Von Ursula Riedinger

Ich erinnere mich noch genau, wann mich die Nachricht erreichte und was ich gerade tat. Es war der Morgen des 1. September und ich hatte mit einem Palmwedel den Sand aus meiner Hütte gewischt. Ich wollte mich gerade aufmachen, um im Ort etwas frischen Fisch, Früchte und etwas Taro zu kaufen. Da sah ich Pierrot auf seinem altersschwachen Fahrrad über den Sand rutschen. Der Hilfspostbote von Mataura strahlte wie immer, wenn er etwas auszuhändigen hatte. Er wedelte mit einem Papier vor meiner Nase herum, bevor sein Rad zum Stehen gekommen war. „Mademoiselle Amandine, für Sie, ein Brief, aus Frankreich!“

Pierrot reichte mir den eingeschriebenen Brief und zog ein zerfleddertes Heft aus seiner Uniformjacke. Als ich unterschrieben hatte, blieb er stehen und starrte auf den Umschlag in meiner Hand. Das konnte ihm so passen. Als ich keine Anstalten machte, den Brief zu öffnen, schwang er sich wieder auf sein Rad und verschwand mit einem Winken durch den Palmenhain. Ich liess mich auf die Bank vor meiner Hütte fallen und riss den Brief auf. Von Frédéric. Der Brief war kurz und ohne Anrede: Wie abgemacht habe ich deine Post entgegengenommen. Gratuliere, du hast 1 Million € gewonnen. Was willst du tun? F.

Wie erschlagen blieb ich sitzen. Daran hatte ich nicht mehr gedacht. Eine Million Euro, das komplizierte mein Leben, gerade wo ich es wieder im Griff hatte. Eine Stunde später machte ich mich doch noch auf nach Mataura. Mit meiner Seelenruhe war es jedoch vorbei. Ich hätte den Brief gar nicht entgegennehmen sollen. Entgegen meinen Gewohnheiten setzte ich mich in die Bar Le Poisson Volant und bestellte einen Pastis. Nach und nach ging ich im Kopf alle Möglichkeiten durch, was ich mit dem Geld machen könnte. Das Wichtigste war, dass die Insel nicht erfuhr, dass ich das Geld gewonnen hatte. Natürlich würde der französische Staat seinen Anteil davon einfordern. Sollte er. Ich könnte das Geld der Gemeinde Mataura zukommen lassen, natürlich mit der Zusicherung absoluten Stillschweigens. Aber so etwas funktionierte nicht, nirgends auf der Welt und schon gar nicht in Polynesien. Ich wollte das Geld auf eine andere Art loswerden. Am Nachmittag kehrte ich zurück zu meiner Hütte, ohne dass ich eine gescheite Lösung gefunden hatte.

Dann wusste ich es: Ich musste Joséphine treffen, die einzige wirkliche Freundin, die ich hier hatte. Niemand hatte so viele Ideen wie Joséphine. Meine Freundin hat in Paris Philosophie und Geschichte studiert, ist dann auf ihre Insel zurückgekehrt, hat geheiratet und sieben Kinder geboren. Jetzt arbeitet sie täglich ein paar Stunden in der winzigen Agentur der Banque de Polynésie, um etwas zum Unterhalt ihres phlegmatischen Mannes und ihrer Kinder beizusteuern. Ich habe Joséphine Oopa kennengelernt, als ich mir hier ein Konto einrichteten musste. Nach der umständlichen Kontoeröffnung trafen wir uns anschliessend zu einem Kaffee in der Bar. Wir waren uns auf Anhieb sympathisch gewesen, stellten bald fest, dass ich nur zwei Jahre jünger war als sie. Joséphine war einverstanden mich am nächsten Tag zu treffen.

Bevor ich zur Bar ging, machte ich zuerst einen Abstecher auf der Poststelle. Der Postbeamte Maurice sass vornübergebeugt hinter seinem Schalter und las die Dépêche de Polynésie. Er trug vorschriftsgemäss seine blaue Uniform, aber die Krawatte sass locker um seinen Hals. Als ich eintrat, setzte er sich gerade auf und lächelte mich breit an. Ich händigte ihm meinen Brief mit der Bitte, ihn so rasch wie möglich zu verschicken.

„Wir tun unser Bestes, Mademoiselle Amandine, aber Sie wissen, dass es drei Wochen dauern kann, bis Ihr Brief in Frankreich ankommt.“

Als ich Le Poisson Volant betrat, sass Joséphine bereits an der Bar. Sie ist eine stämmige Frau von 44 Jahren, hübsch, fröhlich und meist guter Laune. Das Schönste an Joséphine ist, dass man sich mit ihr über alles, aber auch alles auf der Welt unterhalten kann. Joséphine hat immer ein offenes Ohr, ein offenes Herz und die Begabung zuzuhören. Man kann mit ihr über Fragen des Fischfangs genau so gut diskutieren wie über die russische Revolution. Oder über ganz persönliche Dinge. Als ich eintrat, sprang sie mir offenen Armen entgegen.

„Amandine, Liebes, wie geht es dir?“

„Danke, Joséphine, bis vor Kurzem ging es mir gut. Aber jetzt habe ich ein kleines Problem.“

„Erzähl.“

„Nein, erzähl erst du! Wie geht es deinen Kindern?“

Joséphine erzählt gerne von ihren Kindern und ich höre ihr gerne zu. Leider habe ich selbst keine Kinder. Aber nachträglich ist es vielleicht besser so. Ihre ältesten Kinder, Lionel, Maurice, Mireille und Antoine gehen in Papeete ins Lycée Paul Gauguin, die jüngsten in die lokale Schule.

„Aber jetzt erzähl du, was ist los?“

„Also, unter uns: Ich werde in ein paar Wochen Geld überwiesen bekommen, sehr viel Geld. Ich habe blöderweise in der Loterie nationale gewonnen. Bitte lass mich wissen, wenn es da ist.“

„Und dafür bestellst du mich in die Bar?“

„Nein, Joséphine, natürlich nicht. Ich brauche dein gescheites Köpfchen, um die richtige Idee zu finden. Ich möchte das Geld auf eine spezielle Art wieder loswerden.“

„Was loswerden? Spinnst du? Freu dich doch!“

„Nein, ich werde etwas davon zur Seite legen, aber der Rest muss weg, unter die Leute. Es muss etwas geben, wo die Leute nicht wissen, woher das Geld stammt und wie es hierher gekommen ist.“

„Jetzt bin ich sprachlos.“

„Ich erwarte von dir nicht gleich eine Idee. Aber bitte, denkst du darüber nach?“

„Also gut, ich lasse mir was einfallen.“

Joséphine hatte tatsächlich eine Idee, eine Idee, die mir gefiel. Das Geld traf Ende Oktober ein. Joséphine liess mir eine Nachricht zukommen.

Am 17. November, zwei Tage vor dem Matari‘i-Fest machten wir uns zusammen auf den Weg zum Strand. Joséphine schob ihr Fahrrad neben sich her, an dem zwei grosse Einkaufstaschen mit Gemüse hingen. Als wir das alte Fischerboot der Familie Oopa erreichten, liessen wir uns erleichtert in den Sand fallen. Niemand hatte uns gesehen.

Am Abend des Matari‘i-Festes, des Festes, bei dem die Rückkehr der Plejaden am nächtlichen Himmel gefeiert wird und die Zeit des Überflusses beginnt, waren zwei junge Leute mit einem alten, aber mit Blumen geschmückten Boot dabei, deren Teilnahme nicht vorgesehen war. Aber da es sich um Maurice und Antoine, die Jungen von Napoléon Oopa, handelte, störte sich niemand daran. Die Boote wurden bei Mondschein herausgerudert, der Priester Jérôme sprach seinen Segen und bat Gott und die Kräfte der Natur um ein glückliches, gesegnetes Jahr. Wenn die Fischerboote wieder an Land wären, würde das grosse Fest beginnen. Alle freuten sich schon seit Wochen darauf. Spanferkel brutzelten seit Stunden über dem Feuer, Süsskartoffel und Maniok garten in der heissen Glut von Erdöfen. Für Bier und Hochprozentiges war gesorgt, Kava war angesetzt, auf die Kinder warteten Kokosnüsse und Süssigkeiten.

Als Maurice das alte Boot, das von seinem Grossvater stammte, an Land gezogen hatte, entdeckte er im Bug eine alte geschnitzte Schatulle. Sie mussten sie zu zweit herausheben, so schwer war sie.

„He, Leute, schaut mal her, das hier stand in unserem Boot.“

Ich stand mit Joséphine und ihren jüngeren Kindern in der Nähe und warte gespannt, was jetzt passieren würde. Die Leute drängten sich um Maurice und Antoine. Alle riefen durcheinander.

„Macht sie auf, vielleicht ein Geschenk. Schnell, schaut nach, was drin ist.“

„Maman, soll ich sie öffnen?“

Joséphine setzte ein ernstes Gesicht auf.

„Wenn es ein göttliches Geschenk ist, soll der Priester die Schatulle öffnen.“

Jérôme wurde gerufen. Er beugte sich feierlich über die Kiste, die Maurice auf den Boden gestellt hatte. Zuoberst lag eine Art Brief, darunter befand sich ein traditioneller Korb.

„Lesen Sie, Jérôme, was steht in dem Brief?“

„Also, hier steht: Dieses Geschenk ist für die Menschen der Insel Tubuai. Drei angesehene Persönlichkeiten sollen das Geschenk entgegennehmen und es mit Sorgfalt und Klugheit verteilen. Diese Personen sind Jérôme Poroi, Louis Salmon und Joséphine Oopa.“

Sie schickten einen Jungen los, um den Bürgermeister Louis Salmon zu holen. Als er endlich da war, hoben sie den Korb heraus. Jérôme öffnete den Deckel, der mit einer Schnalle verschlossen war.

„Mein Gott, was ist denn das?“

Die Leute, die darum herumstanden, blieben zuerst mit offenem Mund stehen, dann riefen alle durcheinander.

Das Fest dauerte die ganze Nacht. Die Kunde über das geheimnisvolle Geschenk machte die Runde. Die Einen glaubten an ein Zeichen der alten Götter, von Tangaora, dem Gott des Meeres, oder gar vom unberechenbaren Maui. Die Anderen glaubten an ein Geschenk Gottes. Wieder Andere behaupteten, das Geschenk müsse von Menschen hierher gebracht worden sein.

Joséphine hatte den Auftrag, das Geld sicher aufzubewahren.

„Was glauben Sie, Joséphine, Sie sind doch eine gebildete Frau?“

„Ich glaube an ein Geschenk einer höheren Macht, es gibt so vieles auf der Welt, das wir nicht verstehen. Nehmen wir es dankbar an.“

Ich lächelte über diesen Satz und verabschiedete mich mit einer herzlichen Umarmung von Joséphine.

Version 2