Von Andreas Schröter

Im Grunde ging es Isolde Oehlschlägel gut. Doch, das konnte sie sagen. Trotz ihrer 85 Jahre war sie bisher von den schlimmen Krankheiten verschont geblieben – sie hatte eine leicht schmerzende Hüfte, na gut, aber das war beherrschbar. Von ihrer Rente konnte sie sich zwar keine Traumurlaube in der Karibik und auch keinen Mercedes leisten, aber das wollte sie schließlich auch gar nicht. Sie wollte lange schlafen, ihr tägliches Brötchen mit Butter und Cervelatwurst essen, nachmittags „Bares gegen Rares“ und abends die Tagesschau sehen. Und sie freute sich schon immer drei Tage vorher auf den Bingo-Nachmittag mittwochs im AWO-Heim und auf die sauertöpfische Miene von Frau Schultheiß, wenn bei ihr die richtigen Zahlen partout nicht kommen wollten.

Aber das Allerbeste war vermutlich, dass sie es geschafft hatte, ihren Heinz-Günther nun schon um ganze vier Jahre zu überleben. Jetzt konnte sie die Dreizimmer-Wohnung endlich ganz allein bewohnen. Was für ein Luxus! In ihrer Kindheit in den 40er-Jahren – mitten im Krieg – hatte sie mit fünf Personen (Mutter und vier Kinder, der Vater war an der Front) in einer genauso großen Wohnung leben müssen.

Heinz-Günther hatte zuletzt doch arg geschnarcht. Und wenn sie ehrlich war, dann musste sie auch zugeben, dass er manchmal etwas gestunken hatte. Sie wusste bis zuletzt nicht, ob er seine Körperpflege vernachlässigt hatte oder woher der Gestank sonst kam. Ganz normaler Alte-Leute-Mief wahrscheinlich, dachte sie und musste dabei fast grinsen. Sie würde es niemandem gegenüber zugeben, aber sie war froh, dass er unter der Erde war. Nach seinem Tod hatte sie als erstes die Fische aus seinem Aquarium im Klo runtergespült und dann das Ding auf den Müll geworfen. Das war ihr eine Genugtuung und späte Rache gewesen. Sie mochte es einfach nicht, was für ein Getue er um dieses Aquarium gemacht hatte. Es hatte nur Platz weggenommen. Nein, ihr ging es jetzt gut, viel besser jedenfalls als mit Heinz-Günther.

Und doch!

Und doch gab es etwas, das Isolde Oehlschlägel störte. Massiv störte sogar. Wenn sie im Winter abends zwischen Abendbrot und Tagesschau bei einer Tasse Hagebutten-Tee in ihrem Ohrensessel saß und das große Licht etwas gedimmt hatte, was sie gerne tat, dann wirkte ihr Wohnzimmer manchmal grünlich und manchmal rötlich. Das lag an diesem komischen Dings, das „sie“ (sie meinte die Leute von der Stadt) an der Straße fünf Meter vor ihrem Wohnzimmerfenster aufgestellt hatten. Wenn die Autos langsam fuhren – also nicht schneller als 30 –, dann leuchtete es Grün. Sie hatte sich das hässliche Teil mal genauer angesehen. Das grüne Licht sollte wohl ein lachendes Kindergesicht darstellen. Aber wenn die Autos zu schnell fuhren, was sie meistens taten, dann leuchtete es rot und das Kindergesicht wurde traurig und hatte heruntergezogene Mundwinkel. „Geschwindigkeitsdisplay“ hieß das Gerät. Sie hatte es in der Zeitung gelesen. Noch nie im Leben hatte sie so einen Schwachsinn gesehen. Früher gab es auch keine Geschwindigkeits-Dingsbums-Dinger, und trotzdem lagen keine totgefahrenen Kinder im Straßengraben.

Das Teil musste weg. Isolde Oehlschlägel wollte nicht, dass ihr Wohnzimmer manchmal grünlich und manchmal rötlich wirkte. Sie griff zu Papier und Stift und schrieb einen Brief an diesen Politiker, der hier offenbar was zu sagen hatte.

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Bezirksbürgermeister Werner Kalamaika mochte es, gelegentlich durch den Stadtbezirk zu fahren. „Alles Kalamaika-Land“, dachte er dann insgeheim und war sogar ein bisschen stolz. Außerdem lenkte ihn die Fahrerei von den vielen Briefen, E-Mails und Facebook-Einträgen auf seinem Schreibtisch und im Computer ab. Manchmal fühlte er sich dabei wie die Müllabladestelle für sämtliche Probleme dieser Welt. Die Leute machten ihn zum Beispiel für die schlechte Performance der GroKo in Berlin verantwortlich oder beschimpften ihn, dass die Bahnhofstraße immer noch nicht saniert war. „Faules Politikerpack“ war da noch die harmloseste Form – oder „Wenn ihr mal in einer richtigen Firma arbeiten müsstet, würden sie euch nach drei Tagen wegen Unfähigkeit wieder entlassen“. Darin steckten mindestens zwei Denkfehler. Erstens hatte er über 40 Jahre bis zur Rente in einer „richtigen Firma“ gearbeitet und war nicht entlassen worden – das Bezirksbürgermeister-Amt war nur ein Ehrenamt –, zweitens konnte er selbst leider immer nur auf die dringend notwendige Sanierung der Bahnhofstraße hinweisen, ausführen musste sie die Stadt, genauer gesagt das Tiefbauamt. Und das Tiefbauamt hatte erstens kein Geld und zweitens zu wenig Personal. Da blieb eben einiges liegen. Aber das verstanden die Leute nicht.

Am schlimmsten waren die Beschimpfungen während der Flüchtlingswelle 2015 gewesen. Eine anonyme Zuschrift von damals hatte er – wohl aus einer Art perversen Masochismus‘ – aufbewahrt. Darin hieß es: „Die Juden haben schon Bekanntschaft mit der Gaskammer gemacht. Du stinkende Ratte bist als Nächstes dran!“ Hinzu kamen die ewigen Nörgeleien über schlecht beschnittenes Stadtgrün vor der eigenen Haustür, Müll, der irgendwo herumlag, zu viele Hundehaufen oder den zunehmenden LKW-Verkehr in den Wohnstraßen: „Morgens um sieben geht das schon los mit die Laster“, hieß es da zum Beispiel grammatikalisch wenig korrekt, „dann rappeln im Schrank die Gläser.“ – „Dann zieh doch einfach um, wenn’s Dir nicht passt“, wollte Bezirksbürgermeister Kalamaika am liebsten manchmal antworten, aber das verkniff er sich. Das heißt, ganz am Anfang seiner Amtszeit vor fast 15 Jahren hatte er es einmal gesagt. Daraufhin war eine 70-jährige Dame beinahe in Tränen ausgebrochen und hatte gestammelt: „Ich bin in diesem Haus geboren und werde es erst wieder mit den Füßen nach vorne verlassen.“ Er hielt eine solche Einstellung für engstirnig und geradezu dumm.

Und doch!

Und doch gab es etwas, das kommunalpolitisch richtig gut gelaufen war: die zehn Geschwindigkeitsdisplays, die die Stadt mit dem Geld der Bezirksvertretung hatte aufstellen lassen. Vor allem an der Lange Straße vor dem Kindergarten waren die Autos seither merklich langsamer unterwegs. Sogar die Bürgerinitiative „Für den Erhalt einer verkehrssicheren Umwelt“ hatte ihn für die Displays gelobt, und das was zuvor noch nie vorgekommen. Sogar er selbst merkte, wie er erschrocken auf die Bremse stieg, wenn das Display rot zeigte, und wie er sich freute, wenn es grün leuchtete. Den Brief von einer gewissen Isolde Oehlschlägel hatte er nur mit ein paar wenigen Zeilen beantwortet.

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Isolde Oehlschlägel war der Appetit vergangen. Ihr Brötchen mit Cervelatwurst lag seit dem Vormittag unberührt auf dem Tisch. Der Brief von diesem arroganten Fatzken von Bürgermeister, oder was er war, war ihr schwer auf den Magen geschlagen. Der hatte sich tatsächlich erdreistet, vorzuschlagen, doch abends einfach die Rollläden im Wohnzimmer herunterzulassen, wenn sie das rote und grüne Licht störe. So eine dermaßene Unverschämtheit! Heinz-Günther und sie hatten die Rollläden in 35 Jahren kein einziges Mal heruntergelassen – und zwar um sie zu schonen! Wusste dieser Politiker in seinem Elfenbeinturm eigentlich, was es kosten würde, allein die Gurte erneuern zu lassen? Sie war außer sich vor Zorn und spürte, wie ihr Blutdruck stieg. Sie würde sich beruhigen müssen. Aber erst später. Zunächst würde sie diesem unverschämten Menschen zeigen, dass man Isolde Oehlschlägel nicht auf der Nase herumtanzen konnte. Sie stand auf und öffnete die kleine Rumpelkammer neben dem Kellerabgang. Und sie fand, was sie suchte, weil Heinz-Günther hier – wenigstens hier – Ordnung gehalten hatte: ein Beil.

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Der erste Anruf, den Bezirksbürgermeister Werner Kalamaika an diesem tristen Januar-Mittwoch entgegennehmen musste, kam von der Polizei. Eine sympathisch klingende Stimme – offenbar von einer jungen Frau – sagte, sie wolle ihn darüber in Kenntnis setzen – ja, so gestelzt drückte sie sich aus –, dass jemand in der vergangenen Nacht das Geschwindigkeitsdisplay an der Lange Straße – ja genau, in der Nähe des Kindergartens – mit roher Gewalt zerstört habe. Ein Autofahrer habe das gemeldet. Eine Streife sei hingefahren und habe tatsächlich nur noch Splitter vorgefunden.

Bezirksbürgermeister Kalamaika bedankte sich, beendete die Verbindung, lehnte sich in seinem Schreibtischstuhl zurück und nippte an dem Kaffee, den er sich gerade gemacht hatte. Kurz schwappte eine Woge der Traurigkeit über ihn hinweg. Dann setzte er sich wieder gerade hin und öffnete an seinem Computer das E-Mail-Programm. Es gab da doch noch diesen Menschen, der sich auf der alten Zechenfläche für die Vielfalt der Krötenarten einsetzen wollte. Dem wollte er antworten. Es galt, ihn zu unterstützen. Der große Vorteil auf diesem Gelände war: Es gab keine Anwohner.