“
Die Aufmerksamkeit des alten Herrn lässt sofort wieder nach. Er kennt alle Stationen seines Lebens, jede Veränderung seiner An- und Einsichten und den damit einher gehenden Wandel seiner Überzeugungen.
Der Bus fuhr ab. Draußen zog die Sommerlandschaft an Alvar vorbei. Satt-grüne Wiesen wurden unterbrochen vom Blau der zahlreichen Seen, die wiederum von schlanken, grünen Tannen eingesäumt waren. Rote und gelbe Holzhäuser leuchteten hier und da. Stark besiedelt war die Gegend nicht. Das änderte sich erst, als er die Hauptstadt erreicht hatte.
„Farben, Formen und Kontraste prägten sein gesamtes Leben, ein Leben im Wandel der Zeiten, der Abhängigkeit von wirtschaftlichen und politischen Notwendigkeiten, der wechselnden Einflüsse diverser Modeströmungen.“
Professor Anderson heuchelt Interesse.
Helsinki. Der Vater arbeitete dort in einer Fischfabrik. Sollte er ihn aufsuchen und sich verabschieden, bevor er mit einem der großen Schiffe in die Welt hinaus fuhr? Alvars pochendes Herz sagte ´ja`, sein kindlicher Verstand sagte ´nein`.
Der Bus erreichte den Endhaltepunkt am Hafen und spuckte dort seine Fracht aus, Alvar als letzten. Aufgeregt und zugleich stolz auf seinen Wagemut, saugte er das Geschehen um sich herum mit all seinen Sinnen ein. Vor ihm lag der Marktplatz. Die hellblaue Fassade des Stadthauses konkurrierte mit dem dunklen Ton des Obelisken. Dazwischen pulsierte das bunte Treiben des Wochenmarktes, der einen ganz eigenen Charme ausstrahlte. Obst, Gemüse, Blumen, unerschöpfliche Vielfalt. Gewaltig wirkte die Architektur des Präsidentenpalais auf den Jungen. Alvar reckte die Nase hoch in die Luft. Er erschnupperte Fisch und den Geruch von Salz und Meer. Das erinnerte ihn sofort wieder an seinen Vater. Es war nicht weit bis zur Fischfabrik.
„Das kulturelle Erbe der Stadt Helsinki prägte seine Liebe zur Architektur.“
„Pah, Blumen, Fisch, Salz und Meer – das ist es, was mich mit Helsinki verbindet“, führt der Professor einen stummen Dialog mit dem Minister.
Der junge Alvar verlor jegliches Zeitgefühl. Der Wind blies eine Gänsehaut auf seine kurzbehosten Beine. Eine Auto-Fähre hatte am angrenzenden Hafen festgemacht. Ihr riesiges Maul stand weit aufgerissen und spie Autos, Lastwagen und Menschen aus. Das Gewimmel ängstigte den sonst so forschen Jungen nun doch ein wenig. Autos hupten, Reifen quietschten, Lastwagenmotoren dröhnten.
So fand ihn der Vater, der ihn eiligst in den nächsten Bus nach Hause verfrachtete. Damals hatte er nicht gefragt, woher der Vater von seinem Ausflug wusste. Jetzt und hier in diesem deutschen Rathaussaal erstaunt es ihn plötzlich. Telefon gab es auf dem Hof der Mutter nicht, das Handy war zum damaligen Zeitpunkt noch gar nicht erfunden worden. Was hat der Minister vorhin vom Wandel gesagt?, überlegt er und denkt: Das Diktat der Technik hat er vergessen zu erwähnen.
Wie auch immer. Das Zusammentreffen mit dem Vater beendete seinen Ausreißversuch, der ihm später von der besorgten Mutter so viel Ärger einbrachte, dass es zehn weitere Jahre dauern sollte, bis er einen zweiten Anlauf unternahm. Dann verließ er seine Heimat endgültig. Er studierte, sammelte Auslandserfahrungen und arbeitete hart, um die Erfolge zu erzielen, die ihm letztlich auch diesen Abend bescherten, die Ehrung für sein Lebenswerk.
Und dennoch war es eben jener Tag, der Alvar Anderson unvergesslich bleiben sollte. Sein wacher Verstand und seine Abenteuerlust hatten ihm damals den Mut für dieses große Unternehmen gegeben. Der Ausflug des Zehnjährigen war aufregender gewesen, als alle Reisen quer durch Europa in späteren Jahren. Da lag der Schlüssel für seinen Erfolg. An jenem Tag vollzog sich der Wandel vom Träumer zum Realisten.
„So begreifen wir die Persönlichkeit eines großen Künstlers und eines überzeugten Europäers, dessen unglaubliche Erfolge heute noch einmal ins Rampenlicht gerückt werden sollen“, schließt der Festredner seine Laudatio.
Professor Alvar Anderson ist wieder achtzig Jahre alt. Er versucht, sich nicht anmerken zu lassen, dass ihm das Aufstehen schwerfällt. Er erhebt sich langsam und verbeugt sich lächelnd in den Applaus der Zuhörer, die offenbar glauben, ihn, sein Werk und seine Persönlichkeit tatsächlich begriffen zu haben.
Version 2