Von Eva Fischer

Marlene hatte noch nie gewonnen. Nicht im Lotto, das sie sowieso kaum spielte, nicht beim Adventsbasar, den ihre Kollegen alljährlich veranstalteten. Noch nicht mal einen Topflappen hatte sie dort abstauben können. Nicht beim Straßenfest, wo ihre Nachbarin mit einem funkelnagelneuen Fahrrad nach Hause fuhr, während Marlene ihre Nieten in den Rinnstein warf.

 

Im Grunde war Marlene das egal, denn Zahlen sagten ihr nichts. Dummerweise arbeitete sie in einer Bank und hatte von Berufs wegen einiges mit Zahlen zu tun. Sie hatte gelernt, sie zu händeln, so dass ihr keine Fehler unterliefen, was ihr den Job sicherte. Aber es war eben nur ein Job und keine große Leidenschaft. Diese gehörte den Buchstaben. Wann immer sie etwas Freizeit erübrigen konnte, steckte sie ihre Nase in Bücher, insbesondere in Romane, die sie in eine andere Welt beförderten und den monotonen Arbeitstag in der Bank vergessen ließen.

 

Warum hatte sie überhaupt eine Banklehre gemacht? Ihr Vater hatte ihr dazu geraten. Geld war wichtig für ihn und Geld sollte auch wichtig für seine Tochter sein. Was brachte die Lesepassion ihr schon ein? Davon konnte keiner satt werden. So ergab sich Marlene in ihr Schicksal und erschien jeden Tag pünktlich und in grauem Hosenanzug bei ihrem Arbeitgeber.

 

Eine Frau braucht einen Mann, war ein weiteres Credo ihres Vaters. Horst sprach sie bei einer betrieblichen Karnevalsfeier an, nachdem er schon einige Bier intus hatte. Er fand, sie wären ein gutes Paar und sie sollten gemeinsam Sex haben. Zwar hatte Marlene aufgrund ihrer Romane andere Vorstellungen von der Liebe, aber man musste eben die Realität von der Fiktion trennen. Wenn sie sich nicht irrte, war das auch so ein schlauer Spruch ihres Vaters. So wurde Horst ihr Freund, bei dem sie einzog, den sie mit nach Hause nehmen und ihrem Vater als Trophäe vorzeigen konnte.

 

Horst war es auch, der die Idee hatte, sie bei der Sendung „Wer wird Millionär?“ anzumelden. Ihr Buchwissen könne ihr förderlich sein, meinte er. Marlene war skeptisch, denn ihre Romane deckten keineswegs alle Wissensbereiche ab. Was wusste sie schon von moderner Astrophysik? Von Computerspielen? Oder von dem, was Promis machten oder sagten? Von chemischen Reaktionen innerhalb und außerhalb des Reagenzglases?

Auch da hatte Horst eine Idee. Er kaufte mehrere Sätze Quizfragen. Marlene lernte und Horst fragte sie ab wie Vokabeln. Selbstverständlich schauten sich beide nun die Sendungen von Günther Jauch im Fernsehen an, um Marlenes Wissen zu testen. Sie schlug sich ganz gut, aber letztendlich sei das Ganze ein Spiel, habe viel mit Glück zu tun und übermäßiges Glück habe sie ja noch nicht so recht in ihrem Leben gehabt, wie Marlene immer wieder betonte. 

 

Der 12. Januar wurde dann doch ein Glückstag für Marlene.

Die einfachen Anfangsfragen kamen aus den neu gelernten Wissensgebieten, so dass Marlene leichtfüßig die Quizleiter nach oben klettern konnte. Sie war zu keinem Zeitpunkt nervös, was sicherlich auch hilfreich war, denn Marlene rechnete nicht damit, in den Wissensolymp aufzusteigen, wo der Goldregen sich über sie ergießen sollte wie einst über Marie im Märchen.

Wer kennt schon die Geliebte d’Artagnans aus „Die drei Musketiere“, es sei denn, er hätte das Buch gelesen, oder weiß, wer den Ausspruch „Heisa, juchheia! Dudeldumdei“ tätigte, es sei denn, er kennt Schillers Wallenstein. Die Millionenfrage war eben ein Glücksfall für sie.

 

Günther Jauch war der erste, der ihr gratulierte. Horst, der im Publikum saß, der zweite. Seine Augen funkelten richtig verliebt. So eine Million kann einen Mann schon in Wallung bringen! Er malte sich aus, was man mit dem Geld anfangen konnte. Eine Reise in die Karibik als Hochzeitsreise und einen schnellen Flitzer für hinterher, um den Kollegen in der Bank zu zeigen, wer hier das große Los gezogen hatte. Wenn Marlene unbedingt wollte, konnte man noch über ein Reihenhaus am Stadtrand reden. Für Kinder war es eh zu spät, denn Marlene ging auf die Fünfundvierzig zu, aber das machte nichts, um so mehr Geld blieb für weitere Reisen.

Marlene schaute Horst kühl an. Mit diesem Blick hatte sie schließlich gewonnen, aber nun könnte sie umschalten, fand er.

„Du hattest die Idee und du hast mich gecoacht. Dafür gebe ich dir 100 000 Euro. Aber dann sind wir quitt“, sagte Marlene und drehte sich auf dem Absatz um. Horst war wie vom Donner gerührt und vergaß ganz, seine tiefe Enttäuschung in larmoyante Worte zu fassen.

 

*

 

Das Taxi brachte Marlene in eine benachbarte Großstadt, wo einst ihre Großmutter gelebt hatte und wo sie ein kleines Hotel kannte. Durch ihren übereilten Abgang war sie den Presseleuten entwischt, aber sie machte sich keine Illusionen. Durch die Fernsehsendung war ihr Gesicht bekannt, was hieß, dass sie es ändern musste. Sie hatte straßenköterblonde, glatte, lange Haare und sie gedachte, sie kastanienbraun zu färben, ihnen einen Bubischnitt und leichte Wellen verpassen zu lassen wie in den 20er Jahren. Sie schaute auf ihren uniformen Bänkerhosenanzug mit weißer Bluse. Nie wieder würde sie ein graues Kleidungsstück anziehen, sondern in den Farben Gauguins schwelgen. Nie wieder würde sie sich auf Pumps quälen, sondern bequemes Schuhwerk bevorzugen. Die Million ermöglichte ihr einen Neustart und den wollte sie nutzen.

In der Rezeption wurde sie professionell freundlich begrüßt. Niemand beglückwünschte sie.  Keiner runzelte die Stirn, weil Marlene ohne Koffer war. Sie bekam die Zimmernummer 12 und musste schmunzeln. 12 war offensichtlich heute ihre Glückszahl.

Wann hatte sie zuletzt ein Hotelzimmer für sich allein gehabt?

 

Nach dem Abitur hatte der Vater ihr eine Rundreise durch Irland geschenkt. Irland, das Land, wo Phantasiegestalten zwischen Farn und Nebel wuchsen, wo die Menschen an jeder Ecke musizierten, ohne Noten, nach einer gemeinsamen Melodie im Kopf, wo jeder zum Dichter geboren schien, man sich immer neue Geschichten erzählte. Einmal hatte sie eine Buchhandlung in einem kleinen Ort aufgesucht. Die Inhaberin, eine ältere Frau, grüßte sie freundlich, ließ sie aber dann ungestört in den Büchern schmökern. Als sie sich irgendwann für ein Buch entschieden hatte-oder waren es mehrere gewesen?- da brachte die Frau ihr eine Tasse Tee und sie unterhielten sich miteinander. Die Lady lebte ganz allein hier, hatte eine kleine Wohnung über der Buchhandlung. Marlene beneidete sie glühend. Zu gerne wäre sie auch die Hüterin eines solchen Grals geworden.

„Wer kauft schon Bücher im Zeitalter des Internet?“, hatte ihr Vater dagegengehalten und süffisant darauf hingewiesen, dass die kleinen Buchläden von den großen Ketten aufgefressen wurden. Das stimmte zwar, aber jetzt wollte sie dennoch ihren Lebenstraum realisieren. Eine kleine Buchhandlung am Rande einer Großstadt, wo die Menschen hinkamen, nicht nur um Bücher zu kaufen, sondern auch um sich gegenseitig auszutauschen, wo junge Autoren eine Chance bekamen, aus ihren neuen Büchern vorzulesen. Wenn sie damit nicht reich wurde, so machte das nichts. Jetzt  konnte sie sich eine kleine Immobilie leisten und bräuchte schon mal keine Miete für den Laden zu zahlen. Hauptsache, sie hatte ihr Auskommen.

 

*

Der Frisör hatte ihr gute Dienste geleistet, auch wenn die Kastanie mehr Rottöne abbekommen hatte als von ihr vorgesehen. Irisch-moosgrün überwog in ihrer neuen Garderobe und passte als Komplementärfarbe gut zu Rot.

Der Mann an der Rezeption reichte ihr kommentarlos den richtigen Schlüssel. Nach einem nach Zitrusfrüchten duftenden Bad wollte sie in der Stadt zu Mittag essen und sich endlich ein Glas Champagner gönnen. Zehnmal hatte Horst seit dem gestrigen Abend angerufen und ebensoviele WhatsApp verschickt. Sie löschte sie ungelesen.

Vergiss es, mein lieber Horst! Ich komme nicht zurück und meine Klamotten hole ich auch nicht ab. Die kannst du der Caritas geben oder einer Bänkerin, wenn sie Größe 42 trägt. Dein Name ist so unromantisch wie du selbst, hätte sie ihm antworten können.

Marlene glaubte nicht an einen Traumprinzen in ihrem Alter, aber es tat gut, sich von dem zu trennen, was Wahrung des Scheins nach außen, Kompromiss oder Notlösung hieß.

 

Ihr Teint war rosig, was am Champagner liegen mochte oder an der Tatsache, dass sie Glücksgefühle durchfluteten. Sie hatte sich Spaghetti bestellt mit Gambas. Horst hätte beides ekelig gefunden. Er bevorzugte Hausmannskost. Braten mit Kartoffeln, in viel Sauce ersäuft. Sie spürte, dass sie jemand beobachtete. Marlene richtete ihre neue Designerbrille und schaute nach unten. Eine kleine Rolle auf vier Beinen näherte sich ihr und wedelte freudig mit dem Schwanz. „Entschuldigen Sie vielmals, aber Max ist etwas aufdringlich, vor allem bei netten Damen.“ Marlene begutachtete ihr Gegenüber. Der Mann hatte wirre Locken wie sein Hund. Er arbeitete ganz sicher nicht in einer Bank, denn er trug weder Anzug noch Krawatte. Marlene streichelte Max, der es offensichtlich genoss, liebkost zu werden und sich in Positur stellte.

„Die Streicheleinheiten bekommt immer nur Max ab“, neckte sie der Mann und lächelte schelmisch.

Marlene wollte gerade antworten, als ihr Handy klingelte. Einen Augenblick überlegte sie, ob sie den Anrufer wegdrücken sollte.

„Ja, Vater, mir geht es gut. Nein, Vater, du musst dir keine Sorgen machen. Ja, Vater, ich habe mich auch darüber gefreut. Nein, Vater, ich werde keine Dummheiten machen.“

Ihre Antworten konnte sie in einer Endlosschleife wiederholen, denn ihr Vater redete pausenlos auf sie ein, meinte, sie besser zur Umkehr bewegen zu können, je mehr er sie verbal attackierte.

Als sie endlich unwirsch auflegte, war ihr Gegenüber verschwunden. Sie seufzte.

Einen Rauhaardackel werde ich mir auch kaufen und ihn Max nennen, dachte sie und nahm erneut einen Schluck Champagner.