Von Adriana Borra

Die alte Brücke wunderte sich. Der Gang war zu schnell für ihre geschwollenen Beine. Die Eile stand ihr nicht gut. Der Rollkoffer machte selbst auf dem nach beinahe zehn staubigen Baustellenjahren endlich vollendeten glatten Plattenbelag viel zu viel Lärm — und das in der ohnehin immer kürzer werdenden Zeitspanne, die es der alten Brücke erlaubte, dem Fluss zuzuhören, der doch eigentlich der Grund für ihre Existenz war. An kurzen Novembertagen konnte es auch tagsüber geschehen, dass sie das Paddeln der Enten, das Plätschern der Wellen auf den steinernen Stufen, das Fallen der ersten Regentropfen hören konnte, aber in diesem überhitzten Sommer gab es diese Menschenleere, nach der sich die alte Brücke sehnte, allenfalls in dem Viertelstündchen zwischen dem letzten torkelnden Nachtschwärmer und dem ersten Sisyphus der Stadtreinigung, der sich mit erstaunlichem Elan an die Reinigung der stets zugemüllten Flussinsel machte. Rrrrrrrr, machte der Koffer. Die Frau, die ihn zog, kannte sie schon lange. Wenn ihr steinernes Gedächtnis sie nicht täuschte, und es täuschte sie selten, hatte sie dieser Gestalt Hunderte von Malen beim Schleppen eines auf längere Abwesenheit schließen lassenden Gepäckstücks zugehört. Was zog diese Frau? Was zog sie weg? Was zog sie zurück? Was zog sie da hinter sich her?

 

Die alte Brücke war sich sicher, dass ihre Erlebnisse in keinster Weise hinter denen der Rollkoffer ziehenden bzw. gezogenen Frau zurückstanden. Und mit Erlebnissen meinte sie nicht die täglich mehrmals vielsprachig heruntergerasselten Fakten über Bruckmanderl und Teufelspakt und freie Reichsstadt und Napoleon. Sie meinte die kleinen Geschichten, die es nicht in die Geschichtsbücher und Zeitungen schafften. Sie hatte lange über den Touristen gelacht, der, nach Schießen des obligatorischen Selfies vor Altstadtkulisse, seiner Frau im Ton, den er sich wohl für die ganz großen Weisheiten aufhob, mitteilte: „Prague is better.“

 

Sie erinnerte sich an den jungen Mann, welcher an einem eisigen Februarmorgen gefährlich tief über das Geländer hing. Die Schuhe hatte er ausgezogen, die Wollmütze anbehalten. Sie war tief über seine Ohren gezogen, ließ aber die Augen so weit frei, dass ihm der Moment nicht entging, als die dicken Wolken weit genug aufmachten und es der Wintersonne erlaubten, die Altstadt in ihrer ganzen steinernen Schönheit anzustrahlen. Plötzlich kamen Dinge zum Vorschein, die im Dämmerlicht kaum sichtbar gewesen waren: die alte Dame, die am offenen Fenster den Meisenknödel erneuerte, die verfrorenen Tauben auf dem Leinpfad, die winterlichen Terrassen, vom Schnee in saubere Flächen verwandelt. Irgendetwas an den jäh angeleuchteten Domspitzen, der Brückenpassage, dem massiven Salzstadl und den Geschlechtertürmen schien den Wollmützenjungen daran zu erinnern, dass es genug Schönheit gab, um auch den kältesten Februartag auszuhalten.

 

Aber vielleicht war es auch der Verdienst des alten Herren gewesen, welcher sich auf seine Krücke abgestützt und mit einem liebenswürdigen „Tun Ihnen die Füße wohl sehr weh?“ an den Wollmützenjungen gewandt hatte. „Sehen Sie, deswegen trage ich auch bei diesem Wetter Sandalen. Meine Füße habe ich mir als eitler junger Kerl mit viel zu spitzen Schuhen ruiniert, die damals in Mailand der letzte Schrei waren. Die Hammerzehen sind ein sehr hartnäckiges Souvenir.“

 

Die alte Brücke kannte den Krückenmann schon lange. Sein Gang war mit den Jahren immer schleppender geworden und er hatte die Brücke in ihrer ganzen weltwunderwürdigen Länge schon lange nicht mehr durchmessen. Das hinderte ihn aber nicht daran, bei jedem Wetter — von ihr getragen — die Pracht der Altstadt in sich einzusaugen. Er kannte sie seit Jahrzehnten bei jedem Tageslicht und jeder künstlichen Beleuchtung und stand schwankend, sich an ihrem Geländer und seiner Krücke abstützend, da, wie auch jetzt vor dem erstaunten Wollmützenjungen. „Wissen Sie“, plauderte er weiter, „heute ist mein Geburtstag und da frage ich mich, ob es Ihnen Ihre schmerzenden Füße unter Umständen erlauben würden, mit mir einen Kaffee zu trinken. In Stadtamhof gibt es eine Kuchenbar, die ihrem Namen alle Ehre macht.“

 

Die alte Brücke hatte damals gleich ein gutes Gefühl in ihrem gar nicht steinernen Herzen gehabt und ihre durch bald neun Jahrhunderte geschulte Lebenserfahrung trügte sie nicht: der Wollmützenjunge und der Krückenmann wurden nach diesem Morgen ein gewohntes Paar, leicht wiederzuerkennen unter den ungeduldig vorwärtspreschenden Eintagsfliegen der Touristenhorden, auch als die Wollmütze schon längst gewichen war und der Krückenmann nur noch den kurzen Aufstieg von der Wöhrdinsel zum ersten Pfeiler schaffte, wo er stehen bleiben musste, was die beiden nie an ihrem ruhig weiterfließenden Gespräch hinderte.

 

Die alte Brücke kramte in ihrem hervorragenden Gedächtnis und fand: die Male, in denen die Rollkofferfrau Zeit gefunden hatte, dem Fluss zuzuhören und die Stadtkulisse anzustaunen, waren auf Begegnungen mit dem Krückenmann zurückzuführen. Selten hatte sie die Geduld gehabt, sich für mehr als ein paar Minuten auf seinen schleppenden Gang einzulassen, aber auch nach der kürzesten Begegnung war sie beschwingt weitergegangen. An diesem überhitzten Sommertag jedoch hetzte die Rollkofferfrau weiter und kam lange nicht wieder. Aber die Brücke, deren Verständnis von Zeit sich stark von der der Rollkofferepoche unterschied, verfügte über die ausreichende Muße, abzuwarten.

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