Von Cornelia Bochmann

Der alte Mann öffnete die linke Tür der Vitrine, kniete sich hin, um besser in die hinterste Ecke des untersten Faches zu gelangen. Die Anstrengung muss sein, dachte er, ohne das Rosenthal mit dem Goldrand schmeckt die Gans nicht. Ein halbes Jahrhundert lag der duftende Braten neben Rotkohl und Thüringer Klößen auf dem feinen Porzellan. Jedes Jahr am 25. Auch in diesem sollte es an Weihnachten nicht anders sein.

Ludwig stöhnte leise auf, als er sich mit der Suppenterrine und der Fleischplatte, den Tellern und den Schüsseln in den Händen erhob. Die Jahre lagen ihm in den Knochen, und jede ungewohnte Bewegung verursachte Schmerzen in den Gelenken. Darauf wollte er keine Rücksicht nehmen; schön sollte es sein, so wie alle Jahre.

Als Ludwig den Teller für die Suppe, den Teller für das Hauptgericht übereinander, das Schüsselchen für das Dessert und das Glas für den Aperitif daneben aufgestellt hatte, suchte er nach den Servietten: die aus Damast mit dem Dahlienmuster, passend zum schneeweißen Tafeltuch. Im Wäscheschrank wurde er fündig. Er nahm sie und drückte sie in sein Gesicht. Tief sog er den Duft der Wäsche in sich hinein. Unvergleichlich ihr Geruch nach Sommer, nach dem Trocknen mit dem Gewicht der Walze der Wäschemangel scharfkantig konserviert. Die Stapel von Bettlaken und den Bezügen hatten in den letzten Monaten an Höhe verloren.

Äußerst sorgsam faltete Ludwig eine Serviette zu einem Dreieck, steckte die Enden etwas ungeschickt ineinander und stellte das Gebilde neben die Teller. Das silberne Besteck hatte Ludwig schon am Vortag poliert. Ebenso die beiden Leuchter. Sie fanden, mit je einer weißen Tafelkerze bestückt, mittig auf dem Tisch, nahe seinem Gedeck den richtigen Platz.

Prüfend blickte Ludwig über den Tisch. Er strich ein paar Fältchen des Tuches glatt und stellte mit Zufriedenheit fest, dass die Anordnung des Geschirrs, der Leuchter und der übrigen Utensilien Marthas prüfenden Blick standhalten würde.

Als Ludwig in der Küche der Duft von mit Nelken und Apfel gewürztem Rotkohl entgegenschlug, verspürte er nicht nur Appetit, sondern auch Hunger. Kein Wunder, Ludwig hatte das Frühstück ausfallen lassen. Obwohl er in letzter Zeit Appetitlosigkeit verspürt hatte, freute er sich heute auf das Festtagsmahl.

Seine Hände mit Tüchern geschützt, öffnete er vorsichtig die Backröhre. Die ihm entgegenschlagende Hitze wedelte er zur Seite. Er langte mit einem Löffel nach dem Bratfett und überzog damit gewissenhaft den Gänsebraten, dessen Haut sich bereits zu bräunen begann: erst die Schenkel, dann die Brust und dann noch einmal das Ganze. So hatte Ludwig es bei Martha gesehen. Die Küche war Marthas Revier, vom ersten Tag der Ehe an. Martha hatte sich bestenfalls gefallen lassen, dass Ludwig, wenn er sich vormittags langweilte, ihr beim Kochen über die Schulter schaute. Oft bekam Ludwig etwas zum Probieren. Dann war er besonders gut gelaunt, umfasste Martha, während sie weiter hantierte, von hinten, flüsterte zärtliche Worte in ihr Ohr und drückte einen Kuss in ihren Nacken. Sie hatte sich dabei immer, wie in jungen Jahren, ein bisschen geziert, hatte es aber zugelassen und seine Berührungen genossen. Meistens hatte Ludwig sich dann wieder davon getrollt und Martha hatte ihre Ruhe am Herd. Solange, bis er wieder erschien und fragte, wann denn das Essen fertig sei. Zwölf, hatte Martha dann immer geantwortet, das weißt du doch.
Die Tage hatten ihre Regelmäßigkeit. Weihnachten machte keine Ausnahme. Kam sie aus dem Takt, hatte es einen der beiden erwischt: die Grippe oder das Rheuma. Andere Krankheiten hatten sich ferngehalten.

Ludwig machte sich an die Zubereitung der Klöße. Grüne Klöße, andere kamen nicht infrage. Er nahm eine der geschälten Kartoffeln und schob sie unbeholfen auf dem Reibeisen hin und her, hoch und runter, verstärkte den Druck, weil das Ergebnis unbefriedigend war. Ludwig staunte, wie mühsam es ist, auf diesem Wege geriebene Kartoffeln herzustellen. Die Pellkartoffeln waren fast gar, Ludwig musste sich mit dem Reiben beeilen. Martha hatte das schließlich auch hingekriegt. Immer an Weihnachten, zweiundsechzig mal.

Als Ludwig die Masse formen wollte, merkte er, dass seine Hände dafür nicht geschaffen sind. Er war immer für das Grobe zuständig gewesen, Martha für das Feine. Kein Wunder, dass er die Rundungen mit seinen Händen nicht hinkriegte. Ludwig bemühte sich trotzdem und als es dennoch nicht gelang, gab er auf. Er ließ die unförmigen Klöße vorsichtig in das bereits sprudelnde Wasser gleiten und achtete darauf, dass der Deckel wegblieb. Das musste so sein, warum wusste Ludwig nicht, aber Martha hatte es auch so gehalten. Wenn er sich an Marthas Vorbild hielt, konnte er sicher sein, dass er genau das Richtige tat. Mit Marthas Anleitung war Ludwig auf der sicheren Seite.

 

Als im Wohnzimmer die alte Standuhr zwölf schlug, zündete Ludwig die Kerzen an, schenkte den Gewürztraminer ein, setzte sich, nahm sich vom Rotkohl, von den Klößen, ein Keulchen von der Gans und von der Soße zwei, drei Löffel. Er legte die Serviette auf seinen Schoß, hob das Glas und ihm war, als wäre Martha bei ihm.