Von Eva Fischer

Es gibt Leute, die gerne telefonieren. Ich gehöre definitiv nicht dazu, was mir einen Retro-Touch verleiht, oder ist das Telefonieren vielleicht selbst bald Geschichte? Ich bin jedes Mal überrascht, wenn man das Handy Telefon nennt. Zwar nutze ich jede Funktion dieses Wunderspielzeuges, aber fast nie die des Telefonierens. Wer nicht in meinem Speicher steht, hat schlechte Karten, denn ich muss jedes Mal neu suchen, wo sich der Zahlenblock versteckt hat. 

Die Geschichte, die ich erzählen möchte, ereignete sich jedoch, als es nur Festnetz mit Schnur gab. Unser Telefon hatte eine grüne Farbe. Wir hätten auch beige, weinrot oder schwarz wählen können. Schon damals traute ich mich nur ungern zu telefonieren, denn ich wollte nicht stören und eigentlich auch nicht gestört werden. Das soll jetzt nicht heißen, dass ich ein kontaktarmer Mensch bin, aber ich schätze es, wenn ich mein Gegenüber persönlich sehen kann. Alles andere verwirrt mich.

Der Anruf erfolgte, als ich gerade das verspätete Mittagessen für meinen Sohn zubereitete. Ein paar Minuten konnte das Gemüse noch schmurgeln und das würde reichen, einerseits meine Neugier bezüglich der Herkunft des Anrufers zu befriedigen, anderseits mich kurz zu fassen, meine Kernkompetenz am Telefon. 

Die Stimme war männlich, soviel war mir sofort klar. Mit dem Namen Hanno konnte ich nichts anfangen, also ein Grund, den Hörer unverzüglich auf die Gabel zu legen. Doch der Anrufer schien gerade dies zu befürchten und redete wie ein Wasserfall. 

Er erwähnte meinen bereits verstorbenen Vater und seine verstorbene Mutter, die doch einst befreundet gewesen seien, und daher kenne er mich. Das letzte persönliche Treffen sei zwar schon länger her, dreißig Jahre, schätze er. Nichtsdestotrotz freue er sich auf ein Wiedersehen, da er nur fünfzig Kilometer von Düsseldorf entfernt wohne. Er wolle sich auch nur kurz auf eine Tasse Kaffee bei mir einladen.

Auch wenn ich mir schon lange keine Fotos mehr in meinen Fotoalben angesehen hatte, so hafteten die Bilder doch scheinbar ganz hartnäckig in meinem für die Erinnerung zuständigen Hirnspeicher, denn jetzt ploppten sie wie auf unsichtbaren Knopfdruck auf.

Ich sah mich in einem grünen Minikleid in die Kamera grinsen. Nur ich selbst wusste, was dieser unsichere, schüchterne Blick bedeutete. Ich war verknallt in den jungen Mann an meiner Seite. Er war von großer, schlanker Statur, blond, zehn Jahre älter als ich Fünfzehnjährige. Umrahmt wurden wir von unseren Eltern. Das heißt, sein Vater war nicht auf dem Bild, sondern betätigte sich als Fotograf. Hinter uns thronte ein Wasserschloss, in einen blauen Postkarten-Himmel gemeißelt. Der Besuch desselbigen war für mich weit weniger interessant gewesen als der junge Mann neben mir. 

„Wie kann man in dem Alter noch Sonntagsausflüge mit seinen Eltern machen?“, wunderte sich meine Mutter. Sie mokierte sich auch über die ehemalige Freundin meines Vaters, weil sie sich immer mit der Hand über den prallen Busen fuhr, als könnte er ihr sonst davonspringen. Sie hatte eine Dauerwelle. Ihre blond gefärbten Löckchen wackelten heftig, wenn sie uns etwas erzählte. Ich fand es lustig, ihr zuzuhören und sie anzuschauen. Am meisten lachte sie selbst über ihre Anekdoten von früher, nicht ohne vorher meinem Vater verschwörerisch zuzublinzeln, um mit einem „Nicht wahr, Siggi?“  Zustimmung zu erheischen. 

Meine Mutter mochte die ehemalige Freundin meines Vaters nicht. Das lag auf der Hand. Da sie zehn Jahre jünger war als ihre ehemalige Rivalin und deutlich besser aussah, hatte sie nichts zu befürchten. Dennoch schliefen die gemeinsamen Sonntagsausflüge ein. Zumindest nahm ich ein Jahr später nicht mehr daran teil. Mit sechzehn hatte ich andere Interessen, traf mich mit Freundinnen und Jungens in unserem Alter. Die Erinnerung an Hanno verblasste. Bis heute.

Das Gemüse auf dem Herd nahm einen verbrannten Geruch an und ich beeilte mich, mit Hanno einen Termin für den kommenden Sonntagnachmittag festzumachen. Ich wollte ihm Adresse und Wegbeschreibung mitteilen. Das habe er schon alles recherchiert und sei nicht nötig. Er freue sich auf ein Wiedersehen.

 

Pünktlich um 15 Uhr schellte es an der Tür. Der dreißig Jahre ältere Hanno wies Ähnlichkeiten mit dem Foto aus meinem Album auf, auch wenn er jetzt sichtlich dünner war und die Jahre Furchen auf seinem Gesicht hinterlassen hatten, was ihm aber gutstand, wie ich fand. Er hielt keinen obligatorischen Blumenstrauß in der Hand, sondern reichte mir diese zum Gruß.

„Schön, dass es geklappt hat“, murmelte er und ließ sich von mir auf die Terrasse geleiten. „Keinen Kuchen“, hatte er am Telefon gesagt. Ich hatte mich selbstverständlich nicht darangehalten. Auf dem Tisch prangte ein selbstgebackener Apfelkuchen, der seinen Duft verströmte. Ich hatte für drei eingedeckt und alsbald erschien auch mein Mann und begrüßte neugierig den Fremden.

Hanno erzählte von seinem beruflichen Werdegang. Er hatte Maschinenbau in Aachen studiert und danach eine Stelle in einer Firma angenommen. Mit vierzig hatte er eine jüngere Frau geheiratet, die eine Tochter mit in die Ehe gebracht hatte. 

Hanno schaute sich immer wieder im Garten um. An dem Stück Apfelkuchen kaute er endlos herum. 

„Schmeckt er nicht?“, erkundigte ich mich beunruhigt.

„Doch, doch!“, wehrte er ab.

Nach dem Austausch von Förmlichkeiten verabschiedete sich mein Mann und wir landeten im Gespräch bei unseren Eltern, bei seiner Mutter und meinem Vater, wie sie sich auf einem Ball kennengelernt hatten. Ich steuerte meine Version dazu bei, er seine, und wir lachten und amüsierten uns. Mein Vater sei steif gewesen, kein guter Tänzer. Seine Mutter hätte vor lauter Nervosität auf seine Füße getreten. Aber dann hatte mein Vater ihr die Großstadt gezeigt, in der er arbeitete und seine Mutter, die aus einer Kleinstadt kam, war begeistert gewesen von den Geschäften. Sie hatte sich einen großen Hut gekauft, auf den sie sehr stolz war, und an dem mein Vater sich immer wieder den Kopf stieß. Dann kam der Krieg und sie verloren sich aus den Augen und es war schon erstaunlich, dass sie sich nach vielen Jahren zufällig über gemeinsame Bekannte wiedergetroffen hatten. 

„Weißt du, dass ich nach dem Tod meiner Mutter Briefe von deinem Vater gefunden habe?“

„Und? Hast du sie gelesen?“, zwinkerte ich ihm zu.

Ich erwartete ein entrüstetes „Nein“ und hoffte doch auf ein „Ja“.

„Dein Vater konnte interessante Briefe schreiben. Er hat viel von seinen Geschäftsreisen nach Norwegen erzählt, dass er um Mitternacht noch eine Zeitung draußen lesen konnte, dass er ein Walfischsteak gegessen hat, dass er die Sauna ausprobiert hat und im Fjord geschwommen ist …“

Ich kannte diese Geschichten schon von meinem Vater.

„Hat er sonst noch etwas geschrieben?“, fragte ich ungeduldig.

„Ich glaube, die beiden haben sich mal sehr geliebt“, sagte Hanno.

Wir schauten beide verlegen auf mein Blumenbeet, wo Rosen und Hortensien um die Wette blühten, als ob wir auf ein Geheimnis gestoßen wären, das wir nicht hätten verraten dürfen und es doch getan hatten. Ich biss mir auf die Lippen.

Wir wechselten das Thema. Hanno hatte auch einen Garten und wir fachsimpelten.

„Du musst den Efeu zurückschneiden, sonst wuchert er dir alles zu!“ 

Er sagte es mehrfach und noch einmal beim Abschied.

Danach sah und hörte ich nichts mehr von ihm. Er war aus dem Nichts aufgetaucht und im Nichts wieder verschwunden.

Monate später – ich hatte Hanno schon fast wieder vergessen – da bekam ich einen schwarz umrandeten Brief.  Erschüttert las ich, dass Hanno gestorben war. Ich entdeckte den Namen seiner Frau, ihre Adresse und Telefonnummer und rief an.

Ich erfuhr, dass Hanno an Krebs erkrankt war und wusste, dass ihm nur noch wenig Zeit blieb. Er hatte beschlossen, sich bei Menschen zu verabschieden, die ihm wichtig waren.  Ich gehörte dazu, was mich erstaunte und sehr berührte.

Von Zeit zu Zeit betrachte ich sein Foto in meinem Album und suche zu ergründen, was er für mich damals empfunden hat.