Von Nils Dürr

Nachdenklich betrachtete Zor die blaue Kugel vor sich auf dem Bildschirm. Dieser Planet schien perfekt geeignet zu sein, um die Versorgungsprobleme der Grg zu lösen. Es gab mehr als genug Kohlenstoffdioxid für ihre Ernährung. 

 

Jetzt wartete Zor auf den Bericht der Aufklärungsabteilung, um zu erfahren, mit welchen Schwierigkeiten bei der Besiedlung dieses Planeten zu rechnen war. Die Grg rechneten alles aus. Sie waren eine Spezies, die fast vollkommen durch Logik gesteuert wurde.

 

Der Lautsprecher knackte, dann erklang die Stimme Bars von der Aufklärungsabteilung. „Es gibt Neuigkeiten. Diese Welt scheint für eine Übernahme durch uns nur bedingt geeignet.“

 

Zor fragte sich, was die gefährlichsten Bewohner dieses Planeten für eine Bedrohung sein konnten? Sie waren aus wenig komplexen Eiweißverbindungen und Wasser bestehende Kreaturen. Sie glaubten zwar, den Planeten zu beherrschen, hatten aber kaum genug Verstand, um auch nur näherungsweise mit dem Wissen der Grg mithalten zu können.

„Berichten!“, wies Zor an.

 

Auf dem Bildschirm erschien eine Präsentation. Bars Stimme erklärte die Bilder, Videos, Tabellen und Statistiken.

„Die gefährlichsten Bewohner dieses Planeten, den sie Erde nennen, sind Kreaturen, die sich selber als Menschen bezeichnen und davon ausgehen, dass ihre Intelligenz derjenigen aller anderen Geschöpfe auf ihrem Planeten überlegen ist. Es gibt ein Aussage unter ihnen, dass sie die Krone der Schöpfung seien.“

 

„Gut für uns“, meinte Zor. „Wer sich für unfehlbar hält, macht Fehler. Und vor allem rechnet man dann nicht genau genug.“

 

Bar fuhr fort. „Ihre Eiweißstruktur und die neuronalen Netzwerke ihrer Körper sind primitiv. Sie produzieren Kohlenstoffdioxid im Übermaß, können es aber nicht wieder verwerten oder eliminieren und so richten sie die Erde langsam zugrunde. Unseren Berechnungen nach, wird der Kipppunkt für das Klima des Menschenplaneten in 6 Jahren, 103 Tagen, 7 Stunden und 43 Minuten erreicht. Dann wird alles sehr schnell gehen, bis der Planet nicht mehr bewohnbar ist für die Menschen. Ohne sie wird aber die Kohlenstoffdioxidproduktion rasch zum Erliegen kommen.“

 

„Und wo liegt dann der Haken für uns? Man sollte meinen, dass wir die Menschen leicht als unsere Sklaven unterwerfen könnten, die für uns weiter Kohlenstoffdioxid produzieren müssen“, warf Zor ein.

 

„Das Problem ist, dass diese Wesen vollkommen unberechenbar für uns sind. Fast alle ihre Handlungen basieren auf chemischen Reaktionen in ihren sogenannten Gehirnen. Sie besitzen etwas, was sie Emotionen nennen. Eine der wichtigsten nennen sie Glück oder manchmal auch Freude. Unsere Scans haben ergeben, dass Glück durch vier verschiedene Moleküle hervorgerufen werden kann.“


Zor betrachtete auf dem Bildschirm eines dieser Moleküle. Darüber erschien der Begriff Endorphin. Ein solches Molekül hatte Zor noch nie gesehen. Es schien unscheinbar und trivial. So sehr es sich auch bemühte, es konnte nicht erkennen, wie dieses Endorphin funktionieren sollte.

„Was macht es?“, fragte es Bar.

 

Statt zu antworten, startete dieses einen Film. Ein Mensch war zu sehen. Der Mensch bewegte sich auf den zwei Bewegungsfortsätzen am unteren Ende seines Körpers recht schnell voran. Eine Anzeige über dem Bild zeigte den Erschöpfungsgrad der beobachteten Kreatur, welcher langsam, aber stetig, zunahm. Als die Anzeige das Limit zeigte, rannte der Mensch plötzlich etwas schneller und hielt noch einige Zeit länger durch. Gleichzeitig erschien ein Scan des Gehirns der niederen Eiweißkreatur und ein Areal leuchtete hell.

 

Bar sagte: „Das Molekül Endorphin macht, dass die Menschen trotz erschöpfter Kraft noch weiter machen können für einige Zeit und etwas, was sie Schmerz nennen, nicht sofort verspüren. Sie sind dann in der Lage, über die Limitationen ihres Körpers hinaus zu funktionieren.“

 

So etwas hatte Zor noch nie gesehen. Es war nicht zu berechnen, wann diese Wesen keine Kraft mehr hatten. Das stellte ein Problem dar. Die Grg konnte so nicht berechnen, wann die Menschen ihnen nichts mehr würden entgegensetzen können.

 

Ein weiteres Molekül wurde auf Zors Bildschirm angezeigt. Darüber stand Dopamin. Die Anzeige wechselte und zeigte einen Menschen, wie er versuchte an etwas Kleines, Gebogenes, Gelbes an einer Pflanze zu kommen. Der Scan des Gehirns dieses Exemplars leuchtete an anderer Stelle und erlosch erst, als der Mensch das gelbe Ding erreicht hatte, eine Haut entfernte und es sich in eine Öffnung am oberen, kugeligen Ende seines Körpers steckte.

 

Zor begriff, dass diese Kreaturen etwas in ihren Körpern besaßen, was sie Ziele verfolgen ließ. Sie schienen nicht aus Logik heraus Ziele zu verfolgen, sondern wenn die Chemie in ihren Gehirnen dies befahl. Auch dies war eine Eigenschaft der Menschen, die sie für die Grg nicht berechenbar sein ließen.

 

Zors Mission, eine neue Heimatwelt oder zumindest Nahrungsquelle für die Grg zu finden, schien gerade unlösbar geworden. Bisher waren sie davon ausgegangen, dass sie, wenn sie einen passenden Planeten gefunden hatten, diesen würden erobern müssen. Die Grg hatten angenommen, dass sie dabei keinen Fehler begehen würden, da sie im Voraus würden berechnen können, wie viele von ihnen geopfert werden mussten, um den neuen Planeten zu unterwerfen. Aber mit diesen Menschen wurden Berechnungen sehr schwierig. So konnten keine verlässlichen Vorhersagen gemacht werden.

Doch die Präsentation von Bar war noch nicht zu Ende. Ein weiteres Molekül wurde angezeigt. Es hieß Serotonin.

 

Ein weiteres Video zeigte viele Menschen in einem Gebäude. Einige sprachen. Immer wieder kamen einzelne vor die Gruppe und bekamen kleine, goldene Gegenstände überreicht, welche vage wie Menschen aussahen und vor sich einen Gegenstand hielten. Die Scans der Gehirne zeigten bei den mit einem goldenen Gegenstand bedachten Menschen und denen, aus deren Gruppe sie hervorgetreten waren, ein Aufleuchten in einem wieder anderen Areal des Gehirns als bei den bisherigen zwei Molekülen.

 

Bar erklärte: „Wenn sie Ziele erreichen, Pläne verwirklichen oder sie etwas erledigt haben, dann fühlen sich die Menschen gut. So arbeiten sie trotz fehlender Logik und Gehirnkompetenz zusammen. Und das letzte Molekül ist noch viel effektiver.“

 

Erneut flammte der Bildschirm auf und ein Video lief ab. Diesmal zeigte sich eine Szene, in der ein Mensch lag, die zwei Bewegungsfortsätze am einen Ende des Körpers weit gespreizt. Der Mensch schrie und stöhnte. Aus einer Spalte zwischen den beiden Bewegungsfortsätzen wurde langsam ein Loch und dann kam noch ein Mensch aus dem ersten Menschen heraus. Sofort eilte ein anderer Mensch herbei und nahm den kleinen Menschen und wickelte ihn in Tücher. Ein anderer Mensch hielt die Kugel, in der das Gehirn des ersten Menschen steckte. Schließlich war da noch ein Mensch, welcher mit einem kleinen, metallischen Gegenstand eine Schnur zwischen dem neuen Menschen und dem, aus dem er herausgekommen war, durchtrennte. Bei allen diesen Wesen leuchte ein weiteres Areal im Gehirn auf, besonders hell bei dem Mensch, aus dem der kleine Mensch gekommen war.

 

„Ich begreife nicht, was ich da gesehen habe“, sagte Zor.

 

„Wir sind uns noch nicht sicher“, antwortete Bar, „aber wir nehmen an, dass bestimmte Ereignisse bei den Menschen ein Molekül wirken lassen, welches Oxytocin heißt. Es führt bei den Menschen, aus denen die kleinen Menschen herauskommen, dazu, dass die Schmerzen vergessen werden und sie die kleinen Menschen umsorgen. Es erscheint so, dass bei einer Aktion, die die Menschen Sex nennen, der kleine Mensch in winziger Größe von einem Menschen auf den anderen übertragen wird und dann in den Menschen mit der Spalte heranwachsen. Es entsteht eine nicht logisch zu erklärende Bindung, welche die Menschen Liebe nennen. Diese erscheint die engste zu sein, welche die Menschen kennen. Sie tun alles für diese Liebe. Und das macht sie am unberechenbarsten.“

 

Zor wurde klar, dass ihre Mission so nicht gelingen konnte. Diese Eiweißklumpen mochten den Grg intellektuell unterlegen sein, aber dieses Glück, Freude, Liebe war etwas, was eine sehr starke Waffe zu sein schien und die Grg mit ihrer Logik und ihren Berechnungen nicht vollends erfassen konnten. 

„Was haben die Berechnungen einer Unterwerfung ergeben?“, fragte es Bar.

 

„Wir können es nicht berechnen. Keines unserer Rechenmodelle kann mit den Daten der Menschen etwas anfangen.“

 

 

Jahre später waren die Menschen und die Grg einen für beide Seiten erfreulichen Handel eingegangen. Die Menschen produzierten weiter in unvorstellbarer Menge Kohlenstoffdioxid und die Grg nahmen es ihnen ab und nutzten es für ihre Ernährung.

 

 

Die Menschheit hatte nochmals Glück gehabt. Weder war sie von den Grg unterworfen worden, noch war der Kipppunkt für das Klima erreicht worden. Es war für beide Seiten eine Win-Win-Situation.

 

 

Was die Menschen unbeherrschbar macht, sind ihre Gefühle. Niemand kann meinen, die Gefühle eines einzelnen Menschen, oder gar einer Gruppe von Menschen dauerhaft bestimmen zu können. Über kurz oder lang sind Gefühle unberechenbar. Je mehr Menschen beteiligt sind, desto schwieriger wird die Aufgabe einer Vorhersage. Menschen mögen für eine Zeit in ihren Gefühlen getäuscht werden können, aber im Laufe der Zeit werden sich alle möglichen individuellen Strömungen durchsetzen. Nicht ihr Intellekt ist die größte Stärke dieser Spezies, sondern das tiefe Erlebnis von Emotionen. Sie sind zwar abhängig von ihrer Hirnchemie, aber paradoxerweise macht sie die Menschen freier von dauerhafter Beherrschung als jede andere uns bekannte Spezies.

(Dh’Arwn zugeschrieben, Grg Anthropologe für humanoide Wesen, circa 2124 nach menschlicher Zeitrechnung)

 

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