Von Karl Kieser

„Hallo Robert, lange nicht gesehen. Wie geht´s den Programmen?“

„Sieh an, die smarte Susanne. Ich freue mich auch, dich zu sehen. Was macht die Journaille?“

„Die kennt nur noch ein Thema: Corona und die Auswirkungen auf Gesellschaft und Wirtschaft. Ich kann´s schon nicht mehr hören.“

„Na, dann schreib doch mal was über das Internet. Da gibt es echt spannende Geschichten.“

„Laaangweilig! Was kann daran schon spannend sein? Ich brauche etwas, das jeden Interessiert, etwas, das die gesamte Gesellschaft betrifft. Sonst kann ich gleich bei Corona bleiben.“

„Nichts leichter als das, Susanne. Algorithmen ist das Zauberwort.“

„Dein Zauberwort kenne ich nur von Weghören. Ist mir zu kryptisch. Aber wenn du mir wirklich etwas Spannendes darüber erzählen kannst, dann lade ich dich auf einen Kaffee ein. Das dürfen wir ja inzwischen wieder.“

Wenig später sitzen die Journalistin und der IT-Spezialist in einem Straßencafé und Robert beginnt zu erzählen.

„Algorithmen sind eigentlich Gebrauchsanweisungen zur Lösung beliebiger Probleme. Du findest sie in allen Bereichen des Lebens.
Erst mit der explosionsartigen Entwicklung der elektronischen Speichermedien hat dieser Begriff ein neues Gewicht bekommen.
Die Entwicklung der digitalen Speichermedien ist ja wirklich märchenhaft. Das gilt für den Platzbedarf, die Speichergeschwindigkeit und natürlich für den Preis. Noch vor 30 Jahren war die Handhabung großer Datenmengen eine sehr aufwendige Sache und nur mit stinkteuren, hochsensiblen elektronischen Einrichtungen möglich. Heute übertrifft jedes Handy ein ganzes Rechenzentrum früherer Zeit an Rechengeschwindigkeit und Speicherkapazität.“

Die Journalistin hat schon bald ungeduldig mit ihren Fingern auf den Tisch getrommelt. Jetzt hält sie es nicht mehr aus.

„Ja, ja, ja. Beeindruckende Entwicklung und so. Ich kann auch verstehen, dass du immer noch fasziniert bist, aber komm endlich auf den Punkt.“

„Jetzt sei mal nicht so ungeduldig, Susanne. Du musst einfach verstehen, dass die Entwicklung in der jüngsten Zeit nur durch die Handhabung gewaltiger Datenmengen mit extrem hohen Geschwindigkeiten möglich wurde.“

„Okay, das habe ich jetzt notiert. Und, wo sind denn nun die ominösen Algorithmen?“

„Sie sind überall. Es reicht von der automatischen Entscheidungsfindung, über das Analysieren von Kaufverhalten, Gesichtserkennung, Navigation, autonomem Fahren bis zu was weiß ich noch alles.“

„Interessant. Aber das hört sich doch gut an. Technischer Fortschritt eben, von dem wir früher oder später alle profitieren. Soll ich daran etwas aufregend finden? Vielleicht musst du deinen Kaffee doch selbst bezahlen.“

Robert blickt hilfesuchend gen Himmel, aber an diesem sonnigen Nachmittag hat er von dort auch keine Hilfe zu erwarten.

„Den Kaffee hast du ja noch nicht einmal bestellt. Mit deiner Ungeduld kannst du wirklich nerven. Lass mich doch erst einmal zu Ende erzählen.“

Die Journalistin macht stumm eine kreisende Handbewegung, die ihrem Gegenüber bedeuten soll, endlich zum Kern seiner Geschichte zu kommen. Seufzend fährt Robert fort:

„Du weißt natürlich, dass die nur scheinbar kostenlosen sozialen Medien wie Facebook, Twitter und Co. ebenso die Suchmaschinen wie Google, von den Nutzern mit ihren Daten bezahlt werden. Und das bedeutet nicht nur Name, Anschrift, Alter sondern auch preisgegebene Vorlieben, modischer Geschmack, politische Überzeugung usw. Daten, die dann für eine personalisierte Werbung genutzt werden.
In den sozialen Netzwerken ist es ja ohnehin chic, soviel wie möglich aus dem eigenen Leben zu verbreiten, und zwar absolut freiwillig. Einige Zeitgenossen finden es sogar wichtig, nahezu jede profane Regung ihres langweiligen Lebens einer interessierten Fangemeinde mitzuteilen.“

Die ungeduldige Susanne kann nicht mehr an sich halten.

„Mein Gott, Robert, das wissen wir doch alles. Das ist zum Teil zwar lächerlich und auch nicht sehr klug, aber doch noch kein Grund, ein großes Drama daraus zu machen. Wenn das alles ist, was du mir sagen willst, dann ersparen dir die Mühe. Wenn nicht, dann komm bitte endlich auf den Punkt.“

„Na gut, Susanne.
Du hast sicher auch schon bemerkt, dass du mit entsprechender Werbung eingedeckt wirst, nachdem du dich on-line  für ein beliebiges Produkt interessiert hast.
Dafür sorgen Algorithmen.“

Susannes Ungeduld hat eher noch zugenommen.

„Na und? Das kann zwar manchmal lästig sein, aber es gibt Leute, die das sogar ganz hilfreich finden. Man kann das auch wie einen kostenlosen Service des Netzanbieters sehen. Man muss sich nicht immer wieder durch das komplette, unübersichtliche Angebot arbeiten, sondern bekommt die gerade interessierenden Waren vorsortiert und konzentriert zur Ansicht. So kommt man doch viel schneller zu einer Auswahl.“

„Ja schon, aber diese Algorithmen funktionieren nicht nur für Waren und Dinge, sondern auch für Meinungen, Überzeugungen, politische Ansichten, Befürchtungen, Träume, ja für alle Bereiche des Lebens.
Bei Waren profitieren nur diejenigen Firmen, die durch den jeweiligen Algorithmus bevorzugt werden, weil sie dafür bezahlen. Das ist zwar auch nicht sauber im Sinne eines fairen Wettbewerbs, richtet aber keinen großen Schaden an.
Problematisch wird es bei den nichtmateriellen Werten.“

Susanne hat ihre Ungeduld gegen misstrauische Skepsis getauscht. Sie hat allmählich einen Verdacht, worauf ihr Freund hinauswill.

„Hallo, Hallo! Willst du etwa sagen, wir werden manipuliert?“

„Manipuliert werden wir seit eh und je. Das weißt du als Journalistin besser als ich. Solange es in der besten Absicht geschieht, ist alles okay. Von Mensch zu Mensch ist es ohnehin völlig normal. Erst mit dem Aufkommen der Zeitungen brauchte man Regeln. Mit den modernen Massenmedien, vor allem mit dem Fernsehen, erreicht man nun aber innerhalb von wenigen Augenblicken viele Millionen. Auch das ist noch nicht wirklich problematisch, weil es im Licht der Öffentlichkeit geschieht.
Heikel wird es jedoch bei Internet & Co. Und zwar durch die Algorithmen. Wegen der ungebremsten Daten-Sammelwut dieser Medien und weil die Konsumenten sich auch bereitwillig offenbaren, gibt es für die Netzteilnehmer ein mehr oder weniger zutreffendes Persönlichkeitsprofil, das von den Algorithmen auch bedient wird, und zwar nicht etwa korrigierend – wenn das wünschenswert sein sollte –  sondern verstärkend. Der User kann leicht auf die Idee kommen, dass seine Meinung, die der Allgemeinheit ist, weil ihm einfach keine gegenteiligen Informationen angeboten werden. Oder die sind so weit in den Hintergrund verschoben, dass sich niemand die Mühe macht, auch noch den hundertsten Informationsbeitrag zu studieren.“

„Moment mal! Da gibt es aber immer noch die freie Presse, die solche persönlichen Irrwege korrigieren kann.“ 

Susanne hat sich vorgebeugt. Mit dem Instinkt der leidenschaftlichen Journalistin wittert sie eine echte Story hinter dem Gerede.
Robert weiß, dass sie allmählich bereit ist, seine Besorgnis  zu teilen.

„Wenn Journalisten für einen Artikel recherchieren, dann studieren sie ja nicht wie vor 20-30 Jahren üblich, weit verstreute Quellen im Original, sondern nutzen das Internet. Und auch Journalisten haben Vorlieben und Vormeinungen. Auch sie werden durch die Algorithmen entsprechend bedient. Auf diese Weise werden Trends verstärkt, es ist sogar denkbar, dass manipulierte Trends geboren werden.“

Jetzt fühlt sich Susanne in ihrem Berufsethos angegriffen. Nur Berufskollegen wissen schließlich, wieviel Zeit für Nachforschungen und ehrliches Bemühen hinter einem fundierten Artikel steckt.

„Du willst mir doch nicht auch noch eine Verschwörung verkaufen? Das kann ich nämlich überhaupt nicht verknusen.“

Robert lehnt sich zufrieden zurück. Sie ist so weit, den letzten Gedankenschritt mitzugehen.

„Susanne, was denkst du wird passieren, wenn jemand seine kruden Ideen mit Gleichgesinnten im Internet teilt, diese aber in der Tagespresse kein Echo finden oder gar lächerlich gemacht werden? „Tatsachen“, die ihm im Internet von allen Seiten umgeben, eben weil Algorithmen ihn mit den Themen seiner Vorlieben versorgen. Zum Beispiel Horrorszenarien zum Impfen, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, oder so ein Blödsinn wie die „flache Erde“?
Er wird sich sagen: Die da oben wollen die Wahrheit vertuschen. Eine mächtige, reiche Elite hat sich gegen die Menschheit verschworen.
Sieh dich doch um. Verschwörungstheorien haben gerade Hochkonjunktur.
Meinungsfreiheit ist ein schwieriges Thema. Trotzdem sollte man anfangen, über Regeln nachzudenken.“

Susanne schreckt aus ihrer Nachdenklichkeit auf.

„Zensur? Der erste, der das vorschlägt wird in der Luft zerrissen.“

„Das ist doch Unsinn. Es gibt doch jetzt schon den anerkannten Straftatbestand der Volksverhetzung. Es kann nun mal nicht jeder sagen was er will.
Inzwischen werden die Algorithmen durch künstliche Intelligenz schon selbstlernend. Mag sein, dass sie in ferner Zukunft einmal unfehlbar werden, aber bis es dazu kommt,  sind die Ergebnisse kaum nachvollziehbar.“

Susanne sieht endlich einen Makel in Roberts Argumenten, der es ihr erlauben könnte, ihre Verantwortlichkeit für ein journalistisches Eingreifen abzustreifen.

„Ha!  Du hast nur Angst, durch KI arbeitslos zu werden.“

„Ach Susanne, ich mache mir wirklich Sorgen um die geistige Gesundheit unserer Gesellschaft. Wir sind nun mal eine Informationsgesellschaft. Wir alle brauchen Informationen, um in der immer schnelllebigeren Welt zurecht zu kommen. Falsche oder destruktive Informationen sind schädlich. Ihr Journalisten müsst dafür sorgen, dass brisante Themen nicht totgeschwiegen werden.“

„Da mach dir mal keine Sorgen. Brisanz sehe ich bei den Algorithmen allerdings nicht. Trotzdem, ich spendiere dir den Kaffee und werde die Sache im Auge behalten.“