Von Kornelia Kirchhoff

Trotz düsterer Vorhersagen zur Jahrtausendwende ging das Leben weiter. Anne hatte ihr Abitur in der Tasche, aber wusste nicht, was sie damit anfangen sollte. Ihre Freundin Steffi wollte in Berlin Soziologie studieren. Anne entschied sich mit ihr dort eine Wohnung zu teilen und erst mal zu jobben. Ihr Vater schüttelte den Kopf über die unentschlossene Sinnsuche. Ihre Mutter jedoch hätte viel mehr Abenteuerlust von Anne erwartet. Irgendein Auslandsaufenthalt, ein Volontariat bei einem Naturschutzprojekt, die Mitarbeit in einem Kinderschutzprogramm, das wünschte sie sich für ihre Tochter.

„Dir steht doch die Welt offen. Wenn ich nicht schwanger geworden wäre, hätte ich in den 80ern noch so viel im Frauenladen machen können. Was hatten wir für Diskussionen, die Demos und erst die Walpurgisnächte!“

Ihr Vater meinte grinsend, ihre Mutter solle jetzt nicht auch noch mit der alten Kamelle kommen, dass das Private politisch sei. 

In scheinbar harmlosen Sätzen lauerte Unausgesprochenes wie Blutegel im Brackwasser. Dieses ewige „Mach wie du meinst, du wirst schon wissen, was für dich richtig ist, hör auf dein Bauchgefühl.“ Die ihr gewährte Freiheit war Zwang zur Selbsterfahrung. Warum wurde sie genötigt, eigene Fehler zu machen? Sie wollte vor Fehlern beschützt werden.    

 

Anne biss die Zähne zusammen, schwieg, nahm das Geld für die Wohnung, ließ Eltern und Wolfsburg hinter sich. Mit Steffi erkundete sie das Berliner Nachtleben. Schnell wusste Anne, dass sie nicht studieren will. Keine Fachrichtung versprach sichere Zukunftsaussichten. Zeitverträge und wechselnde Arbeitgeber rechtfertigten nicht den Aufwand. Anne wollte wissen, was sie im nächsten Jahr machen wird, wo sie in fünf Jahren sein wird, wie ihr Leben in zehn Jahren aussehen wird. Auch der Freiraum, den sie sich vom Jobben versprochen hatte, war schnell gespickt mit den Stacheln unverbindlicher Ungewissheit. Die Gelegenheit einer Ausbildung zur Steuerfachangestellten ergriff sie sofort. Klare vorgegebene Lerninhalte bei gleichzeitigem Einkommen. Eine Mutter, die ihre Enttäuschung nicht verbergen konnte, dafür ein beruhigter Vater. Ohne ihre Ausbildung zu vernachlässigen, war sie so oft es ging mit Steffi unterwegs. Aber die durchfeierten Nächte und unverbindlichen Kontakte wurden immer bedeutungsloser. 

 

Eines Abends auf einer Party lehnte Marcel an einem Küchentresen. Er wirkte deplatziert, interessierte sich kaum für die anderen Gäste. Anne sorgte dafür, dass er sie zur Kenntnis nahm, verwickelte ihn in ein Gespräch. Marcel antwortete höflich, eher kurzsilbig, dann stellte er seinen Teller zur Seite. 

„Hör mal, ich werd noch sehen, ob wo anders was los ist.“

„Gute Idee! Kann ich mitkommen? Ist doch ziemlich öde hier.“

 

Am Ende der Nacht: ein paar gemeinsame Drinks, miteinander getanzt und ausgetauschte Telefonnummern. Es wurde gerade hell, da überfiel sie Steffi in deren Bett. Anne war egal, ob ihre Freundin noch schlafen wollte. Jede Kleinigkeit, die ihr an Marcel aufgefallen war, musste sie sofort erzählen. Steffis Gegenwehr war zwecklos. 

„Redest du von dem Marcel, der gestern auf der Party war? Dem Langweiler?“

Anne jedoch war begeistert von ihm und seiner ruhigen entspannten Art.   

   

Noch ahnte Steffi an diesem Morgen nicht, durch wie viele Täler sie Anne begleiten würde. Erst zeigte Marcel kaum Interesse an Anne. Dann schlief er mit ihr, ließ danach tagelang nichts von sich hören. Ihre Hoffnung wurde zu einer Fata Morgana, der sie durstend hinterherlief. Wenn sich die Luftspiegelung wieder auflöste, verkroch sich Anne in ihrem Zimmer, lag stundenlang im Bett, der Fernseher plärrte. Einmal lief zufällig das Musikvideo zu Viva la Vida der Band Coldplay. Sie kannte das Video nicht, es zog sie sofort in den Bann. Der Takt der Musik wie ein schnelles Gehen, fast schon Laufen, das Ziel fest im Blick. Dazu das Gesicht des Sängers in Großaufnahme, blaue Augen, lockiges Haar, die Bewegungen der Arme kraftvoll auffordernd. Zum Ende des Songs stand sie in der Mitte ihres Zimmers. Sie wiegte ihren Oberkörper im Takt der Musik, spiegelte die Armbewegungen des Sängers. 

„Mit Marcel an meiner Seite werde ich glücklich sein.“

 

Marcel arbeitete zu dieser Zeit mit dem geringst möglichen Einsatz. Er begeisterte sich mehr für seine Hobbys und Urlaube. Anne lernte für ihn Ski fahren und kämpfte im Lift mit ihrer Höhenangst. Sie ging mit ihm auf endlose Trekkingtouren, klebte Pflaster auf ihre blutigen Füße und sehnte sich nach dem Meer. Sie war sich sicher, er würde verstehen, wie viel sie für die Beziehung mit ihm investierte. Sie ließ den steten Tropfen höhlen, bis Marcel sich endlich um eine sichere Stelle in Wolfsburg bewarb. Anne zog mit ihm in ihre Heimatstadt. Die Hochzeitsfeier plante sie bis ins Detail. Nach dem offiziellen Teil ließ sie den DJ Viva la Vida spielen. Sie hielt Marcels Hände, sprang mit ihm im Takt. 

 

Die Geburt der Tochter, später das Haus, die Geburt des Sohnes. Zehn ausgefüllte Jahre. Sie bewegte sich in einem Raum wohliger Vertrautheit. Sie merkte nicht, dass sie in einer Theaterkulisse lebte. Sie glaubte, mit Marcel sei alles geklärt, jeder hätte seine Rolle gefunden. Während sie sich angekommen fühlte, alles am Laufen hielt, blieb Marcel wie eine Zweitbesetzung hinter dem Vorhang. Er war zwar auf seine Einsätze vorbereitet, ließ sich aber nur bei dringendem Bedarf einwechseln. Immer öfter fiel ihr ein Wort, eine Geste, eine Erklärung von ihm auf, ließ sie aufhorchen. Dann häuften sich die Wochenenden, in denen er sich in Berlin um seinen Vater kümmerte. Sie nutzte die Zeit, um Steffi zu treffen. Ihr musste sie nicht viel erklären, sie konnte zuhören und sie wartete, als Anne unbeholfen im Nebel stocherte. Es war Steffi, die den Vorhang fallen ließ. 

„Fährt er nur wegen seines Vaters nach Berlin?“ 

So sehr sich Anne immer gewünscht hatte, Marcel könne ihr sicherer Hafen sein, plötzlich fühlte sie sich wie in einem Tretboot auf offenem Meer.

 

Ihr fünfzehnter Hochzeitstag – die gläserne Hochzeit. 

Sie will behutsam vorgehen, nichts laut aussprechen, was die Risse erschüttern könnte. Sie ist glücklich, dass sie noch Konzertkarten für den Auftritt von Coldplay in Berlin bekommen konnte.

„Weißt du noch auf unserer Hochzeit? Wir fahren da hin und gönnen uns eine Nacht im Hotel, ja? “ 

„Schöne Idee, aber hast du vergessen: Seminar … Arbeitsabläufe neu strukturieren … abends informeller Teil … wichtiger als die Tagesordnung. Nimm doch Steffi mit.“

 

Glas zerspringt. 

 

Coldplay weckt bei Steffi keine guten Erinnerungen. Doch für einen Übernachtungsbesuch ihrer Freundin geht sie gern mit ihr zum Konzert und nimmt die kommerziellen Kitschsongs in Kauf. Anne hat den Tag durchgeplant, die Kinder können bei ihren Eltern übernachten. Marcel muss sich wie immer um nichts kümmern. Anne hat bereits die Rucksäcke der Kinder mit den Übernachtungssachen gepackt. Marcel setzt sich an den gedeckten Frühstückstisch. 

„Du hast es gut. Ich würde auch lieber zum Konzert statt zu diesem stinklangweiligen Seminar.“

„Ach ja?“

Abgeschossen wie ein Pfeil, ohne dass sie ihn dabei ansieht. Marcel isst unberührt weiter, geht nicht auf die pfeilgiftige Stimmung ein. Nur die Kinder ärgern sich gegenseitig, werden zunehmend lauter – Seismografen für Gefühlsschwingungen. 

„Holst du sie wenigstens morgen bei den Eltern ab?“

 Marcel nimmt den Fehdehandschuh nicht auf.

„Klar.“

 

Es ist mäßig warm, ein wolkenloser Himmel, perfektes Konzertwetter. Mehr als 70.000 Menschen in dem großen Rund des Olympiastadions. Um sie herum verschiedene Sprachen, Menschen unterschiedlichen Alters in fröhlich erwartungsvoller Stimmung. Große bunte Ballons über den Köpfen des Publikums. Immer wieder werden sie in die Höhe gestupst. Schweben von Hand zu Hand wie tanzende Planeten. 

 

Das Konzert beginnt, die Sonne ist noch nicht ganz untergegangen, blassblaues Licht. Als Viva la Vida gespielt wird, ist die Menge schon längst im Rhythmus gefangen. Es ist, als würde elektrische Spannung durch die Arena knistern, ein lebensbejahendes Gemeinschaftsgefühl. Zusammen wird gesprungen, tausende Hände hochgerissen, der Text mitgesungen. Anne fühlt sich von all dem seltsam abgeschnitten, wie ein eisiger Fremdkörper inmitten brodelnder Lebensfreude. Früher gab der Song ihr immer das Gefühl, ihr Glück dirigieren zu können. Mit Zuversicht im Takt vorwärtsgehen. Jetzt hängen ihre Arme kraftlos herab. 

 

Die folgenden Lieder rauschen an ihr vorbei. Mit einsetzender Dunkelheit verändert sich die Stimmung. Die Lichteffekte verstärken die Wirkung der einzelnen Lieder. Viele Besucher tragen leuchtende Armbänder oder halten ihre eingeschalteten Handys in die Höhe. Von der Bühne bis hinauf in die Tribünen ein riesiges Rund aus hellen Punkten, ein Universum aus Licht, Musik und miteinander verbundenen Menschen. Doch Anne ist völlig gedankenverloren und merkt erst auf, als die Musik verstummt. Der Sänger ist auf einer riesigen runden Leinwand zu sehen, das Mikrofon in der Hand, blaugelbe Bänder am Handgelenk. Anne hat nicht richtig hingehört, bis er einen ukrainischen Kinderchor ankündigt. Einige der Mädchen, die mit auf die Bühne kommen, sind im Alter ihrer Tochter. Der Sänger spielt auf einer Akustikgitarre, geht in die Mitte der Kindergruppe und singt mit ihnen einen seiner Songs. Die Menschen im Stadion stimmen ein. In Großaufnahme auf den Leinwänden die Gesichter der Kinder, so viel Freude, so viel Enthusiasmus, Stolz und Glück. Sie können ihren fröhlichen Bewegungsdrang kaum zügeln, einige tragen die ukrainische Flagge als Umhang.

 

Anne versucht mitzusingen, bringt keinen Ton heraus, Tränen in den Augen. Sie übersetzt sich den Text: … ich suche keinen Superhelden, kein märchenhaftes Glück – nur jemanden, dem ich mich zuwenden kann, nur jemanden, den ich vermissen kann …

 

Something just like this.

 

Anne weiß: Marcel wird morgen ihre Kinder abholen und alle werden zu Hause sein, wenn sie abends zurückkommt.

 

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