Von Susanne Sachs

 

Ein winziger Schatten huschte, einer Libelle gleich, über die Wiese. Um ihn herum tanzten atemberaubend schnelle Lichtpunkte, weil durchsichtige Flügel das kalte Mondlicht reflektierten. Leises Surren verwob sich mit dem Wind der Nacht.

Lächelnd nahm sie den Widerschein ihrer selbst wahr. Trotzdem fröstelte sie.

In der faden Helligkeit tauchten Silhouetten auf, finster und dräuend. Sie mochte sich gar nicht vorstellen, was im Dunkel lauern könnte. Fünf Zentimeter klein war sie, da wurde bereits manch Insekt zur tödlichen Bedrohung.

„Schnell“, flüsterte sie sich zu. „Am Wald vorbei zu den Häusern.“

An der Grenze zwischen Natur und Menschenwelt verharrte sie eine Sekunde. Das genügte, um mit ihrem feinen Gehör ein Schwirren auszumachen. Eindeutig eine Elfe – oder ein Elf.

„Warte doch. Bitte.“ Tatsächlich. Die Stimme kannte sie, mit ihm war sie verabredet gewesen. Plumps. Sie landete auf einem Weißdornblatt.

„Oh, du bist es. Ich hatte viel zu tun.“

„Eine Stunde kann lang sein“, sagte er und flatterte vor ihr auf der Stelle. Seine Augen wurden feucht. „Die Blumen schlossen bereits ihre Blüten.“

„Warum kommst du mir nach?“ Sie streckte die Beine und betrachtete ihre Zehen.

Er setzte sich neben sie. „Du bist alleine weggeflogen und die Sonne schwand bereits.“

Tief in ihrem Herzen züngelte ein Flämmchen, das aufzulodern drohte. Liebenswert war er und wusste viel, außerdem fand sie ihn hübsch. Dass er ganze drei Millimeter größer als sie war, störte sie nicht. Dennoch bekämpfte sie das innere Feuer. Ihre Mission ließ es nicht zu. Niemand wusste, was sie sich auferlegt hatte, doch sie nahm es sehr ernst.

„Ich muss los.“

„Sagst du mir, was du bei den Menschen willst?“ Eine Böe verwirbelte sein seidig schwarzes Haar und er hielt sich am Stiel fest. Mit der anderen Hand fasste er ihre.

„Danke“, wisperte sie. Dabei strich sie sich eine rote Locke aus der Stirn. „Ich möchte die Großen glücklich machen. Bestimmt sind sie dann freundlicher.“

Eine Weile, zehn Minuten ungefähr, hockten sie mit untergeschlagenen Beinen auf dem Blatt. Schweigend zupfte sie ihr blaues Kleid zurecht. Unter den Lidern linste sie zu ihm und pustete Staub von ihren Händen. Sollte sie es erklären? Er wäre der Erste.

„Ich weiß, dass wir Träume einhauchen können“, sagte er. „Machst du so etwas?“

„Hihi. Das wüsstest du wohl gern.“ In dem Moment wurde ihr klar, dass sie ihn einweihen wollte. „Ja, ich nutze unser Talent. Die Menschen gehen spät zu Bett, viel später als wir. Deshalb kann ich mich davonschleichen.“ Sie holte tief Luft. „Wir sind klein genug, um sie unbemerkt zu beobachten. So erfahre ich, was sie sich wünschen und wodurch sie Glück empfinden.“

„Du kennst ihre Gedanken? Wollen sie uns wirklich zerquetschen?“

„Unsinn!“ Ihre Finger zogen an seiner Ohrspitze. „Die wissen gar nicht, dass es uns gibt. Witzig, oder?“

Ein Glühwürmchen brachte ihren Platz zum Schwanken. Mutig stellte der Elf sich vor den acht Millimeter großen Käfer, öffnete seine Hände und blies darüber. Glitzerpunkte kreisten um das Insekt, dann hob es ab.

Plötzlich spürte sie ein sanftes Prickeln in ihren Adern. Sie schüttelte sich. Dafür hatte sie keine Zeit, nicht jetzt. Später. Vielleicht. Dann könnte er es sogar sein.

 

Gemeinsam flatterten sie auf. Statt zu fragen, flog er mit – zu den Wohnungen der Menschen, einfach so.

Die ersten Häuserreihen ließen sie hinter sich, immer weiter drang sie in die Siedlung vor. Stets versteckten sie sich unter Mauervorsprüngen und Dachrinnen, darauf bedacht, keine Aufmerksamkeit zu erregen. Für Eulen, größere Fledermäuse oder Marder wären sie Leckerbissen.

Endlich verlangsamte sie ihren Flug. „Jetzt kommen wir in unbekannte Gefilde.“

„Bei allen Blütenkelchen, du warst aber fleißig.“ Er keuchte leise.

Bald landeten sie auf dem ersten Fensterbrett. Von dort lauschten sie, was die Bewohner, ein Ehepaar mit Kind, redeten. Gleichzeitig sogen sie deren Gedanken ein.

„Später kommen wir zurück“, flüsterte sie. „Wenn sie schlafen, hauchen wir ihnen die Träume ein.“

Auf ihrer Tour sahen sie Menschen vorm Fernseher auf der Couch sitzen oder am Computer arbeiten. Viele waren zu zweit oder in Familie, manche jedoch allein. Einige Partner kuschelten, andere stritten oder wurden gar handgreiflich. Letzteres belastete ihr kleines Herz und trieb sie zur Eile an.

 

Vom Kirchturm her erklangen zehn Glockenschläge. Die beiden Elfen hielten sich die Ohren zu und ließen sich auf der Lehne eines Gartenstuhls nieder. Jeder von ihnen pflückte eine Trichterblüte mit einem Wassertropfen darin, daraus tranken sie. Nachdem der Durst gestillt war, hielt es die kleine Elfe nicht mehr aus.

„Hast du gesehen, was sie glücklich macht?“

„Ja.“ Rückwärtig auf die Arme gestützt, blinzelt er in den Sternenhimmel. „So anders ist das gar nicht.“

„Denkst du?“

„Na, überleg mal. Im Bade könnte ich genauso abschalten wie die junge Frau. Bei Kerzenschein und ihrem Glas Wein würde sie ihre Sorgen vergessen.“

„Deshalb hoffe ich, ihnen zu helfen. Ich zeige den Menschen, was gut für sie ist.“ Sie schüttelte ihre zarten Flügel. „Meinst du, sie öffnen ihren Geist für das Schöne, das sie umgibt? Erkennen sie dann die beglückende Wirkung vom Glauben an das Gute und ebensolchen Taten?“

„Nur wer das kann, hält das Glück in seiner Seele fest.“ Mit diesen Worten rückte er ein Stück näher an sie heran. Zulassen? Sie bewegte sich nicht. Dem Verlangen, ihrerseits die Distanz zu verringern, gab sie nicht nach, noch nicht. Sie blieb.

„Bis die Menschen schlafen, kannst du erzählen, was du erfahren hast, dann ich.“

„Schwimmen ist bestimmt wie fliegen, Meditation kann ich nachvollziehen. Rennen würde ich nie, malen schon.“ Ein Seufzer entfloh seinem Mund. „Mir bräuchte niemand dergleichen einflüstern. Ich flöge zu einer Lupine, würde die Füße in die Wassertropfen der Blätter hängen und an etwas ganz Schönes denken.“ Er zwinkerte ihr zu, doch sie wandte sich ab, sah stur geradeaus.

„Mir wird es auf einmal klar. Der Augenblick zählt, egal wie.“ Dieser Abend gefiel ihr besser als alle vorigen, sie befühlte ihren kribbelnden Bauch. Nie gäbe sie den Grund zu, niemals. „Bei uns leben wir unbewusst danach“, sagte sie stattdessen. Sein Kopf sackte auf die Brust und die Flügel hingen herab.

 

Ein kräftiger Hauch ließ sie – und ihn – zusammenzucken, wobei ihre Flügel raschelten wie dünnes Papier. Das Gesicht einer Menschenfrau tauchte hinter ihnen auf, im Vergleich zu ihnen war es ein riesiger Mond.

„Nicht erschrecken.“ Sanft klangen die Worte, doch der Atem aus dem großen Mund ließ die Elfen wanken, als wären sie Gräser im Wind. „Ich tue euch nichts. Der Tag war hart und ich döste im Sessel vor mich hin. Plötzlich hörte ich ein Wispern.“

„Waren wir so laut?“

„Nein. Wenn Federn aneinander reiben, ist es Lärm dagegen. Deshalb war ich neugierig. Ich musste suchen und vernahm Worte, die zu Sätzen wurden. Entschuldigt.“

Die Frau kam der Elfe nicht bedrohlich vor. Nur dumm, dass sie belauscht wurden. Auf einmal meldete sich ihr Gewissen. Sie tat genau das, gar gezielt.

„Es ging nur um Glück.“ Rechtfertigte es das? Wolken verdunkelten ihre Gedanken.

„Ich weiß“, sagte die Große und schmunzelte. „Wie heißt ihr denn? Ich bin Sandra.“

„Liel. Und er nennt sich Dehn.“

„Klingt hübsch. Jeder Mensch sehnt sich danach, glücklich zu sein, auch ich jagte diesem Gefühl nach, über lange Jahre. Erst spät habe ich erkannt, dass es in mir selbst zu finden ist. Darum kann ich dir sagen, dass deine Ansätze gut sind.“

„Ehrlich?“ Liel lachte, eine Last fiel von ihr. Bisher hatte sie lediglich gehofft, dass sie richtig lag. Dehn? Sein Lächeln erwärmte sie zusätzlich, doch sie verschränkte die Arme, schwenkte zur Seite.

„Ach, kleine Liel“, sagte Sandra. „Du hast die besten Voraussetzungen für ein glückliches Leben, aber bist du nahe dran, deine größte Chance zu vergeben.“

Schlagartig fühlte sich Liel von einer Hitzewelle erfasst. „Wi… wieso?“

„Du glaubst fest an das wahre Gute und kennst die besänftigende Wirkung der schönen Augenblicke. Dennoch, ein Partner gehört auch dazu.“ Sandra senkte die Stimme. „Ein Gefährte, den man um sich haben möchte, einer auf Augenhöhe.“

„Ah.“ Sie merkte, wie ihr jede Blutzelle in den Kopf schoss, und versuchte, die hitzigen Wangen mit den Händen zu kühlen. Dann drehte sie sich in elegantem Flug zu Dehn.

„Ich habe gewartet – du solltest es selbst erkennen.“ Sanft streichelte er ihr übers Haar, ein ganz kleines bisschen zitterte er dabei. „Komm mit nach Hause. Morgen fliegen wir zum Bach und denken uns gemeinsam einen besseren Weg aus, ohne Lauschen.“

In diesem Moment sah Liel in seine Augen, ihre Abwehr schmolz dahin, wurde zu Schokolade in der prallen Sonne. Nicken ging, sonst brachte sie nichts zustande. Ein Funkensturm an Emotionen hatte sie in der Gewalt. Endlich füllte sich die letzte verbliebene Lücke.

„Dehn“, hauchte sie. „Ich wünsche mir, dass du genauso glücklich bist wie ich es jetzt bin.“

Dieses Mal reichte sie ihm ihre Hand und winkte Sandra mit der anderen einen letzten Gruß zu.

Wenig später schwebte ein Doppelschatten über die Wiese, wie von Sternen umflutet.

 

 

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