Von Christoph Klaus

»Wissen ist Macht.« Dieser Ausspruch, vor über hundert Jahren von einem russischen Philosophen und Staatsmann getroffen, hat seitdem nichts an seiner Gültigkeit eingebüßt. Im Gegenteil, in der heutigen, der Vorstellungswelt dessen Urhebers noch unzugänglichen Informationsgesellschaft scheint er so etwas wie eine allumfassende Wahrheit zu verkörpern. Leider verschließt uns diese Wahrheit die Augen vor einer vielleicht nicht minder bedeutsamen Frage: Wie steht es um die Macht der Unwissenheit?

Professor Ludemann saß in seinem Büro und rührte den Zucker in seinem Kaffee um. Er tat dies aus reiner Gewohnheit, denn beider Substanzen hätte es heute nicht bedurft. Blutdruck und andere Vitalparameter waren bereits auf Betriebsniveau; die anstehenden Ereignisse des Tages mit ihrem erhofften Ergebnis hatten alle körperlichen und geistigen Ausfallerscheinungen in den vorausgeworfenen Schatten gestellt. Immerhin könnte ihn das in einer halben Stunde beginnende Experiment zu einem heißen Anwärter auf den Nobelpreis machen. Manch einer seiner mindererfolgreichen Kollegen hätte ihn darum beneidet, aber für Ludemann als strengen Wissenschaftler war das alles uneitel Sonnenschein. Das Preisgeld würde er in seine Forschung, den Ruhm irgendwo anders hin stecken. Schließlich forderte sein »Baby« jegliche Aufmerksamkeit ein, materielle wie ideelle.

Sein »Baby«, das war der »Large Hadron Collider« am europäischen Kernforschungszentrum in Genf, jener Teilchenbeschleunigerring mit dem Energieverbrauch einer mittelgroßen Stadt zur Weihnachtszeit und den Ausmaßen deren U-Bahn, wenn sie denn eine besitzt. Seit den Anfängen dieses Projektes war er dabei – damals noch als junger Doktorand – und wie oft in dieser Zeit hatte er Kritik daran einstecken und im Gegenzug ausräumen müssen. Vergleichsweise harmlos waren da noch die Träger ökologischer Bedenken, die es als nicht gerechtfertigt ansahen, einen Ringtunnel von achteinhalb Kilometern Durchmesser im Alpenpanorama zu versenken, nur um Teilchen, die man nicht sehen kann, auf Geschwindigkeiten zu bringen, die man sich nicht vorstellen kann. Einen Zacken schärfer waren da schon jene Skeptiker mit ihrem fundierten wissenschaftlichen Halbwissen, die eine von dieser Apparatur ausgehende, nicht näher definierte Gesundheitsgefahr für sich vermuteten. Also die Leute, die Handynachrichten über die Gefahr von Mobilfunkmasten austauschen. Am schlimmsten aber waren diejenigen, die gleich mit der ganz großen Keule ankamen und behaupteten, in diesem Ding könnte ein schwarzes Loch erzeugt werden, das die Welt vernichtet.

Ludemann war nicht müde geworden, derartige Theorien zu negieren. Zwar hatte er als Physiker die prinzipielle Existenz schwarzer Löcher zu bestätigen, aber nicht in seiner Maschine! Die vernichtet keine Welt, allenfalls sich selbst. Ludemann konnte sich noch gut an den großen Unfall erinnern, als die Heliumkühlung der supraleitenden Spulen ausgefallen war, diese schlagartig ihren elektrischen Widerstand erhöht und die damit verbundene Hitzeentwicklung ein ziemliches Loch in die Anlage gesprengt hatte. Aber die Welt vernichten? Das war noch etwas anderes. Die Welt verstehen, um im Zweifelsfall ihre Vernichtung zu verhindern, darum ging es. Und das war wichtig, angesichts der vielen Gefahren, die im Universum lauerten und von denen die meisten bislang wohl noch nicht einmal bekannt waren. Sollte das heutige Experiment gelingen, wäre man auf dem Weg zur Erkenntnis einen kleinen Schritt weiter.

Für Ludemann war es Zeit, sich ins Labor zu begeben. Zwar hatte er Mitarbeiter, auf deren akribische Vorbereitung des Experiments er sich absolut verlassen konnte, den symbolischen Startknopf zu drücken, hätte er als Projektleiter sich dennoch nicht nehmen lassen. Der letzte Schluck Kaffee in der Tasse würde sich bis zu seiner Wiederkunft zu einem braunen Ring von perfekter Kreisgeometrie am Boden des Gefäßes eingedampft haben und ein exaktes Abbild seines »Babys« im Maßstab 1:150000 liefern. Damit konnte einfach nichts schiefgehen.

In Gedanken ging er alles noch einmal durch. Versuchsaufbau und -ablauf waren ja genauso wie sonst auch. Protonen oder Ionen werden in der Tunnelröhre gegenläufig beschleunigt, bis sie es auf die stolze Anzahl von 11000 Umläufen je Sekunde brächten. Das entspricht ca. 98 % der Lichtgeschwindigkeit. An den Kreuzungspunkten lässt man sie miteinander kollidieren, in der Hoffnung, unter der Vielzahl der dabei entstehenden Teilchen würde sich dieses eine befinden, nach dem man so angestrengt suchte. Bislang wurden für diese Versuche Protonen, also Wasserstoffkerne, oder Blei-Ionen verwendet. Für heute hatte sich Ludemann etwas anderes überlegt: Protonen mit Leichtmetall-Ionen kollidieren lassen. In Kürze würde er wissen, ob diese Überlegungen korrekt waren.

»Sie kommen gerade richtig. Die Vorbeschleunigungsphase ist gleich abgeschlossen«, meldete sein Assistent Dr. Axeler, der erst seit Kurzem im Team war und noch nicht wissen konnte, dass Ludemann immer zum richtigen Zeitpunkt erschien. Das war schließlich sein Job.

»Gut, dann lassen Sie uns loslegen.«

Ludemann setzte sich an sein Terminal, die Kommandozentrale, mittels derer er dem Monstrum seinen Willen aufzwingen konnte. Er überprüfte den Status der Anlage, dann startete er das Experiment.

 

Major Otschaka hatte als Erster die Gefahr erkannt. Korrekterweise muss man zugestehen, es waren die visionären Wissenschaftler gewesen, die deren potenzielles Eintreten schon vor langer Zeit vorausgesagt hatten. Aus diesem Grund war er jetzt genau an diesem Ort, wo Dienst tun zu dürfen er immer erträumt hatte. Bis gerade eben.

Otschaka war Offizier der Raumflotte des Planeten Titan und befehligte das Schiff »Nexis«. Im Moment war er damit auf Patrouille im Raumsektor Teti-5. Auftrag: Überwachung außerplanetarischer Aktivitäten. Normalerweise war das eine Routineaufgabe, unzählige Male ohne Vorkommnisse absolviert. Dieses Mal sollte es anders sein.

Als die Detektoren das Energiefeld erfasst hatten, war es bereits zu spät. Das Objekt näherte sich mit einer Geschwindigkeit, die jede Gegenmaßnahme zur Wirkungslosigkeit verdammt hätte, wäre die Handlungsfähigkeit nicht ohnehin in Paralyse aufgegangen. Zwar befand es sich nicht auf direktem Kollisionskurs mit der »Nexis«, mit hoher Sicherheit aber eines der Milliarden von Bröseln, in die es den Planeten – der letzten Berechnung des Bordcomputers zufolge – in exakt 1,43 Tisec zerlegen würde. Und denen gäbe es kein Entrinnen; die Kollisionsenergie würde die Bruchstücke auf das mindestens Hundertfache der Geschwindigkeit beschleunigen, für die die »Nexis« konstruiert worden war. Insofern stellte sich bezüglich des Entkommens aus dieser Gefahr nicht einmal die Frage »Wie?«, geschweige denn »Wohin?«.

Eigentlich wäre es in dieser Situation Otschakas Aufgabe gewesen, eine Alarmmeldung an das Flottenhauptquartier abzusetzen, aber er war sich nicht einmal sicher, ob die überhaupt auf Titan eintreffen würde, solange dieser noch aus einem Stück bestand. Geholfen hätte es sowieso nichts. Das war Schicksal. Eine gewaltige Explosion war das Letzte, das Otschaka sah, und wahrscheinlich war er der Letzte, der sie sah.

 

Die Bruchstücke des Titan-Ions schlugen auf Ludemanns Teilchendetektor auf und setzten Messungen in Gang, die Gigabytes an wissenschaftlichen Daten erzeugten. Otschakas Welt hatte im selben Augenblick aufgehört zu existieren und strafte die beharrlichen Beteuerungen des Professors Lügen. Jener war bezüglich der katastrophalen Folgen seines letzten Maus-Klicks unwissend, anderenfalls hätte das Experiment wohl aufgrund schwerwiegender wissenschaftsethischer Bedenken gestoppt werden müssen.

Hoffen wir wenigstens, dass uns Ludemanns Forschung weiterbringt, das Universum zu verstehen. Hoffen wir, damit den Gefahren begegnen zu können, die irgendwo da draußen auf uns warten, vielleicht schon den Weg zu uns angetreten haben. Und hoffen wir, sie mögen sich an die Regeln der uns bekannten Physik halten.

 

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