Von Maria Lehner

Es ist ein sonniger Tag, dieser 24. März 2016. In Vicenza, nahe der Piazza Matteotti, jault ein Folgetonhorn. Ein junger Mann ist gestürzt. Mit dem Mobiltelefon in der Hand. Die Umstehenden sind besorgt, aber sie reden auch von der allgegenwärtigen Telefoniererei. Keiner sei mehr „im Hier und Jetzt“. Martin Frick blutet aus einer Kopfwunde.

Es stellt sich heraus: Der junge Mann spricht Deutsch. Er stammelt, als er gefragt wird, ob ihm etwas fehle: „Ja. Ich habe etwas verloren. Etwas fehlt.“ Natürlich fehlt ihm was: Er blutet und ist verwirrt. Was hat er verloren? Da liegt nichts herum. Sieht man ja. Er will nicht weg von dem Platz, will nicht auf die Trage. Man schiebt das auf das Schädel-Hirn-Trauma.

Die Wunde wird genäht. Nach einigen Tagen geht es ihm besser. Das Computer-Tomogramm ist unauffällig. Aber da ist eine allgemeine Rastlosigkeit. Als würde er pausenlos etwas suchen. Da er orientiert ist und seine Identität angeben kann, wird er nach 24 Stunden entlassen und kann seine Reise fortsetzen.

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Fast zwei Jahre später wacht in einer Wiener Wohnung eine junge Frau auf: Martin, den sie gestern kennen gelernt hat, und der da neben ihr im Bett liegt, gefällt der Karin Moser auch heute noch. Er wirkt, als ob ein Teil von ihm fehle. Das weckt ihren Beschützerinstinkt. Sie wuschelt zärtlich mit den Fingern durch seinen Haarschopf. Ihre Finger ertasten dabei eine Narbe. Beim Frühstück fragt sie ihn danach. Er erzählt von einer Vicenza-Reise. „Ah! Vicenza!“, schwärmt sie – dorthin will sie lange schon. Dass er damals beim Telefonieren gestürzt ist, lässt er sie wissen. An sehr viel mehr könne er sich nicht mehr erinnern. Jedenfalls wäre er im Krankenhaus gewesen, hätte aber nach ein paar Tagen seine Reise fortsetzen können. An Vicenza habe er keine gute Erinnerung.

Sie mag ihn und seine Verletzlichkeit. Sie vereinbaren, dass sie einander anrufen werden. Keiner fragt, wer wen anruft. Es soll sich alles möglichst locker anfühlen. Obwohl jeder insgeheim denkt: Das ist anders als sonst, vielleicht wird´s was!

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Im Büro vertieft er sich in seine Arbeit. Das Handy klingelt nur Bruchteile von Sekunden. Nach dem ersten Signalton bricht die Verbindung ab. Martin war zu langsam. Er freut sich, dass „sie“ so bald schon anruft (er hält es auch kaum mehr bis zum Abend aus).  Aber es ist nur ein „Unbekannter Anrufer“, das kann nicht „sie“ sein, ihre Nummer hat er bereits mit Namen eingespeichert.

Mit einem Kollegen redet er drüber. Der weiß: Telefonbetrüger sind das; man nennt es „Ping-Anrufe“, weil es nur einmal kurz läutet; dann ruft man zurück und es wird teuer. Ob es denn eine tunesische Vorwahl gewesen sei? Sie recherchieren: Nein, es ist eine italienische Nummer. Dreimal während des Tages ertönt das kurze „Ping“. „Jetzt arbeiten die schon von Italien aus“, sagt der Kollege. Martin blockiert die Nummer schließlich. Er muss ein bisschen ruhiger werden, dann wird er Karin anrufen.

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Italien… seit Vicenza war Martin nicht mehr dort. Das Gefühl, das damit in Zusammenhang steht, macht ihn auf eine unerklärliche Weise traurig. Martin nennt das den „Vicenza-Schmerz“.  Er kopiert die Nummer aus den blockierten Kontakten und ruft zurück.

 

„Hallo, Martin“, hört er, „ich bin´s, der Martin.“ Die Stimme klingt wie seine. So kann ein Telefon verzerren!

„Ja“, sagt Martin, „hier ist Martin – wer spricht?“

„Na du, ich bin du!“, sagt die Stimme.

Martin überlegt: Kann man jetzt schon Stimmen fälschen?  „Okay“, sagt er, „sind wir in einer Live-Sendung, in der Leute verarscht werden?“

Der andere sagt: „Nein, ich bin wirklich du! Weißt du nicht mehr, damals am Gründonnerstag vor dem Museum auf der Piazza Matteotti, als du telefonierend über die Palette gestürzt bist?“.

Jetzt wird Martin nachdenklich, denn er hat immer und überall nur von einem „Sturz“ und „damals in Vicenza“ gesprochen, ohne solche Details zu nennen. Und das mit der Stimme ist schon seltsam.

Nach einer Pause sagt er schroff: „Gut. Dann will ich wissen: Wann und wo bist du geboren, wie hieß dein Lieblings-Stofftier und wie war der Name deiner Volksschullehrerin?“. Es sind Fragen, wie man sie zur Wiederherstellung von E-Mail-Accounts braucht, aber Martin hat all diese Dinge noch nirgends verwendet, er fragte immer nach dem Namen der ersten Freundin und dem Hochzeitstag der Eltern.

Der Angerufene sagt: „Also – Martin Frick, geboren am 10. März 1991 in St. Pölten, Lieblingsstofftier Bauxi, der Pudel. Und der Name der Volksschullehrerin ist Hermine Kranz“. Martin, der aus Wien, ist verdutzt.

„Und was heißt das jetzt?“, fragt er nach einer Schrecksekunde.

Das andere „Ich“ sagt: „Du hast mich zurückgelassen und bist ohne mich ins Krankenhaus gefahren. Dabei hab´ ich nur ganz kurz unseren Körper verlassen, um zu schauen, ob die Rettung schon kommt. Dann warst du weg und ich da oben. War nicht einfach, ungesehen runterzukommen. Ich bin von jemandem gesundgepflegt worden; den hab´ ich dann auch in einer heiklen Sache unterstützt und dafür die Papiere bekommen… Als Martin Frick. Jetzt sind wir Duplikate.“

Der Wiener Martin denkt, dass das ziemlich cool ist und schon manchmal praktisch gewesen wäre. Der Andere spricht weiter: „Jetzt lebe und arbeite ich regulär in Vicenza. Mit Codice Fiscale, der Steuernummer, gehört man dazu. Aber ich wollte hören, wie es dir so geht.“

Martin erzählt ihm von dem „Unvollkommenheitsgefühl“. Und vom Vicenza-Schmerz.

„Klar, das kenne ich gut!“, sagt Martin aus Vicenza, „wir sind so was, wie gewaltsam getrennte und voneinander isolierte siamesische Zwillinge“.

 

Sie unterhalten sich und finden viele Gemeinsamkeiten. Offen bleibt die Frage, ob sie sich wieder vereinen sollen und wollen. Beide „haben jemanden“. Martin aus Wien erschrickt, als er sich das sagen hört – nach einer Nacht schon!? Aber sie werden einander dort oder da treffen und dann entscheiden, wer in wessen Körper zurückkehrt und wo und wie sie leben werden.  Als Martin in Wien das Gespräch beendet, fühlt er sich plötzlich erleichtert und glücklich. Gedankenverloren kratzt er sich am Hinterkopf: Die Narbe juckt. Aber sie schmerzt nicht wie sonst, wenn er angespannt ist. Und da ist nicht dieses Gefühl von Traurigkeit.

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Wieder läutet das Mobiltelefon. Martin, überreizt und ohne auf das Display zu schauen, nimmt das Gespräch an und sagt atemlos: „Ja, bist du´s nochmal?“.

Er hört: „Nein, da ist Karin“.

„Ach… du“, sagt er gedankenverloren zu der, an die er den ganzen Tag lang gedacht hat.

Karin schaltet rasch ihre Gefühle auf Gefrierschranktemperatur: Aha, wieder so einer! 

Martin hat sich mittlerweile gefasst; er schlägt ein Treffen vor und legt auf. Dann macht er – wir kennen das alle – ein paar Sachen gleichzeitig. Jacke anziehen, auf dem Handy herumtippen, Computer runterfahren.

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Als sie im kleinen Café im Park sitzen, findet Karin das, was er erzählt, ziemlich weit hergeholt. „Was würde dich überzeugen?“, fragt Martin.  Da sie praktisch veranlagt ist, sagt sie: „Zeig mir die blockierte Nummer und deine Anrufliste.“ Natürlich! Dass ihm das nicht eingefallen ist! Wenn sich das als vertrauensbildende Maßnahme eignet, dann… Oh: Die Anrufe und der blockierte Kontakt auf dem Handy sind nicht zu finden! Was ist passiert?!

 

Karins Gesicht verzieht sich zu einer „Das-wars-dann-Grimasse“. Sie will gehen.

„Bitte!“ sagt Martin „Kennst du das, wenn du glaubst, dass du verrückt wirst! Mir geht´s echt mies!“

Sie, immer noch zurückhaltend: „Schau, versteh´ mich halt auch! Wir kennen uns noch nicht so lang und was da abläuft, ist so was von typisch.“ Dann meint sie nachdenklich: „Aber vielleicht hast du gar nicht gelogen, sondern das komische Ping hat eine Erinnerungskette in Gang gesetzt und dein Sturz-Trauma wieder ausgelöst“.

Irgendwie hält Martin das für eine plausible Erklärung. Der Abend wird dann noch nett. Morgen wird er ein paar Sachen mitbringen. Zahnbürste und so. Einen Schlüssel hat er schon.

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Karin sagt irgendwann: „He – deine Narbe ist komplett verschwunden!“.

Deshalb hat das so gejuckt, denkt Martin.

Eigentlich sind sie eines jener Pärchen geworden, das man als „traditionell“ bezeichnen könnte: Sogar ein paar Zukunftspläne gibt es. Die gehen über das Wochenende hinaus. Er fühlt sich auf eine schöne Art „komplett“. Was, wenn all die Dinge gar nicht wirklich passiert waren, sondern nur ein Ausdruck der Suche nach seiner anderen Hälfte gewesen sind?

Karin sagt: „Das kann schon sein. In der Antike hat man es sich so erklärt: Es irrt jeder herum mit einem Tontafelstück als Fragment eines ganzen Bildes. Und wenn man den trifft, der die andere Hälfte hat, dann sind beide Menschen wieder ganz“.

Das ist eine klassische Karin-Geschichte und allein der Geschichten wegen liebt er sie, seine „andere Hälfte“.

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„So schnell geht das, heute ist schon unser erster Jahrestag“, denkt er grade, als während der Gestaltung eines neuen Folders im Grafikbüro das Skype-Fenster aufpoppt. Da ist – er! Sein anderes Ich. Martin aus Vicenza. Es gibt ihn also doch!

 

Der sagt: „Du, ich hab´ viel nachgedacht in diesem Jahr. Ich will bleiben, wo ich bin, mir geht´s gut hier. Was sagst du?“.

Martin aus Wien sieht es genauso. Jeder ist „angekommen“. Sie vereinbaren, einander nur in Notfällen zu kontaktieren. Weder kommt der eine nach Wien, noch fährt der andere nach Vicenza. Diese zwei Orte wollen sie – aus Rücksichtnahme auf das jeweilige Leben des anderen – meiden. Und sich anderswo zu treffen, wäre eher unwahrscheinlich.

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Karin und Martin gehen zum Griechen. Beim Nachtisch rückt er sein Jahrestagsgeschenk-Päckchen raus. Sie hat auch eines, ein Kuvert: „Weißt du, ich denk mir immer, du musst dich mit Vicenza versöhnen: Wir fahren für ein Wochenende dorthin und dann zeigst du mir alles“.

Mechanisch kratzt sich Martin Frick den Kopf. Dort wo die Narbe war.

 

„Wien ist um diese Jahreszeit besonders schön“, wird er morgen nach Vicenza schreiben und „Wir sind übrigens vom 10. bis 13. Mai in Vicenza“. 

 

„Freust du dich gar nicht?“, fragt Karin fast enttäuscht.

„Und wie!“, sagt er und strahlt sie an.

 

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