Von Martina Zimmermann

„Warum haben manche Menschen soviel Glück?“, fragt die kleine Susanne. „Mama, kannst du es mir erklären? Marion hat immer Glück und ich nie.“ „Wie kommst du denn darauf?“, fragt ihre Mutter, und streicht ihr dabei die braune Locke aus der kleinen Stirn. 

„Wenn sie ihre Hausaufgaben einmal vergessen hat, dann fällt es bei ihr nicht auf. Sie hat dann noch das Glück, dass sie nicht gefragt wird. Ich habe heute meine Hausaufgabe nicht dabei gehabt. Ich habe versehentlich mein Heft auf dem Schreibtisch liegen gelassen und prompt sollte ich vorlesen. Ich musste dann erklären, ich habe meine Aufgaben nicht dabei und ich habe eine sechs notiert bekommen,“ erklärt Susanne traurig.

„Ach Suse, so etwas passiert, mach dir nicht solche Sorgen,“ tröstet ihre Mutter.

Susanne nickt, und für heute war es gut, dennoch bleibt dieser Gedanke in ihr.

 

Susanne lernt fleißig und sie wünscht sich nichts sehnlicheres, als bei ihr in der Nachbarschaft, in der Behörde, eine Ausbildung anzufangen. Sie hat es nicht weit zur Arbeit und sie möchte den Job  in der Verwaltung. Abgesehen davon, ist so eine Stelle sicher und später könnte sie in den Beamtenstatus wechseln. Nachdem sie in die engere Auswahl gekommen ist, hat sie sich gut auf das Vorstellungsgespräch vorbereitet. „Ich habe einen guten Eindruck bekommen und für mich spricht nichts dagegen Ihnen die Stelle anzubieten“, erklärt Frau Hansen, die das Vorstellungsgespräch leitet. „Allerdings muss ich mich noch mit meinem Kollegen besprechen. Sie hören von uns.“ Susanne, fühlt sie sich so gut wie eingestellt, bis ihre Absage eintrifft. Völlig enttäuscht hört sie später davon, Marion hat sich auch beworben, sie bekommt die Ausbildungsstelle. Susanne erfährt, dass der Kollege von Frau Hansen sich für Marion entschieden hat, er kannte sie wohl vorher schon. „Wie damals in der Schule,“ sagt sie zu ihrer Mutter. Susanne ist enttäuscht. 

„Warum hat sie Glück und ich nicht?“ 

„Manchmal scheint es so, dass die Anderen mehr Glück haben, als man selber, aber wer weiß wozu es gut war, dass du die Stelle nicht bekommen hast,“ erklärt ihre Mutter, doch Susanne wendet sich ab. „Ich finde es gemein und ungerecht“, schmollt Susanne. Anfangs sieht Susanne Marion jeden Morgen an ihrem Haus vorbei zur der Arbeit gehen, dann beschließt Susanne sich nicht mehr auf Marion zu konzentrieren.„Ich lasse mich nicht entmutigen“, erklärt sie entschieden und als sie kurz darauf eine Ausbildungsstelle im gleichen Ort, bei einer großen Firma bekommt, scheint die Welt wieder in Ordnung. Dort lernt sie auch ihre Liebe kennen. Einen tollen Mann, Frank. Er sieht gut aus und erfolgreich ist er auch in seinem Job. Susanne himmelt ihn an, bis zu dem Tag, als sie davon erfährt, dass er Marion liebt. „Es ist nicht zu glauben!“, ruft Susanne enttäuscht. „Wieder hat sie Glück und ich nicht. Was soll das? Warum kreuzt sie meinen Weg und nimmt mir jetzt auch noch den Mann den ich liebe?“ Susanne ist verzweifelt. „Du kannst nichts tun“, erklärt die Mutter. „Wer weiß, wofür es gut ist?“ „Gut?, wofür soll es gut sein, dass man mir den Geliebten weg nimmt?“, fragt Susanne. Das Leben ist nicht gerecht, aber was bedeutet Gerechtigkeit?

 

Die Zeit vergeht, Susanne ist zufrieden. Sie lernt einen netten jungen Mann kennen, er arbeitet auf dem Amt, wo sie so gerne angefangen wäre. „Ich wollte damals auch gerne dort arbeiten, aber eine andere bekam die Stelle“, erklärt Susanne. „Ach, dir gehts doch gut dort wo du arbeitest“, stellt Helmut fest. „Wir beiden können es uns gut gehen lassen.“ 

 

Beide waren glücklich miteinander und nachdem sie einige Zeit zusammen gelebt hatten, machte Helmut seiner Susanne einen Antrag. Die beiden heirateten und schon bald darauf wurde Susanne schwanger. Das Glück schien perfekt, doch die Schwangerschaft verlief mit Komplikationen und Susanne verlor das Kind. Sie verzweifelte schlichtweg und wieder kam ihr der Gedanke: „Warum habe ich kein Glück? Alle anderen haben ihr Kind und ich? Warum muss ich dieses Schicksal erleiden?“ „Die Frage wird uns niemand beantworten“, tröstet Helmut. „Wir werden ein Kind haben, das nächste Mal klappt es bestimmt.“ 

Susanne kam auch darüber hinweg und alles war gut, bis sie Marion mit einem Kinderwaagen an ihrer Haustür vorüber gehen sah. „Das darf doch nicht wahr sein“, rief Susanne. „Warum hat Marion ihr Kind und ich nicht? Sie hat immer Glück und ich?“ Susanne ist verzweifelt. Es nagt an ihr, und ihr Sinn für Gerechtigkeit schwindet. „Was mache ich falsch? Wem tue ich denn etwas?Warum habe ich kein Glück? Diese Frage ist die Frage meines Lebens“, erklärt sie traurig und sieht dabei ihre Mutter an.

„Ach mein Kind, es ist nicht alles wie es scheint. Es hat vielleicht alles seinen Sinn.“

„Seinen Sinn? Wie kannst du so etwas sagen? Ich habe mein Kind verloren und Marion hat ihr Kind und geht vor unserem Haus spazieren.“

 

Susanne erholt sich von ihrem Schicksal und zwei Jahre später bekommen sie und ihr Mann ein gesundes Kind. Beide sind die glücklichsten Menschen auf der Welt. Sie sind so dankbar über ihren Sohn, Ralf. Überhaupt läuft alles gut. Ralf ist so ein zufriedenes Kind, und er entwickelt sich bestens. Sobald Ralf in der Kita ist, beginnt Susanne wieder zu arbeiten und auch Helmut wird befördert. 

„Es hätte nicht besser laufen können,“ lächelt Susanne glücklich als sie mit ihrer Mutter zusammen bei einer Tasse Kaffee sitzen. Diese lächelt zurück doch dann macht sie ein ernstes Gesicht. 

„Ich muss dir etwas erzählen. Gestern habe ich Marion zufällig in der Stadt getroffen.

Weist du noch, wie neidisch du immer auf sie warst?“ 

„Ja klar, sie hat meinen Job bekommen, mir den Mann ausgespannt, dann hat sie sofort ihr Wunschkind und lief dann noch demonstrativ an unserem Haus vorbei. Wie sollte ich nicht eifersüchtig gewesen sein? Sie hatte immer Glück und ich nicht,“ erwiderte Susanne. 

„Weist du noch was ich dir immer gesagt habe? Das es vielleicht alles seinen Grund hat und das nicht immer alles so ist wie es scheint?“„Was willst du damit sagen, Mama? Es war doch so, wie ich es dir gesagt habe. Das weißt du doch selber.“ 

„ Marion hat den Job an der Behörde bekommen. Es stellte sich aber schnell heraus, dass sie dafür nicht geeignet war. Es wurde ihr nahegelegt sich eine andere Arbeit zu suchen. Sie kam mit dieser Abweisung nicht klar und wurde depressiv. Danach konnte sie lange nicht arbeiten und als sie sich einigermaßen gefangen hatte, da machte sie noch eine Ausbildung im Einzelhandel. Sie hat nie von der Stelle geträumt, aber sie war froh gewesen, dass der Filialleiter bereit war sie zu nehmen. Sie konnte praktisch nach der Schule nichts nachweisen. Zudem machte Frank sich hinter anderen Frauen her. Er servierte sie schnell ab. Marion hat mir alles erzählt. Der Filialleiter mochte sie gerne und als sie sich mit ihm eingelassen hatte und von ihm schwanger wurde, da trenne er sich von ihr. Sie bekam ihr Kind, welches mit einer Behinderung zur Welt kam. Und wenn sie bei uns am Haus vorbei ging, dann ging sie zu ihren Eltern, die ihr halfen, weil sie alleine nicht zurecht kam. 

Mittlerweile geht es ihr besser. Sie hat einen netten Mann kennengelernt, der zu ihr und dem Kind steht. Außerdem hat sie jetzt eine Arbeit gefunden die ihr liegt.“

 

Susanne schaute ihre Mutter verwundert an. 

„Das gibts doch nicht. Und ich dachte immer ich habe kein Glück. Ich denke du hast recht. Ich hatte Glück und ich habe es nicht erkannt. Manchmal erkennt man erst viel später wie viel Glück man doch im Leben gehabt hat. Vielleicht sollte ich einfach die Dinge mehr schätzen, die wir haben“, überlegt Susanne. „Die Dinge sind oft nicht so, wie sie zunächst scheinen“, das weiß ich jetzt.