von Maria Lehner  

Unter der Headline „Postbote fragt Kinder nach ihrer Mama…“ stand zu lesen: „Bisher als untadlig bekannter und allseits beliebter Postbote kränkt eine Person in ihrer Identität. Wird sie das Trauma überwinden können? Der Fall schlägt Wellen der Empörung in der kleinen Stadtrandgemeinde.“ Was folgte, beschrieb ein kleines Missverständnis und blähte es zum Eklat auf. Da die Lage der geschilderten Gemeinde eindeutig zuzuordnen war, hieß es bald: „Wer hätte so etwas für möglich gehalten! Ausgerechnet der Tscherntschitz?!“

 

Was war dem vorausgegangen?

 

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Ach, das war einer der Tage, an dem Höflichkeiten zu Fettnäpfchen und Freundlichkeiten zu Missverständnissen wurden. Hans Tscherntschitz spürte eine bleierne Müdigkeit. Es waren nicht die Briefe, die ihm aus der Hand rutschten, sondern vielmehr eine alte Welt, die ihm immer mehr entglitt. Er hatte stets als höflich gegolten und heute war er schon drei Mal rüde zurechtgewiesen worden. Zuerst von der Kollegin am Postamt, der er aus dem Mantel helfen wollte „Nein danke, nach dem dritten Herzinfarkt dann!“ hatte sie ihn angeblafft; ach ja: das galt als unzeitgemäß. Dann hatte er im Bäckerladen zum unverkennbar „orientalisch“ aussehenden Verkäufer gesagt „Sie sprechen aber schon gut Deutsch, Kompliment!“ und der hatte im Dialekt geantwortet: „Ja eh, in Felixdorf red´n ma Deutsch“. Alle hatten gelacht und er hatte eine Entschuldigung gestottert. Mittags wollte er einer Blinden über die Straße helfen, die tastend mit dem Stock unterwegs war; mit einem „Na warten´s, ich helf´ Ihnen!“ hatte er sich bei ihr untergehakt und sie hatte ihn lautstark gefragt, warum er glaube, Menschen mit einer Behinderung dürfe man einfach angrapschen. Alle hatten sie Recht. Irgendwie. Die Welt drehte sich so schnell, dass er taumelte und sich nach einem Job im Innendienst sehnte.

 

Aber auch solche Tage gehen vorbei. Der letzte Brief war zu übergeben. Der Postbote verglich die Briefanschrift und das Türschild der neu Zugezogenen. Tür 15, „Familie Andrea, Finn und Mika Schmalvogel“. Nett: Mutter, Vater, Sohn. Endlich wieder ein „ganz normaler“ Ausschnitt von Welt. Andrea Schmalvogel also, für die hatte er ein Schreiben. Er klingelte.

 

„Ich habe einen Einschreibbrief für Andrea Schmalvogel, für deine Mama, würdet ihr sie bitte holen?“ Zwei Kinder (waren es Buben? Waren es Mädchen? Man kann das heutzutage nicht immer sagen, die Welt ist mitunter verwirrend, dachte Tscherntschitz) schauten freundlich und eines sagte höflich: „Bitte treten Sie ein!“. Immerhin, konstatierte er, hatten die beiden gute Manieren.

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Er streifte die Schuhe an der Fußmatte ab, denn er war ein Mensch, der wusste, was sich gehört. „Ja, bitte?“ Die Person, der die verwunderliche Stimme gehörte (so tief, seine Frau klang auch so, wenn sie erkältet war) war schlaksig, groß, athletisch gebaut, eine Sportlerin vermutlich. Sie trug die Haare halblang, schlabbrige Jeans und ein übergroßes Holzfällerhemd. Wie die Frauen sich jetzt kleiden, richtig verunstaltend! Oder war das keine Frau, sondern eine athletisch gebaute Pubertierende? „Ah, der große Bruder! Ich würde die Mutti brauchen, Andrea Schmalvogel, für sie habe ich einen eingeschriebenen Brief“. Wie viele Kinder würden da noch kommen? Es standen wohl doch nicht alle Namen an der Tür.

 

Der Tscherntschitz-Hans wurde scheu angelächelt und war verunsichert: Was war das denn nun – eine Frau, die wie ein Mann aussah, der irgendwie an eine Frau erinnerte oder ein Mann, der wie eine Frau aussah, die ein bisschen was von einem Mann hatte?

 

„Andrea Schmalvogel, ich bin der Vater!“ sagte die seltsame Stimme. Der Postbote war sprachlos. Er blickte noch einmal auf das Türschild: Nein, das war bestenfalls Finn, der Ehemann, das sah man doch! Er wollte in seiner Amtswürde ernstgenommen werden. So blieb er erst einmal stehen, um sich zu fassen und hörte: „Ich warte auf ein amtliches Schreiben, das für mich sehr wichtig ist. Ein Bescheid. Das ist es doch, nicht wahr?“

 

„Ja“ brummelte Hans, „ein Bescheid vom… aber eben für Andrea Schmalvogel und nicht für Sie“. Eines der Kinder, das ihm geöffnet hatte, sagte: „Aber Papa heißt Andrea!“ Nun sagte die Person auch noch zum Mädchen „Lass nur Finn, ich hole die Identitätskarte“. Was? Das sollte Finn sein? Ein Mädchen mit einem Männernamen? Jetzt wurde Hans zornig und alle Szenen des Tages zogen an ihm vorbei. War er verrückt geworden? Waren alle rund um ihn meschugge? Seine Amtsautorität schien ihm wie ein Haltegriff, der ihn diesmal nicht straucheln ließ. Zackig knallte er den Abholschein auf das Garderobenkästchen. Mit einem scharfen und deutlich artikulierten „Auf dem Postamt mit Ausweispapieren abzuholen!“ trat er aus der Tür – und weg war er.

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Andrea war Mutter und Vater gleichzeitig. Das bekam er hin, wenngleich die ersten Jahre als Witwer ihn in jeder Weise gefordert hatten. Und er hatte schon ein paar Jahrzehnte Zeit gehabt, sich an seinen Namen zu gewöhnen. „A Boy Named Sue“, der Song des Johnny Cash, ging ihm wieder durch den Kopf. Da war ein gewisser Sue Kerr Hicks, ein Richter aus Madisonville in Tennessee „Sue“ genannt worden – nach der bei seiner Geburt verstorbenen Mutter. Er hatte über achthundert Mordfälle zu richten gehabt, aber berühmt geworden war er durch seinen Vornamen. Sue. Wie Andrea. Von Berühmtheit weit entfernt. Immer wieder Ärger. Andreas Vater hatte gemeint: „Dein Name ist Italienisch. Andrea Doria, der genuesische Admiral und Fürst von Melfi oder Andrea Bocelli…“. Das hatte Andrea nie überzeugt: „Seems I had to fight my whole life through“ hieß es im Lied von Johnny Cash. Er konnte „Sue“ gut verstehen. Das mit dem Rotwerden, wenn die Mädchen kicherten. Wie es wohl Finn (als Mädchenname bedeutet das „die Blonde“) und ihrem Bruder Mika mit ihren Namen ging?

 

Ein paar Tage später ging Andrea ins Postamt, hielt unaufgeregt sein Ausweispapier hin und sagte „Mein Name ist Andrea Schmalvogel und ich möchte ein Schreiben abholen“. Das wurde ihm mit einem höflichen „Bitteschön“ und einem verstohlenen Blick auf seinen Personalausweis und in sein Gesicht übergeben.

 

In den darauffolgenden Tagen erzählte Andrea die „Wieder-einmal“-Geschichte als Schnurre auf dem Arbeitsplatz, in seiner Tennisrunde, beim Gespräch im Baumarkt. Ganz ohne Anklage nur zur Unterhaltung. Finn erzählte sie ihren Schulfreunden und Mika dem Papa seines Freundes. Hier und dort gab man sie zum Besten. Andrea las sie irgendwann einmal in der Zeitung: „Postbote fragt Kinder nach ihrer Mama…“. Dick aufgetragen und übertrieben. Typisch Zeitung eben. Und keiner hatte bei ihm nachgefragt. Er wunderte sich und vergaß bald darauf alles.

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Auch Hans Tscherntschitz hatte die Angelegenheit längst vergessen, als er ins Personalbüro gerufen wurde. Er war sich sicher: Da ging´s um die von ihm schon lang ersehnte Versetzung in den Innendienst! Man belehrte ihn darüber, dass er ein Mitglied der Personalvertretung zu dem Gespräch zuziehen könne. Er lachte breit und sagte: „Aber nein, warum denn auch?!“

 

Als man ihm dann aber den Zeitungsausschnitt hinhielt („Postbote fragt nach Mama…“) wurde er von Zeile zu Zeile blasser. Was?! „Postbote kränkt eine Person in ihrer Identität… Wird sie das Trauma überwinden können?“

 

Der Tscherntschitz-Hans wurde gerügt. Er konnte sich nicht erinnern, dass er früher jemals in seinem Leben – nicht in der Schule, nicht in der Kirche, nicht in der Öffentlichkeit – wegen irgendetwas beanstandet hätte werden müssen. Er hatte doch immer… Das sahen seine Vorgesetzten auch so und beließen es bei der mündlichen Abmahnung. In seinen Personalakt nahmen sie lediglich den Vermerk auf: „…. wurde über geschlechtsneutrale Vornamen informiert“.

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