von Jochen Ruscheweyh

Glossys Schicksal war mit ihrer Herkunft verknüpft.

Davon war sie fest überzeugt.

Wäre sie in einer Manufaktur hergestellt worden oder in einem kleinen pittoresken Künstleratelier, hätte man ihr sicherlich mehr Respekt und Behutsamkeit entgegengebracht.

Oder wenn sie wenigstens aus Glas und von einem beeinträchtigten Mundbläser in einer Woche ostwestfälischen Behindertenwerk gefertigt worden wäre. Bei jemandem mit Handycap gab es immer diesen moralischen Aspekt, ein Schämen, wenn man solche Dinge beschädigte, da sahen die Leute sich vor.

Dazu kam, dass ihr Name weder Programm noch Omen war: Glossy stammte aus einer Montagsproduktion und hatte schon einen Teil ihrer Oberflächenversiegelung verloren, als sie maschinell in einen 32er Karton für einen Discounter einsortiert wurde.

Sie war also ebenso wenig glossy, wie Roberto blanco, Sam straight oder Helmut ein Kohl.

Aber es stand halt auf der Packung.

 

Nun verhält es sich so, dass Christbaumkugeln grundsätzlich mit einem hohen Grad an Intelligenz ausgestattet sind. Mit einem so hohen, dass schon in den 60er Jahren die Summe der synaptischen Verknüpfungen aller westdeutschen Kugeln ein Vierfaches der Bewohner des Landes erreicht hatte. Aber wer benchmarkt schon Weihnachtsschmuck?

 

Einen Schritt zurück: Sie sind also sehr intelligent, können aber trotzdem weder untereinander noch mit ihrer Umwelt kommunizieren. Außerdem fehlt ihnen jegliche Mobilität.

Bildlich also mit einem Einstein mit Stubenarrest zu vergleichen.

Daher blieb Glossy nichts anderes übrig, als ihr Schicksal stumm zu ertragen.

 

Und das wiederholte sich Jahr für Jahr mit fegefeuerähnlicher Beständigkeit:

Der Baum, an dem Glossy hing, wurde abgeschmückt und sie selbst dabei übersehen.

Viele Leute packten die Anfang Januar eher seekrankheitsgrünen Nadelhölzer in einen Bettbezug, brachten sie auf die Straße und überließen sie ihrem Schicksal.

Oder der örtlichen Müllabfuhr.

Es dauerte meist nicht lange, und ein Passant entdeckte Glossy zwischen den Zweigen und war fest davon überzeugt, dass genau diese Kugel im heimischen Weihnachtsschmuckkarton fehlte.

Was natürlich nicht stimmte, sondern allein an Glossys Unscheinbarkeit und Universalität (sie hasste dieses Wort, und war sich nebenbei sicher, dass es nicht im Duden zu finden war) lag.

Die periodische Bestätigung, austauschbar und das Gegenteil von individuell zu sein, deprimierte Glossy beinahe ebenso sehr wie die Gewissheit, auf diese Weise zur Unsterblichkeit verdammt zu sein.

Denn eine Glaskugel konnte zerspringen, ein Strohstern auseinanderfallen.

Aber bei einem runden Etwas aus Polyvinylchlorid bräuchte es schon einen mittelschweren Kraftwagen, der den Baum am Straßenrand übersähe und so günstig darüber führe, dass der Regen Glossys Überreste in die Kanalisation, in die Emscher, ins Meer und schließlich in den mit aggressiven Säften gefüllten Magen eines Killerwals spülte.

Wenn sie das Jahr über in einem Karton oder einer Tüte auf einem dunklen Dachboden lag, wünschte sie sich oft, sie wäre keine Christbaum- sondern eine Zeitkugel, mit der sich die Menschen durch die Jahrhunderte und die Dimension bewegen könnten. Und vielleicht käme jemand dann auch mal auf die Idee, sie zu besteigen und Jesus entgegenzureisen und mit ihm diesen dummen Brauch, Kugeln in Bäume zu hängen, zu diskutieren.

Transformation war das Zauberwort. Aber wie sollte die vonstatten gehen?

Die berühmte Berührung mit dem Zauberstab schied wohl aus, denn Glossy hatte mitbekommen, dass sich moderne Hexen eher in Ausschüssen, Vorstands-Etagen, Fitnesscentern oder beim Speed-Dating rumtrieben als in Proletarier-Wohnzimmern, um einer Kugel wie Glossy den Übergang in eine neue Daseinsebene zu ermöglichen.

Oh, wie sehr sie es sich wünschte! Und wenn sie es sich ausmalte, war es fast zum Greifen nah: ihre funkelnde Oberfläche, wenn sie gen Jahr Null raste, elegant, galant und endlich zu einer wirklichen Bestimmung  … äh, bestimmt.

 

Dementsprechend düsterer Laune, dass ihre Vorstellung ein weiteres Mal vor ihrer nicht vorhandenen Nase zerplatzte, ließ sich Glossy dann auch in diesem Jahr, dem mittlerweile achten der Amtszeit von Angela Merkel – Glossy hatte mitgezählt und Angela ganz sicher auch -, an einen weiteren Baum hängen und allerhand seltsame Zwischentöne in Stille Nacht über sich ergehen, ehe sich der feine Nebel aus verbranntem Spiritus und Fonduefett als unsichtbarer Belag über alles Physische im Raum legte. Wobei ihr wieder einmal auffiel, dass, sie, wenn sie düsterer Laune war, in noch längeren und verschachtelteren Sätzen dachte als sonst.

Außerdem wusste Glossy, was folgen würde und es langweilte und ärgerte sie: Eine Geschenkpapier-Aufreißorgie und das gegenseitige verlogene Versichern, das schönste Geschenk aller bisherigen Weihnachten erhalten zu haben.

Hätte sie gekonnt, dann hätte sie sich abgewendet. Aber Kugeln besitzen nun mal keine Vorder- oder Rückseite und, wie bereits erwähnt, war Glossy wie der übrige Weihnachtsschmuck nicht mobil.

Und zusätzlich ging ihr der hektische Stroboskop-Modus der Baumbeleuchtung auf die Nerven. Denn auch wenn sie sich nicht mit dem Weihnachtsgedanken infizieren, nein, identifizieren konnte, bestand der kleinste gemeinsame Nenner mit den anderen Kugeln sicher darin, dass sie hier schließlich alle symbolisch für eine Zeit der Entschleunigung hingen und nicht zum Feiertags-Rave.

Völlig unerwartet rief der kleine dicke Junge, der ganz bestimmt Außenseiter in seiner Klasse war und schon den kompletten Abend mit seinen hässlichen Pantoffeln unter dem Tisch herumgezappelt hatte: „Diashow, Diashow!“

Bis seine ältere Schwester, die so schrecklich schielte, dass Glossy sich fragte, wie sie sich wohl schminkte, bzw. welches Auge zuerst, – oh, Glossy konnte so zynisch sein, wenn sie mit der Gesamtsituation im kalten Krieg lag, das wusste sie selbst – auf jeden Fall bis diese ältere Schwester ebenfalls in den Diashow-Choral einstieg und die Mutter sagte: „Komm, Klaus, jetzt lass dich nicht wieder so lange bitten!“

Glossy beobachtete, wie ein schelmisches Grinsen auf das Gesicht des Vaters trat, der zu allem Überfluss sein spärliches Haar wohl nicht gewaschen hatte, da der Schulterbereich seines Shetland-Pullunders mit weißen Flöckchen übersät war, und es sich dabei sicherlich nicht um Schnee handelte.

„Also gut, Familie, ihr habt mich überredet.“

Es wurde eine lange Nacht, denn Klaus begann zwar nicht bei Adam und Eva, aber nur kurz später, nämlich in dem Jahr, in dem Glossy  aus der Fabrik gekommen war.

Je mehr Dias folgten, desto stärker spürte Glossy plötzlich eine tiefe Verbundenheit zu diesen, ihr eigentlich unbekannten Menschen, die nicht nur braune Cordhosen trugen, sondern auch Frisuren, die Glossy so noch nicht kannte, aber allesamt jenseits von modisch lagen. Vielleicht, überlegte sie, hatte es etwas damit zu tun, dass sie von den anderen Familien vorher nicht mehr mitbekommen hatte als oberflächliche Gespräche und die Erkenntnis, dass diese einander nicht zuhörten. Hier war es anders. Wenn jemand sprach, lauschten die anderen bedächtig, machten einander Komplimente und erinnerten sich gegenseitig an kleine Anekdoten, die sich im Laufe der Jahre zugetragen hatten. Besonders die ältere Schwester ging so fürsorglich auf ihren Bruder ein, dass es Glossy plötzlich ganz warm im Inneren wurde. Sie bündelte noch einmal all ihre Imaginationskraft. Und als der blondgelockte Teenie mit dem Silberblick aufstand und auf den Baum zuging, da wusste Glossy mit einem Mal, dass, wenn das Mädchen sie berührte, es ganz sicher der magical touch, die Zauberstabsache, die Transformation wäre.

Das Mädchen streckte die Hand aus, schob einen Tannenzweig zur Seite, einen weiteren und noch einen. Glossy konnte nicht genau sagen, ob sie sie oder den muffigen Bergwiesenheu-Stern neben ihr anschaute. Aber dann sagte das Mädchen nur: „Alex, wusstest du eigentlich, dass man immer Elvis dran hat, wenn man mit zwei Telefonen gleichzeitig telefoniert?“ und pflückte sich einen Zuckerperlenkrapfen oberhalb von Glossy.

Wenn Weihnachtskugeln Amokläufe machen könnten, dann wäre es jetzt eine gute Gelegenheit, dachte Glossy. Oder Selbstmord. Aber wie zur Hölle beging eine Kugel Suizid? Sich selbst durch Pi teilen?

Plötzlich stand Klaus auf, nahm Ines Hand und führte sie zum Baum. „Hase“, begann er, „ich weiß ja, dass wir uns nichts schenken, aber in diesem Jahr, muss ich einfach eine Ausnahme machen. Ich kann dir zwar nicht die Sterne vom Himmel holen, aber immerhin die schönste Kugel vom Baum!“ Wie das Mädchen teilte er die Zweige in Glossys Umgebung.

Ein neuer Hoffnungsschimmer.

So intensiv wie nie zuvor stellte sie sich vor, wie Klaus, sie, Glossy, vom Baum abnähme und an Ines linkem Ohrring festmachte. Ein gigantisches Schmatzen würde entstehen und dann würden Klaus und Ines in Glossy hineingesogen, die selbst auf die fünfzigfache Größe angewachsen und von einem Funkenregen umgeben wäre.

„Vergiss es, du Amateur!“

Wer sprach da? Jedenfalls nicht Klaus.

„Du wirst genauso wenig eine Zeitkugel wie wir andern. Und außerdem zieht Klaus diese Nummer jedes Weihnachten mit Ines ab, obwohl er seit Jahren die Brünette aus dem Versand seiner Firma bumst.“

Ihr kam ein Verdacht. Sollten Weihnachtskugeln doch …?

„Schon immer“, antwortete die Stimme.

„Und warum kann ich dann erst jetzt mit dir kommunizieren?“

„Deine Zeit war noch nicht da. Hör zu, ich bin Jean-Luc, mundgeblasen in einer Stätte der Association des handicapés physiques südlich von Paris, ich hab an diesem Baum das Sagen und bin außerdem deine Aufklärung aus deiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Schräg über dir hängt Kotte, ein IKEA-Ladenhüter, aber mit messerscharfem Verstand.“

„God kväll!“, kam es von oberhalb Glossy.

„Und jetzt?“, fragte Glossy, „ich meine, wie ist der Plan, was ist unsere Bestimmung?“

„Wir hacken den Großrechner in Jülich“, gab Jean-Luc zurück.

„Und warum?“

„Um unsere intellektuelle Neugierde zu befriedigen. Oder von mir aus auch, weil wir es können! Oder hast du einen besseren Plan?“

„Nein.“

„Na also.“