Von Eva Fischer

Martina steigt aus dem überhitzten Bus. Sie rollt ihren Koffer zur Rezeption des kleinen Hotels und nimmt ihren Zimmerschlüssel entgegen. Von ihrem Balkon aus sieht sie das Meer smaragdgrün schimmern. Tief atmet sie die frische Meeresbrise ein. Die blutroten Blüten der Oleanderbüsche wiegen sich sanft im Wind. Auf der Rückseite des Hotels ragen die Berge in den wolkenfreien Himmel. Zwei Drittel sind mit Stechginster begrünt. Dazwischen lugen die schlanken Türme eines Klosters hervor. Die blanken Steingipfel leuchten in der Abendsonne.

 

Eine Woche Insel, Abstand von zu Hause, um ihre Gefühle unter Kontrolle zu bekommen! 

Martina packt ihren Koffer aus, duscht sich, zieht sich ein frisches Kleid an und geht die Stufen hinab zum Speisesaal.

Es gibt Salat mit Muscheln. Martina bestellt sich ein Glas kühlen Rosé. Die Besitzerin des Hotels wedelt sich mit dem Fächer Kühlung zu.

„La canicule“, schimpft sie. Hundstage schon im Juni! Das Wetter spielt verrückt, aber der Clown aus Amerika lässt sich mit einer Militärparade feiern, anstatt die Klimakatastrophe ernst zu nehmen. Zum Schießen! Sie lacht ihr zigarettengeschwängertes tiefes Lachen.

 

Mitten in der Nacht wacht Martina auf. Der Schweiß läuft ihr von der Stirn, sammelt sich am Hals, bevor er erneut Fahrt aufnimmt und zwischen ihren Brüsten weiterfließt. Jede einzelne Pore ihres Körpers ist von einem feuchten Film überzogen. Sie steht auf und nimmt eine Dusche. Vielleicht ist es gut, mal alles auszuschwitzen, denkt sie, alle Enttäuschung, alle Wut, allen Hass. Es dauert nicht lange, bis sie nach der Dusche erneut zu schwitzen beginnt.

 

Als sie morgens auf die Terrasse kommt, sitzt ein älteres Ehepaar am Tisch. Die Frau hat weiße, halblange Haare. Ihr zierlicher Körper verbirgt sich hinter einem luftigen Sommerkleid. Die Frau mustert sie neugierig durch ihre große Sonnenbrille, während der Mann seinen Café au lait trinkt. 

„La canicule“, stöhnt auch sie, während sie sich mit einer Serviette Luft zuwedelt. 35 Grad schon am frühen Morgen!

Martinas Mund ist ausgetrocknet, als hätte er keine Flüssigkeit mehr. Die Frau hingegen sprudelt vor sich hin. Sie heißt Judith. Jedes Jahr kommt sie mit ihrem Mann auf die Insel. Sie könne sich keinen schöneren Ort vorstellen. Martina beißt in das Croissant und lässt sich von Judiths Erzählungen einlullen.

Als Judith die Sonnenbrille abnimmt, sieht Martina deren faltiges Gesicht, das aber trotz des Alters noch immer schön ist mit dunklen Augen, vollen Lippen und einer zierlichen Nase. Erschrocken nimmt Martina wahr, dass sie nicht größer als ein Kind ist, nachdem sie aufgestanden ist. Ihr Mann hakt sie liebevoll unter, denn sie hinkt, kann offensichtlich nur unter Schmerzen gehen. 

Tränen schießen in Martinas Augen. Zu gerne wäre sie auch mit Hanno alt geworden. Aber er hat sie verlassen, einfach so, ohne Grund, nach vielen trügerischen Jahren, in denen sie sich in Sicherheit wähnte.

 

Mit einer Flasche Wasser und einem Buch unter dem Arm stapft Martina über den heißen körnigen Sand. Wie einst Columbus auf San Salvador rammt sie den Sonnenschirm in den Boden, breitet ihr Handtuch aus und nachdem sie ausgiebig geschwommen ist, beginnt sie zu lesen.

 

Mitten aus dem Nichts kommt ein Tier. Vielleicht ist es ein Elch. Christian bemerkt es zu spät. Er will ihm ausweichen, aber er verliert die Kontrolle über seinen Wagen und rollt einen Abhang hinunter auf ein Feld.

Erst am nächsten Tag  finden ihn Bauern, nehmen ihn mit ins Dorf und übergeben Christian einen Alten zur Pflege.

Es ist Herbst, aber es wird Winter, denn Christian hat beide Beine gebrochen und es braucht lange, bis sie wieder heilen. Dann kommt der Schnee und die Elektrizität fällt aus. Es beginnt der Kampf ums Überleben.

 

Es gibt psychische und physische Schmerzen, denkt Martina. Der Schmerz ist derselbe.

Christian ist eine Fiktion und doch ist er ihr im Augenblick näher als Hanno. In seinem Schmerz findet sie ihren wieder, sein Kampfeswille gibt ihr Kraft.

Aber woraus besteht dieser Kampf? Die Tage auszuhalten, die sich ähneln wie ein Ei dem anderen oder wie zwei Wassertropfen, so sagen die Menschen hier auf der Insel.

 

Nachts schwitzt sie wieder, als habe ihr Körper tagsüber das Meereswasser wie einen Schwamm aufgesogen, das er nachts wieder abgeben muss.

Sie weiß jetzt, sie muss den Schweiß zulassen, ihn ertragen, ja sich mit ihm anfreunden, denn jede Dusche ist eine Wohltat von nur kurzer Dauer, eine Illusion.

 

Martina saugt Christians Leiden in sich auf, seine Einsamkeit. Sie spricht mit ihm. Er ist ihr Seelenbruder geworden. Er ist die Krücke, die sie braucht, um wieder gehen zu lernen.

 

„Nehmen Sie sich in acht vor den Feuerquallen!“, warnt die Hotelbesitzerin. „Sie kommen in Scharen. Wenn sie ihr Gift versprühen, fühlt es sich an wie ein heißes Bügeleisen auf der blanken Haut. Auf gar keinen Fall dürfen Sie die Wunde berühren. Das macht alles nur noch schlimmer. Nur das Meereswasser kann heilen, aber das braucht Zeit.“

 

Zuerst schaut Martina prüfend in das klare Wasser auf der Suche nach den Quallen. Es sind eigentlich schöne Tiere, denkt sie, aber sie wollen uns Menschen nicht. Das Meer gehört ihnen.

Doch dann überwindet sie die Furcht, lässt sich in die kühlenden Fluten gleiten. Sollen die Feuerquallen doch kommen. Beneidet sie nicht sogar Christian um den physischen Schmerz, so sichtbar, auch die Hoffnung auf Heilung durch die Zeit! 

 

Am nächsten Tag leiht sich Martina eine Taucherbrille und einen Schnorchel, schaut angestrengt nach unten, aber außer ein paar kleinen Fischen kann sie nichts entdecken. Auf dem Meeresgrund gibt es nur Sand, nur Wüste, keine Pflanze, kein Grün.

 

Die Tage fließen dahin wie die Zeit, deren Vergehen sie nur noch bemerkt, wenn sie ihr Handtuch unter dem Sonnenschirm versetzt, um im sicheren Schatten zu bleiben, wenn abends die Sonne im Meer verschwindet und ihre Hitze in den Mauern zurücklässt, wenn der Morgen kommt und der Wind die trügerische Hoffnung nährt, die Hitze würde diesmal ihre Opfer verschonen.  

 

Eines nachts hat sich das Meer verwandelt. Zwischen die verschiedenen Grüntöne hat sich weiße Gischt geschoben. Die Wellen türmen sich meterhoch, klatschen gegen den Strand, ziehen sich in einem Sog zurück, um gleich wieder nach vorne zu preschen. Faszinert beobachtet Martina das Schauspiel.

„Gehen Sie heute nicht schwimmen!“, hat sie die Hotelbesitzerin gewarnt. Trotz des starken Windes ist es immer noch ziemlich heiß. Martina kann der Versuchung nicht widerstehen, zumindest mit den Füßen ins Wasser zu gehen. Das Meer reißt an ihr wie ein wütender Hund. Sie gräbt beide Beine fest in den Sand, um die Balance nicht zu verlieren.

Plötzlich ertönt von irgendwo eine Sirene. Martina dreht sich um und sieht nicht die Welle kommen, die größer und stärker ist als ihre Vorgängerinnen. Sie fällt hin, will sich aufrappeln, aber eine erneute Welle überflutet ihren Kopf. Sie spuckt Wasser. Sie rudert mit Armen und Beinen, aber sie kann gegen den Sog nichts mehr ausrichten, der sie ins Meer mitnimmt.

 

„Sind Sie wahnsinnig! Haben Sie die rote Fahne am Strand nicht gesehen!“

Martina schaut in die wütenden Gesichter ihrer Retter. An ihren Armen und Beinen spürt sie noch immer deren festen Griff. Sie liegt auf dem Sand. Ihre Kleidung ist nass und schmutzig. In sicherer Entfernung tobt das Meer grollend über den Verlust seiner Beute.

Die beiden Männer helfen Martina auf die Beine und fragen jetzt sorgenvoll, ob sie sie begleiten sollen. „Non, non, merci“, lächelt sie ihnen zu und geht mit wackeligen Schritten zurück zum Hotel.

 

„Das war leichtsinnig“, sagt die Hotelbesitzerin, als sie Martina kommen sieht.

„Wissen Sie, das Meer ist ein Spiegel der menschlichen Natur. Mal ist es zärtlich, mal ist es brutal. Mal rauscht es melodiös, mal brüllt es wie ein wütendes Monster. Mal ist es friedlich, mal ist es gefährlich. Mal schenkt es Leben, mal tötet es.“

 

Abends gibt es ein Dreigangmenü: hausgemachte Entenpastete mit knusprigem Baguette, gegrillter Seeteufel mit Speckbohnen, Pistazieneis und saftige Pfirsiche.

Martina hört wie die Wirtin, eine Flasche Rotwein mit einem Plopp entkorkt. Sie schüttet Martina ein Glas davon ein. „Mein bester“, zwinkert sie ihr zu. „Wir haben heute doch etwas zu feiern. Es ist Ihr letzter Tag auf der Insel.“

 

Im Flugzeug holt Martina ihren Roman aus dem Handgepäck. Sie trägt ihn bei sich wie ein Mönch seine Bibel. Längst hat sie das Buch ausgelesen. Christians Beine sind geheilt, doch als er nach 6 Monaten das Dorf endlich verlassen kann, stellt er fest, dass Maria, seine Freundin, mit einem anderen Mann fortgegangen ist.

Der Fluggast neben Martina schaut interessiert auf ihre Lektüre.

„Hat Ihnen das Buch gefallen?“, fragt er.

„Kennen Sie es?“, gibt Martina verwundert zurück.

„Ich denke schon“, schmunzelt er.

„Es hat kein Happy End“, gibt er zu bedenken.

„Nein, aber es gibt Hoffnung auf einen Neuanfang.“

„Das freut mich, dass Sie das so sehen. In der Presse kam es ja nicht so gut weg.“

„Woher wissen Sie das so genau? Sind Sie der Autor?“

Es sollte ein Witz sein, aber Martina sieht an dem Blick des Mannes, dass sie ins Schwarze getroffen hat.