Von Karl Kieser

 

Das Wochenende steht vor der Tür, es fehlt noch etwas in der Küche und meine Frau schickt mich zum Einkaufen. Wir leben auf dem Land und da ist nichts nebenan.
Sie gibt mir einen Kuss mit auf den Weg. Das ist ungewöhnlich, und dann noch die Mahnung: „Mach schnell, du wirst noch gebraucht.“ Noch ungewöhnlicher!
Ist das etwa ein Versprechen? Kann ich einen ganz besonderen Nachtisch erwarten?

Ich fahre das Auto aus der Garage, denn der Supermarkt ist im Nachbarort. Es sind gerade mal drei Kilometer. Oft nehme ich dafür das Fahrrad, aber heute ist ein trüber Herbsttag und es hat tagsüber immer mal wieder geregnet. Außerdem will ich nicht riskieren, den Nachtisch zu lange warten zu lassen.
Von unserem Hügel herunter, treffe ich auf die Durchgangsstraße zum Nachbarort. Der himmelblaue PKW, der gerade heranrauscht, glänzt nass, als wenn er eben erst durch einen Regenguss gefahren wäre. Eine blonde Frau sitzt am Steuer. Gerne wäre ich noch vor ihr eingebogen, aber das wäre doch zu knapp gewesen. Mental trete ich nun auf die Bremse. Ich bin ein eher forscher Fahrer und automatisch rechne ich damit, dass ich sie bis zum Supermarkt als Bremsklotz vor mir haben werde, über zwei Kreisverkehre und eine Ampel hinweg.

Erstaunlicherweise zieht sie im Ort zügig voran, reizt die fünfzig voll aus. Am Ortsausgang der erste Kreisel. Sie interpretiert die „Körpersprache“ des Gegenverkehrs ohne zu zögern richtig und beschleunigt gefühlvoll bei der Ausfahrt.

Neunzig Prozent des Verkehrs fließt hier geradeaus. Das weiß jeder. Trotzdem erlebe ich immer wieder, dass einige dem Braten nicht zu trauen scheinen. Sie achten nicht auf die Anzeichen für den wahrscheinlichen Fahrweg des Gegenverkehrs und ignorieren auch die Blinksignale. Sie wagen sich erst dann auf den brisanten Rundkurs, wenn wirklich kein Gegenverkehr mehr im Kreisel ist. Das gilt oft für Frauen, denn sie müssen ihrem Ruf gerecht werden, aggressionslos und vorsichtig zu sein.
In Gedanken leiste ich der blonden Fahrerin Abbitte. Ich muss mich sogar sputen, um mitzuhalten. Sie fährt vorausschauend. Es macht Spaß hinter ihr herzufahren.

Plötzlich bricht die Sonne durch. Sie steht schon tief und wirft ihr Strahlenpaket von hinten genau entlang der schnurgeraden Landstraße. Das Licht ist atemberaubend. Zuerst entdecke ich den blau-schimmernden Wagen vor mir neu. Das Auto scheint von einem silbrig-flirrenden Heiligenschein umgeben zu sein. Im Inneren der gold-leuchtende Haarschopf der Fahrerin. Die Straße sieht aus, wie in flüssiges Silber getaucht. Der Sprühnebel des aufgewirbelten Wassers glitzert wie tausend Diamanten. Und da ist sogar der Abschnitt eines Regenbogens, direkt vor mir.
Mit einem Schlag überwältigt mich das Bild. Das Herz fließt mir über. Ich empfinde reines Glück. Ich könnte jauchzen und umherspringen. Stattdessen sitze ich in meinem Auto, mit offenem Mund und wundere mich.
Die rationale Hälfte meines Gehirns hat nach nur wenigen Augenblicken wieder die Kontrolle übernommen:
Warum um alles in der Welt bin ich plötzlich von Glück durchdrungen? Ist das etwa alles, was es braucht, um abzuheben? Ein paar Lichteffekte, die ich doch allesamt physikalisch erklären könnte. Bedingt durch den Stand der Sonne, der Dicke des Wasserfilms auf der Straße, Geschwindigkeit und Profil der Reifen des vorausfahrenden Autos. Vielleicht gehört dazu noch als Bonus eine Fahrerin, die in meinem Stil fährt? Müsste sie zwingend blond sein? Das Auto himmelblau? Sind das die Zutaten für reines Glück?

In meinem Leben hat es ganz sicher Situationen gegeben, die es eher verdient hätten, so glücklich zu sein. Also, was ist es, das mich so umgehauen hat?
Noch immer bin ich glücklich, aber der nächste Ortseingang – und damit der zweite Kreisel – ist unmittelbar voraus. Sie nimmt den Fuß vom Gas, der Regenbogen ist weg. Beide Fahrzeuge werden reibungslos in den Kreisel gesogen und an der gegenüberliegenden Seite wieder ausgespien.
Da ist die Ampel, noch weit voraus. Gerade schaltet sie auf Grün. Der Glückspegel, eben noch im Abklingen, zuckt wieder hoch. Jetzt müsste sie Gas geben, sonst schaffen wir es nicht. Aber das macht sie nicht, bleibt stur bei fünfzig. Zudem wird hinter mir auch noch der Vorhang zugezogen.
Schlagartig ist alles grau. Dunkelgrau! Und wegen der dummen Kuh können wir die Rotphase nun in voller Länge auskosten.

Gerade eben war ich doch noch glücklich. Überglücklich! Ekstatisch glücklich. Jetzt ist meine Gefühlslage wieder normal. Von diesem wahnsinnigen Purzelbaum der Gefühle muss ich unbedingt meiner Liebsten erzählen.
Aber wie soll ich ihr dieses heftig überschäumende Gefühl erklären? Wie lange war ich überhaupt glücklich? Es können nur wenige Sekunden gewesen sein. Und dann ist da noch der profane Grund dafür. Wertet das nicht alles ab, was an großen Gefühlen zwischen uns ist? Was sage ich, wenn sie demnächst die Frage stellt? Werde ich alles in Zukunft an diesem Spitzenwert messen?

Was ist dieses Glück überhaupt? Eine chemische Reaktion in unserem Hirn? Ein Kurzschluss von Synapsen, unvorhersehbar, nicht reproduzierbar durch zufällig gerade aufblitzende Nebensächlichkeiten? Hält es immer nur Sekunden an?
Also, ich könnte dieses überwältigende Gefühl nicht über Stunden oder gar Tage aushalten.
Hätte ich dieses Glück in einer anderen Stimmungslage vielleicht sogar verpasst und die Situation gar nicht als Glücksmoment wahrgenommen?

Die Ampel wird Grün. Hier muss ich abbiegen. Himmelblau fährt geradeaus weiter. Endlich rollt mein Auto auf den Parkplatz des Supermarktes, doch mit mir bin ich noch nicht einig.

So etwas wie eben habe ich auch früher schon erlebt, auf mehr oder weniger intensive Weise. Glück, besser gesagt dieses unglaubliche Glücksgefühl, kann ja kein Dauerzustand sein. Es muss die Ausnahme sein. Je intensiver, umso seltener. Wie sollten wir dieses außergewöhnliche Gefühl sonst zu würdigen wissen?
Ganz ehrlich, wenn mir so etwas mehrmals am Tag passieren würde, müsste ich mir Sorgen um meine geistige Gesundheit machen. Wahrscheinlich würde ich es bald als Störung empfinden, mich gar vor dem nächsten Anfall fürchten.
Nein, so ein Glücks-Überfall hat nichts zu tun mit der Grundstimmung, die ich für erstrebenswert halte. Denn ich habe doch Glück mit meinem Leben, fühle mich glücklich. Oder ist mein Glück nur Zufriedenheit? Die Abwesenheit brennender Wünsche?

Ich bemerke gerade, dass ich kein treffendes Wort finde für mein Glück, das, was ich als Glück empfinde. Es gibt so viele Worte, welche die Symptome beschreiben: Erfolg, Gesundheit, Wohlgefühl, Freude, Wonne, Harmonie, Lust, Behagen. Aber nichts davon passt so recht für die Grundstimmung.
Wie könnte ich es umschreiben?  „Im Einklang mit der Situation“, schießt mir durch den Kopf. Ja, das könnte passen! Also ist Glück eine Frage der Definition? Die womöglich von jedem individuell beantwortet würde?
Ich meine jedenfalls so etwas wie Lebensumstände, Atmosphäre, Grundton des Miteinanders und ob man persönlich damit im Einklang ist. Das Spitzengefühl von eben, das nur wenige Sekunden anhält, kann den Pegel der ständig vorhandenen Alltagsgefühle ohnehin nur minimal anheben.

Natürlich werde ich meiner Frau von diesem Erlebnis erzählen. Aber nicht so, als wäre mir die Supernova unter den Glücksgefühlen begegnet. Eher so, dass überraschende Lichteffekte ungefiltert durch die Sinnkontrolle direkt den Nucleus accumbens überflutet und mich für ein paar Sekunden aus der Bahn geworfen haben.

Damit bin ich wieder im Einklang mit der Situation und kann endlich meinen Auftrag abarbeiten.
Ja, gelegentlich fühle ich mich glücklich. Heute selbst dann, wenn kein Nachtisch auf mich warten sollte.

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