Von Raina Bodyk                       

„Es wird dunkel. Zeit aufzubrechen, mein Junge. Wir wollen doch nichts von dem einzigartigen Spektakel verpassen. Das deutsche Volk steht auf gegen die jüdischen Volksverräter, Pazifisten und Bolschewisten! Endlich zeigen wir es der Lügenpresse und den Schreiberlingen, diesen geistigen Brandstiftern.“

Heinrich mustert anerkennend seinen Sohn in der Uniform der Pimpfe. Er sieht richtig zackig aus in der kurzen schwarzen Hose mit dem Ledergürtel mit Koppelschloss, dem Braunhemd und dem Halstuch. An der Seite der ganze Stolz des Jungen: das Fahrtenmesser.

„Zieh deinen Regenmantel an. Es schüttet immer noch wie aus Eimern. Das soll uns aber nicht daran hindern, oder?!“

Aufgeregt hüpft Alfred neben seinem Vater her Richtung Innenstadt. Entlang des Zugweges haben die Berliner in den letzten Wochen Gebäude, Straßen und Plätze geschmückt.

Am Opernplatz hat sich schon eine riesige Menschenmenge versammelt. Es müssen Zigtausende sein. Große Scheinwerfer tauchen die Umgebung in helles Licht. Fahnen, wohin man blickt.

Ein tief empfundenes Gemeinschaftsgefühl macht sich breit. Patriotische Gefühle ertönen in lautstarken „Heil-Rufen“ und völkischen Liedern, die immer wieder angestimmt werden.

Heinrich drängt sich, seinen Sohn hinter sich herziehend, ganz nach vorn und zeigt dem Kleinen den riesigen Scheiterhaufen, der später angesteckt werden soll.

„Poaah! Das wird ein Feuer geben! Dagegen sind unsere Lagerfeuer bei den Pimpfen ein Fliegenschiss!“

„Ah, schau, Junge, wir kommen genau zur richtigen Zeit. Die Parade beginnt.“

 

Eine Militärblaskapelle intoniert: „Heil Dir im Führerglanz, Retter des Vaterlands, Heil Hitler Dir!“

Hinter ihr, präzise im Gleichschritt, Wehrmacht, SS und SA, gefolgt von der Hitlerjugend. Fröhlich winkt Alfred ihnen zu, entdeckt einige Freunde, die teilnehmen dürfen.

Er schwenkt wie die anderen jubelnd sein Fähnchen, brummt etwas schräg die gespielten Lieder mit. Weitere Kapellen, Gruppen mit brennenden Fackeln in den hochgestreckten Armen, Studenten in Couleur und Professoren in schwarzen Talaren folgen. Aufstellung am Scheiterhaufen.

Im Hintergrund die Lastwagen, beladen mit tausenden von ‚Schmutz- und Schundbüchern‘.

 

Auf der Bühne verlesen Studenten die ‚Zwölf Thesen wider den undeutschen Geist‘. Die Zuschauer, die diese bereits aus Rundfunk, Presse und Flugblättern kennen, brüllen sie fanatisch mit. Nach jeder These schmettern sie ein leidenschaftliches „Deutsch!“.

Alfred hört nur halb zu. Aber ein Spruch erscheint ihm rätselhaft:

„Der Jude kann nur jüdisch denken. Schreibt er deutsch, dann lügt er. Der Deutsche, der deutsch schreibt, aber undeutsch denkt, ist ein Verräter.“

Der Junge zupft seinen Vater am Ärmel: „Hä? Was bedeutet das?“ Aber Heinrich schüttelt nur den Kopf: „Dafür bist du noch zu klein.“

Alfred langweilt sich ziemlich bei den Reden und trippelt ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Er will endlich das Feuer sehen. Leider gießt es immer noch in Strömen.

Dann – endlich! – ist es soweit. Der Scheiterhaufen soll entzündet werden. Aber das Holz brennt nicht! Es ist zu nass. Die Feuerwehr muss erst mit Benzinkanistern nachhelfen, bis die Flammen hoch auflodern können, den ganzen Opernplatz und die Teilnehmer und Zuschauer hell erleuchten.

Heinrich erklärt dem Sohn: „Das Feuer symbolisiert die innere und äußere Reinigung der deutschen Nation, vernichtet alles Undeutsche.“

Alfred nickt, ist aber schnell abgelenkt. Es gibt viel zu viel zu sehen.

Er springt begeistert um das Feuer herum. So verpasst er die ersten Feuersprüche, die dem Verbrennen von Büchern verbotener Autoren vorausgehen.

Plötzlich jedoch horcht Alfred auf:

„Gegen Dekadenz und moralischen Zerfall! Für Zucht und Sitte in Familie und Staat! Ich übergebe der Flamme die Schriften von Heinrich Mann, Ernst Glaeser und Erich Kästner.“

Der Junge schreit auf: „Nein! Der Kästner hat doch den ‚Emil‘ geschrieben! Seine Bücher dürfen nicht verbrannt werden! Papa!“

„Schrei nicht so! Der ‚Emil‘ mag ja dein Lieblingsbuch sein, aber Kästner hat seine Erwachsenenbücher mit unmoralischem Zeug und undeutschen Ansichten beschmutzt!“

„Aber …“

„Still jetzt.“

Alfred knabbert noch an dieser Ungerechtigkeit, da hört er plötzlich eine weibliche Stimme in der Nähe: „Da steht ja der Kästner!“

Der Junge dreht sich ruckartig um und starrt zwei Reihen hinter sich direkt in das bekannte Gesicht mit den buschigen Augenbrauen. Kästner!

Er erschrickt über den merkwürdigen Ausdruck in der Miene dieses schlanken Mannes. Eine Mischung aus Verachtung, Verzweiflung, Ekel und Trauer. Nur dieser Blick hält ihn davon ab, um ein Autogramm zu bitten. Als er sich kurz darauf noch einmal umdreht, ist der Mann weg.

Auf dem Platz haben die Menschen inzwischen eine lange Kette gebildet und reichen Stapel für Stapel der verbotenen Bücher weiter Richtung Scheiterhaufen, wo sie kurz aufflammen und dann zu Asche zerfallen. Alfred vergisst den Dichter und reiht sich zusammen mit seinem Vater ganz vorn mit ein.

Dann ein Moment der Stille. Die Menge hat Propagandaminister Goebbels erspäht, der auf das Podium hinkt. Der will gerade mit seiner flammenden Rede beginnen, da bemerkt er den Pimpf vorn in der Menschenkette. Immer auf größtmögliche Wirkung bedacht, winkt er den kleinen Alfred auf die Bühne und reicht dem Kind die schmale Hand: „Leute, seht diesen stolzen, jungen Mann an!“

„Deutschland dankt dir für deinen Beitrag zu dieser historischen Stunde. Wir sind heute hier vereint, um den deutschen Geist von der Fremdherrschaft zu befreien.“ Tosender Beifall brandet auf.

Heinrich wischt Tränen des Stolzes aus den Augen. Welch eine Ehre! Mit Inbrunst hebt er den rechten Arm und singt stolz das Horst-Wessel-Lied mit.

 

***

 

Erich Kästner steht vor Nässe triefend in der Menge. Diese Ignoranten vernichten ihr eigenes Kulturgut! Er ballt vor Wut und Hilflosigkeit die Fäuste in den Taschen. Er hat Angst, zuschauen zu müssen, wie sein Werk vernichtet wird. Aber weggehen kann er nicht. Er hat das eindringliche Gefühl, hier sein zu müssen, stellvertretend für alle Kollegen, die sich nicht herwagen.

„Sogar der Himmel weint bei dieser monströsen Veranstaltung. Dieses Begräbniswetter passt perfekt dazu!“, geht es ihm durch den Kopf.

Plötzlich dann aus heiterem Himmel dieser Schrei: „Da steht ja der Kästner!“ Er erschrickt furchtbar, fühlt sich ertappt. Sein erster Impuls ist: Weg, nur weg! Nur mühsam beherrscht er sich. Nur nicht auffallen! Vorsichtig späht er umher. Ach, diese Kabarettistin hat ihn erkannt. Er hat sie schon auf der Bühne bewundert. Sein Name ist ihr wohl nur in der Überraschung rausgerutscht.

Der Schriftsteller spürt, dass ihn doch jemand ansieht. Ein zehn- oder elfjähriger Junge mit leuchtenden Augen starrt ihn an. Er dreht sich weg.

Kästner bleibt noch ein paar Minuten, um nicht aufzufallen, und sieht gerade noch Goebbels das Podium betreten: „Oh, jetzt betritt der kleine, abgefeimte Lügner höchst persönlich die Bühne. Der Judenhetzer, der!“

Höchste Zeit zu gehen, sonst zerreißt ihn der Zorn.

 

***

 

„Herr Kästner, herzlich willkommen. Ich bin Alfred Homberg. Ich freue mich sehr, dass Sie bereit sind, für unsere Buchhandlung eine Lesung zur Neuausgabe von ‚Emil und die Detektive‘ zu machen. Es ist uns eine Ehre.“

Der Autor winkt nur ab.

Zögernd fügt Alfred hinzu: „Wir haben uns schon einmal gesehen – vor langer Zeit.“

„Ich wüsste nicht …“

„Sie haben mich bestimmt nicht bemerkt. Ich war noch ein Kind und habe – ich muss es leider gestehen – voller Begeisterung bei der Bücherverbrennung 1933 zugesehen. Ich hörte Ihren Namen rufen und drehte mich um. Nie habe ich Ihren Blick vergessen, mit dem Sie diesem Treiben zusahen. Er ging mir durch und durch. In diesem kurzen Moment habe ich mich geschämt, ohne zu wissen, warum. Bis heute kann ich mir nicht verzeihen, dass ich damals so viel Spaß dabei hatte. Ich hatte es noch nicht verstanden.“

Kästner blickt sein Gegenüber nachdenklich an: „Ja … Ja, da war so ein Pimpf, der mich sehr interessiert und neugierig ansah. Das waren Sie – am schlimmsten Tag meines Lebens? Was für ein merkwürdiger Zufall! So etwas Widerliches wie damals habe ich nie mehr erlebt. Nicht mal die zwei Verhaftungen später durch die Nazis waren so schlimm.“

„Und mir hat Goebbels damals die Hand gedrückt. Ich war so stolz!“ Alfred senkt beschämt den Kopf.

„Machen Sie sich nichts draus. Ich kann mir auch nicht verzeihen. Ich hätte meine Meinung laut herausschreien müssen. Aber ich war kein Held!“ Trauer schwingt in den Worten des Autors.

„Ich hätte Sie so gern angesprochen. ‚Emil und die Detektive‘ war mein absolutes Lieblingsbuch. Aber ich habe mich nicht getraut und dann waren Sie plötzlich verschwunden.“

„Ja, ja, der ‚Emil‘. Kaum zu glauben, aber an den haben sich nicht mal die Nazis rangetraut. Die Kinder und Eltern liebten das Buch, es war ein Verkaufsschlager. Wussten Sie, dass hinter meinem Namen auf der schwarzen Liste stand: ‚Emil nicht‘?

Alfred schüttelt den Kopf: „Vielleicht bin ich Buchhändler geworden, um etwas wiedergutzumachen … Mein Vater war damals überzeugter Hitleranhänger. Der Verrat am deutschen Soldaten und die Lüge von der Kriegsschuld …“

 

„Viele waren davon überzeugt, verblendet durch verbrecherische Hetze und Gehirnwäsche.“ Kästner grinst schief: „Ich war ihnen zu unmoralisch! Ich hätte ja die aufstrebende deutsche Jugend verderben können.“

Seine Stimme zittert immer noch vor Empörung und Verbitterung, wenn er an die Zeit zurückdenkt.

„Der Teufel aber zeigte selbst in diesen Zeiten Humor! An der Ecke Schützen- und Friedrichstraße gab einen Stand mit Krawatten und Herrensocken. Der Besitzer, ein Herr Zahn, den wir nur den ‚Eckzahn‘ nannten, vertrieb unter dem Tisch heimlich, still und leise meine Bücher. Die Leute haben sie ihm aus der Hand gerissen und bis zu 80 Mark dafür bezahlt! Er hat sie stapelweise aus einem Nazikeller geklaut! Wenn das nicht ein Witz ist!“

Kichernd fährt er mit einem Blick in den Verkaufsraum fort: „Ich glaube, die Gäste sind vollzählig. Lesen wir also aus Ihrem Lieblingsbuch vor.“