Von Andreas Müller

Der Garten war verwildert.

Büsche und Bäume wucherten bis über die Spitzen des rostroten Eisenzauns, über den Nelly gerade kletterte. Katrins Euphorie, die sie in den vorangegangenen Tagen endlich aus dem Joch ihrer Depression befreit hatte, verblasste beim Anblick der alten Villa im Grunewald augenblicklich.
„Ja, was ist? Komm schon!‟, raunte Nelly und sprang in den Garten.
Mühsam zog sich Katrin am Zaun hoch, schwenkte oben schwerfällig ihre stämmigen Beine über die Eisenspitzen und ließ sich schließlich in einen Hartriegelstrauch plumpsen. Nelly kicherte leise.
Ein Kiesweg führte zu einem von zwei korinthischen Säulen gerahmten Treppenaufgang. Katrin blickte hinauf zum Balkon, der von den Säulen getragen wurde. Auf dem Sims standen drei große Blumentöpfe. Die verdorrten Bäumchen, die sie beherbergten, streckten ihre knochigen Äste in die Nacht. Die Fassade befand sich in einem erbärmlichen Zustand: Der Putz bröckelte von den Wänden und von den Fensterrahmen blätterte die verwitterte Farbe. Das Gebäude wirkte verlassen; kaum vorstellbar, dass hier jemand wohnte. Katrin mochte das Haus nicht; sie wäre gerne umgekehrt, doch Nelly zog sie am Ärmel und deutete mit einem kurzen Kopfnicken auf die riesige Holztür. Wie ein unüberwindbares Bollwerk stand die doppelflügelige Eichentür vor ihnen. Aber Nelly holte einen Dietrich aus ihrer Tasche und öffnete damit so rasch das Schloss, als hätte sie den passenden Schlüssel zur Hand gehabt.
Es war eine klare Nacht und es herrschte fast Vollmond. Ein milchiges Licht drang durch die großen Fenster, sodass sich die beiden problemlos in den mit antiquierten Möbel vollgestopften Räumen orientierten konnten. Plötzlich deutete Nelly mit dem Finger auf ein Portrait, das auf einem Jugendstil-Tisch stand. Der geheimnisumwitterte Dr. Ziebell!  Um Ziebell rankten sich düstere Legenden, so erzählte man, er habe früher an der Humboldt-Universität dubiose Hypnose-Experimente durchgeführt, außerdem sei seine Frau unter höchst sonderbaren Umständen ums Leben gekommen.
„Echt uncanny und irgendwie total supernatural, der Typ!‟, hatte Nelly gemeint und Michael, der die Idee zu diesem Besuch hatte, gebeten, ihr die Sache zu übergeben. Sie wollte Katrin dabeihaben. Es sollte Katrins Initiation werden.

In welches Mysterium würde sie in dieser Nacht eingeweiht?
Die Betrachtung von Ziebells Konterfei weckte in Katrin ambivalente Gefühle: Einerseits war da ein tiefgreifendes Entsetzen, andererseits übte dieses hohlwangige, schmale Gesicht aber auch eine ungeheure Faszination auf sie aus.

Ihre Gefährtin gab ihr einen leichten Stoß in die Rippen. Die Zielstrebigkeit, mit der Nelly das Schlafzimmer des Eigentümers aufsuchte, ließ darauf schließen, dass sie den Weg dorthin bereits kannte. Michael, der Dr. Ziebell und sein Haus ausspioniert hatte, musste sie gewissenhaft eingewiesen haben. Im Treppenaufgang wurde es finster. Nelly machte die Taschenlampe an. An der Wand hingen Porträts. Nelly ließ den Lichtstrahl von einem Bild zum nächsten wandern. Die jungen Leute auf den Schwarz-Weiß-Fotografien hatten die Augen weit geöffnet, aber dennoch erweckten sie den Eindruck, als würden sie schlafen. Nelly hielt die Taschenlampe unter ihr Kinn und nickte nach oben.

Katrins Magen zog sich zusammen. Vielleicht hätte sie doch aussteigen sollen, als sie noch die Möglichkeit dazu hatte. Dass Nelly und ihre Freunde eine ganz schöne Macke hatten, war ja von Anfang an klar. Aber von dem Tag an, an dem sie mit einer venezianischen Karnevalsmaske vor dem Gesicht mit den Nervenkitzlern vom U-Bahn-Surfen kam, war ihre Welt nicht mehr dieselbe. Sie strotzte nur noch so vor Selbstbewusstsein. Und – nein, es war keine Einbildung – die Blicke der Menschen, die sie anschauten, verrieten nicht länger mehr Gleichgültigkeit oder gar latente Verachtung. Der Rausch hielt an. Vorgestern erst hatte sie mit ihren neuen Freunden den Molecule Man in der Spree erklommen und auf der monumentalen Skulptur ein Tänzchen aufgeführt. Die Stadt lag ihr im wahrsten Sinne des Wortes zu Füßen.

Um nichts auf der Welt wollte sie zurück in die soziale Isolation, in der sie sich ja nicht erst nach ihrem Umzug von Bayern nach Berlin befunden hatte. Das erste Mal seit ihrer Kindheit hatte sie wieder Freunde.

Dennoch, dass hier, das war etwas anderes als U-Bahn-Surfen, das spürte sie in jeder Zelle ihres Körpers.


Im Gang des ersten Stockwerks öffnete Nelly die dritte Tür auf der linken Seite und sogleich befanden sie sich in Ziebells Schlafzimmer, doch das antike Messingbett war leer.
„Das gibt es doch nicht‟, flüsterte Nelly in Katrins Ohr, „Michael war sich doch sicher, dass …‟
Ein lauter Knall – vermutlich durch das Zuschlagen einer Tür verursacht – ließ sie innehalten.
„Hier stimmt was nicht. Komm, lass uns abhauen! ‟, meinte Nelly nach einem kurzen Moment der Starre, schob ihre Freundin aus dem Zimmer, fasste sie am Arm und zog sie zurück ins Erdgeschoss.

Die Eingangstür war verschlossen. Nelly fummelte mit dem Dietrich im Schloss herum, doch dieses Mal ohne Ergebnis.
Nellys Smartphone vibrierte. Sie zog es aus ihrer Hosentasche, öffnete die Nachricht und blickte entsetzt auf das Bild auf dem Display. Michael lag auf seinem Bett, das Gesicht kreideweiß, die Augen weit aufgerissen. Unter dem Foto stand: „schläft gut!‟.
„Verdammt, wir müssen hier raus‟, rief Nelly und gab sich keine Mühe mehr, leise zu sein. Sie rüttelte an den großen Fenstern im Wohnzimmer. Wieder vibrierte das Smartphone. Auf dem Display stand Sibylles Name. Auch sie lag mit offenen Augen und starrem Gesichtsausdruck auf ihrem Bett. Über dem Foto erschien die Bemerkung: „Diese Fenster lassen sich nicht öffnen‟, darunter stand „schläft auch gut!‟
„Er weiß, dass wir hier sind und er kann uns sehen. Er muss Kameras installiert haben, die Michael übersehen hat. Aber wo? Mir ist keine aufgefallen‟, rief Nelly und Katrin bemerkte das Zittern ihrer Hände. Sie war überrascht, als ihr auffiel, dass sie dieses Zittern mit einer gewissen Genugtuung betrachtete.
„Verdammt, glotz mich doch nicht so an!‟, schrie Nelly.

Tu, was du willst, soll sein das ganze Gesetz, dieses Zitat von Aleister Crowley stand in blutroter Farbe auf Nellys Raufasertapete. Nelly, die Anführerin; Nelly, die alles kann, die über allem und jedem steht. Und nun?
„Immer kühlen Kopf bewahren. Die innere Überlegenheit spüren. Das waren doch deine Worte. Was also tun wir jetzt, sag es mir?‟, meinte Katrin mit ungewohnt fester Stimme.
Angestachelt von dieser Provokation, reckte Nelly ihr Kinn in die Höhe und fauchte: „Es gibt eine Möglichkeit hier heraus zu kommen und ich werde diese Möglichkeit finden.“
Zum dritten Mal meldete sich das Smartphone. Es war Hendriks Nummer. Auch er war fotografiert worden. Die Nachricht lautete nun: „Stimmt, es gibt eine Möglichkeit.‟
„Er sieht uns nicht nur, sondern er kann uns auch hören‟, sagte Nelly, setzte sich auf eine Sessellehne, biss sich auf die Lippen, ließ den Kopf hängen und gab ein leises Schluchzen von sich. Nelly, die schöne Draufgängerin, die flotte Sprüche mag. No risk, no fun! stand auf ihrem T-Shirt, als Katrin ihr das erste Mal auf dem Campus begegnete. Sicher, sie hatte eine gewinnende Ausstrahlung: groß, schlank und diese strahlend blauen Augen. Welch ein Kontrast zu ihrer eigenen behäbigen, uninteressanten Erscheinung. Doch nun saß sie da wie ein Häufchen Elend, die Nelly. Hatten sich die Nervenkitzler dieses Mal verkalkuliert? Der Kick musste ja wie die Dosis eines Süchtigen immer größer werden. Die Gruppe drang nachts in Häuser ein, machte Fotos von den Schlafenden und schickte ihnen dann die Bilder. Auf die Rückseiten der Aufnahmen notierten sie: Schlaf schön! Sie gingen sehr professionell vor. Erst observierte einer von ihnen die Zielperson, dann wurde in Erfahrung gebracht, was sich des Nachts in dem Gebäude bzw. drumherum abspielte, danach erfolgte der Einbruch. Handelte es sich zunächst noch um ganz gewöhnliche Leute in einfachen Häusern, so mussten es bald Superreiche sein, die in Villen wohnten, die mit hochmodernen Alarmanlagen ausgestattet waren.


Nellys Smartphone vibrierte wieder. Dieses Mal kam die Nachricht von Sonjas Mobiltelefon. Dann kam ein Bild von Markus, eines von Tina, fehlte nur noch Selma.
Nelly keifte: „Es muss doch einen Weg geben, hier raus zu kommen.‟
Katrin öffnete eine alte, kunstvoll verzierte Dose mit der Aufschrift Vogelsang Tabak. In der Dose befanden sich einige Ringe. Obwohl Katrins Beobachtungsgabe gewöhnlich nicht die scharfsinnigste war, wurde ihr sofort klar, dass diese Ringe von verschiedenen Menschen stammten. Es handelte sich um Trophäen.
„Nein‟, sagte sie, „er hat uns angelogen. Wir kommen hier nicht raus.‟
Sogleich meldete sich Nellys Smartphone. Selmas Name leuchtete auf dem Display. Unter ihrem Bild stand: „Richtig: Es gibt keinen Ausweg. Du hast einen Preis gewonnen, Katrin. Ich werde ihn dir in zehn Minuten überreichen. ‟

„Verdammt, ich ruf jetzt die Bullen!“, schrie Nelly.

Katrin lächelte ein wenig entrückt und sagte: „Meinst du, das ist eine gute Idee? Schließlich wird nach uns gefahndet. Außerdem seid ihr ja auch in die Wohnung des Polizeipräsidenten eingedrungen und habt ihm anschließend ein Foto geschickt, wie er in seinem Bett …‟

„Das spielt doch jetzt keine Rolle. Wir … oh neeeiiiiiin!‟, brüllte Nelly, ehe sie hemmungslos zu weinen anfing.

„Was denn‟, fragte Katrin.

Nelly hielt ihr Smartphone in die Höhe. Das Display war schwarz, pechschwarz.
Kurze Zeit später hielt ein dunkelblauer, mit Rostflecken übersäter Ford Transit Lieferwagen vor dem Haus. Dr. Ziebell stieg aus, öffnete die Tür des Laderaums und heraus kamen die Nervenkitzler. Wie Somnambulen folgten sie der großen, hageren Gestalt des Doktors. Sibylle blutete aus der Nase.
Katrin rieb ihre Handballen aufgeregt über ihre Wangen. Mit leuchtenden Augen beobachtete sie diese dunkle Prozession. Sie fand es zwar ein klein wenig pervers, aber sie freute sich auf ihren Preis wie ein kleines Mädchen auf ihr Weihnachtsgeschenk.

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