von Bernd Kleber

 

21! Volljährig! Einundzwanzig Jahre ist es her, dass seine Geschichte den Weg in die Zeitung fand. Er hatte diesen Artikel von damals, gerahmt an der Wand hängen. Das Foto zeigte seine Schwester Laura und die hielt ihn im Arm.

Überschrieben war der Zeitungsartikel mit „Postbote fragt Kinder, wo Mama ist: Mit dieser Antwort hatte er nicht gerechnet“.

Er war damals sieben Monate alt.

Seine Mutter, nach der gefragt wurde, war nicht zuhause. Und das schon drei Tage lang.

***

Maurice schrie, schrie ohne Unterlass. Laura wusste nicht, was sie tun sollte. Sie hatte die Pampers gewechselt, zuvor den Popo sauber gewaschen und mit der weißen festen Babycreme schön eingeschmiert. Danach hatte sie die Papppackung aus dem Schrank genommen und die Milch angerührt, wie sie alles von Ma gelernt hatte. Es dann in dem Flaschenwärmer erhitzt und erst ihrem Bruder gegeben, als der Tropfen nicht mehr in der Armbeuge pikste wie ein Wespenstich. Mama sagte immer: „Du wirst mal eine bessere Mutter als ich!“.

Laura hatte ihrem kleinen Bruder zugeschaut, wie er die Milch hastig trank und dabei leise grunzte. Und das bereitete ihr trotz Sorgen ein Lächeln ins Gesicht.

Immer wieder schaute sie zur Uhr. Weil sie das nun schon so oft getan hatte, schlug sie sich jetzt jedes Mal gegen die Stirn, als wolle sie sich ermahnen nicht nach der Zeit zu sehen.

Der Fernseher lief im Dauerbetrieb. Sogar in der Nacht war sie aufgestanden und hatte merkwürdige Cartoons gesehen, die sie nicht verstand, während sie ihren Bruder versorgte. Maurice hatte wieder geplärrt. Und sein Plärren klang, als würde er immer wieder „Uaahmom, uahhhmom!“ schreien.

Irgendwann hatte Laura sich die Ohren zugehalten.

Später lief sie zur Tür und öffnete sie nur einen klitzekleinen Spalt, obwohl sie das nicht durfte. Es war streng verboten sogar. Sollte es klopfen oder klingeln, hatte sie die Aufgabe, von innen nur zu rufen, dass niemand zuhause sei. Aber Mama hatte gemeint, sie käme ohnehin gleich wieder, wäre nur für eine Stunde unterwegs, ihrem Boss zu sagen, wann sie wieder arbeiten käme. Laura solle sich keine Sorgen machen, sich neben das Kinderbett setzen und schön aufpassen, dass Maurice ruhig schlafe. Ihre Ma war eilig hin und her gelaufen und hatte gemurmelt, es ginge nicht anders, es müsse so. Für eine Stunde sei die KITA zu teuer. Seitdem hatten Laura und ihr Bruder zweimal geschlafen. Als Herr Mond am Himmel stand, war das Mädchen zu ihrem Bruder ins Babybett gekrochen.

Der Flur war einsam und leer und kalt. Es blies sie der eisige Zugwind an. Sie schloss die Tür schnell wieder.

Mama war immer noch nicht da.

Ihr Brüderchen schien Mama sehr zu vermissen, denn er schrie und schrie, selbst als er sauber und satt war.

Sie hielt ihn im Arm und sang leise Lieder, die sie im Kindergarten gelernt hatte. Die Kindertagesstätte war im gleichen Haus, wo Ma arbeitete, das hatte ihr Boss so eingerichtet. Und nun würde Maurice mit ihr gemeinsam dorthin gehen. Sie freute sich schon, war stolz, denn alle würden ihren schönen Bruder bewundern. Nur Schreien mögen die Tanten nicht bei Babys. Das hatte Laura mitbekommen, als Lucies Schwester die ganze Zeit weinte.

Sie bugsierte Maurice in die Wiege und stellte den Mechanismus an, der die Liegefläche sanft hin und her schaukelte. Das half, ihn zu beruhigen, und Maurice schlief besser als im Kinderbett.

Laura legte ihre Stirn an die kalte Scheibe des Fensters und schaute hinunter in die Tiefe. Dort waren überall Autos, Motorräder, Fahrräder und Menschen. Die fuhren und eilten hin und her. In der Wohnung hörte man davon nichts. Am Himmel lächelte die Sonne hinter einem kleinen Schäfchen hervor und schubste das dann weiter. Das Lämmchen lief zu seiner Herde und galoppierte mit denen zum Horizont. Sie winkte der Frau Sonne zu und die schmunzelte noch wärmer zurück.

„Sonne, liebe Sonne, warum kommt Mama nicht zurück, wie sie versprochen hat? Es war schon zweimal Herr Mond am Himmel. Und bald sind auch die Frosties alle. Dann sind nur noch die Kekse da. Hat Mama uns vergessen?“, Laura schnaufte.

Die Sonne strahlte weiter. Das beruhigte das Kind. Sicher wird sie jeden Augenblick da unten an der Ampel stehen und ihr zuwinken und ihr etwas erklären und sich danach freuen, wie gut Laura alles mit Maurice bewältigt hatte, dachte es.

Die Klingel zerriss die Stille. „Mist!“, flüsterte Laura, denn Maurice sollte nicht wachwerden. Und dachte: ‚Mama!‘.

Dann rannte sie lächelnd zur Tür und hielt kurz inne. Was solls! Das musste ja Mama sein, sie riss die Klinke herunter.

Paul stand im Flur und grinste. Laura kannte den Postboten. Er war ihr Freund und hatte sie sogar einmal in den Kindergarten begleitet, als es um die Lieblingsberufe ging. Laura wollte später auch Postbotin werden.

„Hi Laura! Wo ist denn deine Mama?“

Laura sah Paul an und hob ihre kleinen Schultern. „Weiß nicht! Sie kommt gleich wieder, hat sie gesagt!“

„Hm, ich habe einen Brief, für den muss sie unterschreiben, dass sie ihn erhalten hat.“, Paul machte eine Pause, „Darf ich kurz reinkommen? Wann ist sie denn weg?“.

Der Briefträger konnte sich nicht vorstellen, dass Maria Gonzales ihre Kinder länger ohne Aufsicht lassen würde. Er wollte nicht noch einmal mit dem Brief kommen, würde den Rest seiner Tour ohnehin gut schaffen. Wenig Post war das heute. Da tat eine Pause gut und die Kinder wären nicht allein.

„Komm rein Paul, aber sei leise, Maurice schläft!“

Beide schlichen auf Zehenspitzen kichernd ins Wohnzimmer zum Küchentresen. Laura nahm einen Hocker, kletterte hinauf und griff ein Glas aus dem Schrank. Dann bückte sie sich, hielt sich gut fest und stieg wieder hinab.

„Oh, Höhensturm auf dem Denali“, unkte Paul.

„Was ist Denali?“, fragte Laura.

„Der höchste Berg in Alaska!“, sagte Paul und vollführte eine Bewegung die weit nach oben wies und zurück. Dann schlug er sich seine Arme um den Leib und äffte eisige Kälte nach: „Uh, ah, kalt, Wind, boah, was für ein Wetter!“.

Laura lachte und goss nun aus der großen Flasche Wasser ein, reichte das Glas ihrem Freund. Sie sah ihn an und knetete ihre Unterlippe. Sollte sie etwas sagen? Dann klang sie heiter: „Gleich kommt Mama und du kannst ihr den Brief geben. Hast du noch viel zu tun?“.

„Nein!“, Paul nahm einen Schluck Wasser und wischte nach einem lauten „Ahh!“ den Mund mit seinem Handrücken ab. „Wo wollte denn deine Mama hin?“

„Sie wollte ihrem Boss sagen, dass sie wieder arbeiten kommt, vielleicht musste sie gleich anfangen und von dem was sie nicht geschafft hatte etwas erledigen? Sie war ja eine Weile nicht im Büro.“

Paul rutschte das Glas aus der Hand! Es krachte. Und Maurice schrie wieder!

„Was?“, fragte Laura, „Hast du dich verschluckt?“. Sie sah in Pauls Gesicht, das sich merkwürdig verändert hatte. Kein Clown mehr! Und ging zur Wiege, schaukelte sie stärker. Ihr Bruder beruhigte sich.

„Nein!“, Paul hustete, „Wann ist deine Mutter los zu ihrem Boss?“.

„Zweimal war es schon dunkel!“, Laura schob die Kekspackung in Richtung Paul und holte Handfeger und Müllschippe.

„Vor zwei Tagen …“, murmelte Paul und hockte sich vor das Mädchen nieder, ergriff ihre Hände und entnahm ihnen die Haushaltsgeräte, die er vorsichtig ablegte. Laura schob ihre Unterlippe vor und verzog das Gesicht. „Du machst mir Angst, Paul! Sie hat doch versprochen, sie bleibt nicht lange.“

Paul war blass und setzte sich auf den Boden.

Laura trat dichter zu ihm und strich über seinen Kopf: „Ist dir schlecht? Hast du Hunger? Ich habe noch ein paar Frosties.“

Dann beobachtete sie in Pauls Gesicht Tränen, die herabkullerten. Er starrte sie reglos an.

Laura umarmte ihn. „Du brauchst doch nicht traurig sein, kommst du eben morgen nochmal wieder, dann ist Mutti bestimmt wieder hier. Ich sage ihr, dass du einen Brief für sie hast, okay?“

Paul lächelte mit verweinten Augen.

Dann griff er zum Telefon und wählte die 911.

***

Später waren er und seine Schwester erst in ein Heim gekommen, bevor sie gemeinsam adoptiert wurden, erinnerte sich Maurice. Von Paul und seiner Frau!

Seine Mutter war am 11.09.2001 ins Büro gefahren, um nach ihrer Babypause den neuen Vertrag zu unterschreiben. Sie hielt sich in einem der 110 Stockwerke des Nordturms vom World Trade Center auf, als ein Flugzeug in diesen hineingerast war. Sie wurde unter 2753 Opfern identifiziert.

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