Von Sonja Ziegler

Nach dem globalen Kollaps des Kapitalismus und der Abschaffung sämtlicher Zahlungsmittel waren die Menschen zu ihren Ursprüngen zurückgekehrt.

 

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Der Gesang der Lerchen holt mich sanft aus meinen Träumen. Ich trete hinaus in den Garten und beginne den neuen Tag mit ein paar Sonnengrüßen, fülle meine Lungen mit den süßlichen Aromen, die von der Blumenwiese herüberwehen. Zwei Schafe gesellen sich zu mir, knabbern genüsslich an saftig grünen Grashalmen und schlendern gemächlich über die Wiese. Ich setze mich unter einen Tulpenbaum und stimme meine morgendliche Meditation an, begleitet vom geschäftigen Surren der Bienen. Ein zartgelber Schmetterling landet auf meiner Schulter und zaubert mir ein Lächeln ins Gesicht.

 

Danach ist es Zeit für ein erfrischendes Bad. Auf dem Weg zum Wasser zupfe ich mir eine Handvoll Blaubeeren von den Sträuchern. Der Wald ist voll davon. Tannennadeln prickeln leicht an meinen Fußsohlen. Glasklar und kühl liegt der See im rosaroten Schein des Sonnenaufgangs. Nachdem die Menschen keinen Fisch mehr verzehren, haben sich die Bestände weitestgehend erholt und alle Gewässer haben wieder Trinkwasserqualität. Mensch und Tier leben nun einträchtig und gleichberechtigt im Einklang mit der Natur. Ich schwimme weit hinaus bis zur Sandbank, lege mich auf die warmen Steine. Die Sonnenstrahlen streichen sanft über meine nackte Haut.

 

Die Gemüsegärten liegen gleich hinter der großen Hanfplantage. Der Hanf liefert das Rohmaterial für unsere Behausungen und Textilien und die heilende Wirkung von Hanföl und Cannabis ist ja schon seit Urzeiten bekannt. Am späten Nachmittag setzt oft ein leichter Sprühregen ein und versorgt unsere Felder mit ausreichend Feuchtigkeit.

Einige Mitglieder unserer Kommune sind schon auf den Beinen, entfernen sorgfältig das Unkraut zwischen den Pflanzen.

 

Die meisten hier sind schon über 70, also im besten Alter. Dank der veganen Ernährung, des Niedergangs der Pharmaindustrie und einer achtsamen Lebensweise liegt die durchschnittliche Lebenserwartung weltweit bei 105 Jahren – 90 ist das neue 50!

„Namasté!“, grüße ich in die Runde und winke. Bei der Arbeit auf den Feldern wird nur wenig gesprochen. Jeder weiß intuitiv, was zu tun ist und bringt seine Talente und Fähigkeiten in die Gemeinschaft ein. Achtsamkeit ist oberstes Gebot, Multitasking nur noch ein Unwort aus grauer Vorzeit.

 

Seit das Automobil aus der Mode gekommen ist, und die Menschen sich weltweit nur noch per pedes fortbewegen, liegt die Tageshöchsttemperatur immer konstant bei 25 Grad. Warme Kleidung wird also gar nicht mehr benötigt und die meisten Menschen haben beschlossen, ganz darauf zu verzichten. Die großen Migrationsbewegungen der frühen 2000er sind längst Geschichte. Es herrscht allgemeine Freizügigkeit. Aber wozu in die Ferne schweifen? Die Lebensbedingungen in den verschiedenen Kommunen unterscheiden sich nur unwesentlich, haben sich auf einem guten Niveau eingependelt.

 

Die Gartenarbeit hat mich hungrig gemacht und ich begebe mich zum großen Gemeinschaftszelt. Dort wird gerade die erste Mahlzeit des Tages zubereitet. Zwei Frauen verteilen bedächtig Obstsalat und Getreideschrot auf Bananenblätter. Gekocht wird hier nur selten, viel zu kostbar sind die in den rohen Früchten enthaltenen Nährstoffe. Obwohl Menschen aus über zwanzig Territorien in unserer Kommune leben, funktioniert die Verständigung einwandfrei. Die Sprache als Kommunikationsmittel hat ihre Bedeutung schon vor vielen Jahren eingebüßt und die gemeinsamen Mahlzeiten werden meist schweigend eingenommen. Es gibt einfach nichts mehr zu sagen, das Leben an sich ist selbsterklärend.

 

Nach dem Frühstück laufe ich hinüber zum Haupthaus, dem Herzstück unserer Gemeinde. Ich öffne die schwere Holztür, durchschreite den riesigen Saal und atme tief ein. Die Wandregale biegen sich unter der Last der vielen Bücher – es müssen wohl Tausende sein! Alle Kommunen weltweit verfügen über solche Sammlungen – Relikte einer längst vergangenen Epoche. Neuerscheinungen gibt es nicht mehr. Alle Gedankengänge, zu denen die Menschen jemals fähig waren, sind bereits hinreichend dokumentiert worden. Ich greife ins Regal und ziehe aufs Geratewohl eins der Bücher heraus – In 80 Tagen um die Welt – total verrückt!

 

Am späten Nachmittag treffen wir uns wie jeden Tag zum Ecstatic Dance im Gemeinschaftszelt. Der berauschende Klang der Trommeln lässt uns immer schneller im Kreis herumwirbeln, während das Cannabis nach und nach seine volle Wirkung entfaltet – mehr Drogen braucht kein Mensch!

 

Die Vergangenheit ist bedeutungslos geworden, die Zukunft nur noch ein vages Versprechen. Die Geradlinigkeit eines Menschenlebens ist längst aufgehoben. Das höchste Glück aller Lebewesen liegt nun in der ständigen Wiederholung. Wenn das Tageslicht langsam schwindet, ziehen wir uns paarweise oder in kleinen Gruppen zum Schlafen in unsere Behausungen zurück. 

 

Ein hektisches Klopfen an meiner Tür reißt mich aus dem Tiefschlaf. Wer mag das sein? Ich öffne die Tür. Vor mir steht ein junger Mann in einer altmodischen, gelb-rot gemusterten Uniform mit einem Paket unter dem Arm, auf dem ein Schriftzug prangt, der mir entfernt bekannt vorkommt.

„Was soll denn das? Ich hab nichts bestellt!“, rufe ich entrüstet, als meine Behausung von einem starken Beben erschüttert wird… 

 

…und panische Rufe an mein Ohr dringen:

„Schatz! Schaahaatz …! Jetzt wach doch endlich auf! Wir haben verschlafen – es ist schon fünf vor 12!“

 

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