Von Raina Bodyk

Irgendwo in den Hügeln am Rand des Horizonts liegt ein beschauliches, kleines Dorf, in dem die Menschen noch freundlich und liebenswert miteinander umgehen, wo sogar Hund und Katz sich friedlich in den Gassen begegnen und der Briefträger gern zu Kaffee oder einem kleinen Likörchen eingeladen wird.
Nun weiß natürlich jeder Krimi-Fan, dass gerade in solcher Idylle die Abgründe der menschlichen Seele besonders tief und ruchlos sind. Aber hier gibt es so etwas nicht. Genau hier hat sich vor einiger Zeit etwas abgespielt, was die Gemüter erhitzt und die allgemeine Aufregung ins Unermessliche gesteigert hat. Und so begann alles:

*

In der Metzgergasse 23 wohnt Leni mit ihrem Freund und ihren zwei Wildfängen von Mädchen. Greta ist sieben, in der zweiten Klasse und bildet sich etwas darauf ein, erste englische Wörter zu lernen. Kati ist zwei Jahre jünger und ein bisschen neidisch, weil sie noch nicht in die Schule darf.

Eines Tages winkt Greta die jüngere Schwester mit heimlichen Gesten in ihr Zimmer und flüstert ihr ins Ohr: „Ich weiß jetzt, wohin Mama und Klaus in den Urlaub fahren!“

„Echt, wie hast du das rausgekriegt? Sie machen doch so ein blödes Geheimnis daraus. Ich find es total doof, dass sie uns überraschen wollen!“

„Ich habe gelauscht, als Mama mit ihrer Freundin telefoniert hat. Sie fliegen auf den Mond! Das ist streng geheim. Wenn die anderen Länder das rauskriegen, sind die bestimmt sauer und machen die Rakete kaputt, damit Mama nicht vor ihnen dort landen kann.“

„Dann wird Mama ja berühmt!“

„Ja, aber erst, wenn sie das mit Klaus geschafft hat. Sie hat sogar auf Englisch geredet, damit es keiner versteht: ‚Moon‘ hat sie gesagt. Das heißt ‚Mond’. Hatten wir gestern in der Schule.“

„Pooah!“ Kati schwankt, wen sie mehr bewundern soll, die schlaue Schwester oder die Mutter, die ins All aufbrechen will.

*

Die beiden Mädchen bauen sich mit stolz geschwellter Brust vor der Mama auf: „Wir wissen aber  jetzt, wo ihr hinfahrt!“

„Glaub ich nicht!“

Siegessicher schallt es unisono: „Doch! Du fliegst mit Klaus zum Mond!“

Leni grinst überrascht. Doch der Schalk sitzt ihr kitzelnd im Nacken: „Nein! Wie habt ihr das denn herausgefunden?!“

„Das war doch ganz einfach! Du hast am Telefon zu Tante Lisa gesagt, dass ihr zum Mond fliegt. ‚Moon‘, ich habe es ganz genau gehört.“ Greta brüstet sich stolz mit ihren Sprachkenntnisse.

Mama zeigt sich erwartungsgemäß sehr beeindruckt und muss bestätigen, dass die Kinder ihr Geheimnis erraten haben.

„Bitte, ihr dürft niemandem davon erzählen, das ist ein Staatsgeheimnis. Man kommt ins Gefängnis, wenn man das verrät. Ihr wisst ja, Klaus und ich haben uns auf der Uni kennengelernt, wo wir beide Sternkunde studiert haben.“

„Wir sagen kein Wort, Mama. Heiliges Indianerehrenwort! Aber du musst bitte, bitte den Mann im Mond von uns grüßen.“

„Ich bin sicher, darüber wird er sich sehr freuen. Vielleicht hat er ja sogar ein Geschenk für euch.“

In den nächsten Tagen stellen die Mädchen Fragen über Fragen, wollen alles ganz genau wissen. Ihrer Mutter macht es Spaß, immer neue Geschichten von fernen Planeten, dem Strahlen und Verlöschen der Sterne und natürlich Raumfahrern und ihren Abenteuern zu erfinden. Die Kleinen lauschen gebannt, können gar nicht genug kriegen. Leni ist sich ganz sicher, dass die beiden viel mehr Spaß an ihren abenteuerlichen Schilderungen haben, als wenn sie ihnen die Wahrheit über besagte Überraschung gebeichtet hätte.

*

Seit vier Tagen sind Leni und Klaus auf Reisen. Tante Lisa, die hoch und heilig versprochen hat, bei diesem Spiel mitzumachen, passt auf die Zwerge auf. Als diese gerade einkaufen ist, schellt der Postbote an der Tür. 

Durch die geschlossene Tür tönt es: „Wer ist da? Wir dürfen keinen rein lassen.“

„Ihr kennt mich doch, ich bin der Stefan, der euch die Post bringt und mit eurer Mama schon mal einen Kaffee trinkt. Mir dürft ihr bestimmt öffnen.“

Zögernd und sehr langsam öffnen die Mädchen die Tür, lugen durch den Spalt. 

„Ist eure Mutter da?“

„Nein, sie ist auf dem M …“ In letzter Sekunde gelingt es Greta, ihrer Schwester entschlossen den Mund zuzuhalten und ihr dringlich ins Ohr zu flüstern: „Willst du ins Gefängnis?!“

Ihre Schwester ist empört: „Ich wollte doch gar nicht sagen, dass sie auf dem Mond ist!“

„Kati!!“

Den Briefträger packt die Neugier. „Wo ist eure Mutter?!“

Greta wiegelt ab: „Hör nicht auf sie. Kati redet Unsinn. Mama macht mit Klaus Urlaub und Tante Lisa wohnt so lange bei uns.“

Der Postbote ist nicht dumm, er riecht es förmlich, wenn etwas Merkwürdiges in der Luft liegt. Er weiß, dass Leni etwas Technisches in München studiert hat. Hmmm … Etwa Astronomie? Würde ihn nicht wundern, sie ist verdammt schlau. Hat sie ihm nicht neulich erst seinen Fernseher repariert? Und ihm die Sternbilder erklärt? 

Er erzählt seiner Gattin, was er Geheimnisvolles erfahren hat. 

Else ist eine Frau, die immer alles ganz genau wissen muss. Sie beginnt methodisch zu recherchieren und spricht zuerst mit der Tante der Kinder. Sie unterzieht Lisa, so empfindet es diese zumindest, einem strengen Verhör. Was sie erfährt, jagt ihr einen Schauer der Erregung über den Rücken. Wenn das wahr ist!

Man muss wissen, die Briefträgersgattin ersetzt im Dörfchen sozusagen die Tageszeitung. Was sie weiß, weiß in kürzester Zeit der ganze Ort. Und sie weiß viel, schließlich verteilt ihr Mann die Post … 

Und so beginnt es zu raunen und zu wispern. 

Dem Lokalredakteur aus dem Nachbardorf kommen diese Gerüchte auch zu Ohren. Er denkt noch: ‚Was für ein Unsinn!‘ Aber es brodelt immer lauter, so dass er sich schließlich doch vor Ort ein Bild machen will. Er interviewt als erstes die prominenteste Klatschbase der Gemeinde. Schließlich ist jeder gute Journalist erfahren darin, in Nullkommanichts herauszubekommen, welche Informationsquelle am reichlichsten sprudelt. 

Und so ist schon am nächsten Morgen im ‚Tageblatt‘ zu lesen:

Auf zum Mann im Mond
Die in unserem Dorf lebenden Astronomen Lisa G. und Klaus B. wurden aufgrund ihrer maßgeblichen Raumfahrt-Forschungen im Auftrag der Bundesregierung zum Mond gesandt. Es wird die erste Landung deutscher Astronauten auf dem Erdtrabanten sein.

Der Postbote gibt sich so selbstgefällig, als hätte er selbst es in die Zeitung geschafft. Das ganze Dorf steht ihm darin in nichts nach. Auf dem Marktplatz mit seinen prächtigen, alten Eichen und mit seinem plätschernden Brunnen versammeln sich, ebenso wie auf sämtlichen Straßen, Kneipen und Geschäften, Grüppchen von Leuten. Strahlen vor Stolz, lachen, freuen sich.
Niemand wundert sich, nichts darüber in der Presse gelesen zu haben. Schließlich ist das Projekt ja streng geheim.

*

Endlich ist der große Tag gekommen. Die sehnlichst erwarteten Heimkehrer treffen ein. Man ist sich einig, dieses Ereignis muss ganz besonders gefeiert werden. 

Der Pastor hat mit seinem Kinderchor ein feierliches Willkommen eingeübt. Der Schützenverein hat eine Abordnung schmucker Uniformträger entsandt, samt Kapelle, ausgerüstet mit Trompeten, Hörnern und Schlagzeug. Der Bürgermeister hat eine Rede vorbereitet. (Wobei der Befehl seiner Frau lautet, bitte nicht so lang schwafeln wie sonst. Das hat sie tatsächlich wörtlich gesagt! Ihr Gatte ist zutiefst verletzt.) Die Einwohner haben sich fast komplett versammelt und wedeln mit bunten Fähnchen, die der Lehrer ausgeteilt hat. In der ersten Reihe natürlich Lisa, Greta und Kati. 

Leni und Klaus brauchen eine ganze Weile, bis sie verstehen, dass der ganze Aufwand ihnen gebührt. Wenn sie auch keinen blassen Schimmer haben, warum.

Erst bei der Rede des Herrn Bürgermeisters, bei der sich alle Kinder schleunigst auf den Spielplatz verziehen (sie kennen seinen endlosen Redeschwall), kommt ihnen die Erleuchtung. Nach der ersten Verblüffung, verbunden mit unverkennbarer Sprachlosigkeit, fangen sie schallend an zu lachen. Leni kullern die Tränen runter und hält sich den schmerzenden Bauch.

Sie erinnert sich an die Märchen vom Mond, die sie ihren Kindern erzählt hat. Aber wieso weiß die Gemeinde davon und wieso scheinen die sie ernst genommen zu haben?

Auch wenn sie keine Antwort dafür findet, versucht sie, den Versammelten zu erklären, woher dieses Gerücht möglicherweise gekommen ist. Es dauert noch eine ganze Weile voll Fragen, Vorwürfe, bis allen endlich das Absurde dieser Situation klar wird. Ohrenbetäubendes Prusten und Gackern, wie es der historische Marktplatz noch nie gehört hat, bringt die Welt wieder in Ordnung

*

Am späten Nachmittag sind sie endlich allein und Leni fragt neugierig ihre Kinder, warum sie das Geheimnis nicht bewahrt haben.

„Kommen wir jetzt ins Gefängnis?“, fragt Kati zitternd.

„Natürlich nicht! Ich habe euch einfach Geschichten erzählt. Ihr habt so gespannt zugehört und gefragt. Ich habe mich so über eure Begeisterung gefreut, dass ich mir immer neue ausgedacht habe.“

Jetzt wird Greta doch ziemlich ungehalten. „Du lügst! Bloß, weil es geheim ist. Ich habe es genau gehört. Du hast gesagt, dass ihr zum Mond fliegt! Du hast ‚Moon‘ gesagt und das heißt doch ‚Mond‘!“

Kati stimmt ihr zu: „Genau! Greta kann nämlich Englisch!“

Leni stutzt, dann versteht sie endlich: 

„Schatz, du hast recht. Aber ich habe noch ein englisches Wort gesagt. Das hast du sicher noch nicht in der Schule gelernt. Ich habe gesagt, Klaus und ich fliegen in den ‚Honey Moon‘. Die Überraschung ist nämlich, dass wir heimlich geheiratet haben. Die große Hochzeitsfeier werden wir alle gemeinsam mit dem ganzen Dorf begehen.“

Denn irgendwo in den Hügeln am Rand des Horizonts liegt ein beschauliches, kleines Dorf, in dem die Menschen noch freundlich und liebenswert miteinander umgehen.