Von Agnes Decker

Im Hintergrund seines Seins vernimmt er das Rauschen des Meeres, das Geschrei der Möwen und das Gemurmel menschlicher Stimmen. Die Luft ist erfüllt vom Duft nach Salz und Sonnenmilch, und vor seinen geschlossenen Augenlidern flimmern rote Flammen. Als er die Augen öffnet und sich zur Seite dreht, sieht er Ina bewegungslos auf ihrem Handtuch liegen, die Arme weit ausgebreitet. Anmutig sieht sie aus, in ihrem knappen Bikini, eines ihrer langen, gebräunten Beine leicht angewinkelt, die Zehen in den Sand gegraben. Er lässt sich zurück sinken, gibt sich der Wärme hin und der wunderbaren Gleichgültigkeit. Genussvoll wird er den Zeitpunkt der Unerträglichkeit vor sich herschieben, wie eine lästige Arbeit, und, wenn er es nicht mehr aushält, dann wird er  aufspringen, mit großen Schritten durch den brennenden Sand laufen, und sich mit einem Seufzer der Erleichterung dem Meer entgegen werfen, sich von kühlenden Wellen wiegen lassen, das Gesicht der Sonne zugewandt.

Es ist später Nachmittag, als Ben und Ina ihre Handtücher ausschütteln, Sonnenmilch und Bücher in die Rucksäcke packen. Ina geht vor Ben, so hat er Zeit, ihre fließenden Bewegungen zu bewundern, die Energie, die sie ausstrahlt, wenn sie ihre Beine beugt und streckt und sich dabei in den Hüften wiegt. 

Wunderschön, denkt Ben. Eine warme Welle breitet sich in seinem Bauch aus und treibt ihm die Tränen in die Augen. Er schaut zurück zum Meer, lässt sich noch einmal besänftigen von der Regelmäßigkeit der anrollenden und sich in Gischt auflösenden Wellen, dann dreht er sich um. Inas braune Augen tauchen tief in ihn hinein, fast bis zu der Welle, die immer noch in seinem Bauch hin- und her schwappt und ihn ein bisschen verlegen macht. Ben streckt einen Arm aus, zieht Ina an sich, mit festem Griff, so nah, dass nichts mehr dazwischen passt. Dann lässt er sie abrupt los, räuspert sich und ruft: „Wer zuerst da ist“, und läuft los. 

Bens Atem geht keuchend, als er das Apartment erreicht. In der Ferne sieht er Ina, die, mit dem Rucksack auf dem Rücken und dem nassen Handtuch in der Hand, das sie leicht hin- und her schwingt, auf ihn zu schlendert. 

 

Wie an jedem Abend, den der liebe Gott erschaffen hat, denn nur er kann so etwas Wunderbares erschaffen, wie diese Insel, sitzen die Männer auf den Plastikstühlen an dem groben Holztisch, spielen Tavli, trinken Anisschnaps oder schweren roten Wein und greifen immer wieder in die kleinen Schalen, die eine der Frauen vor sie hingestellt hat. Später werden sie mehr trinken, lauter reden, ein bisschen streiten, vielleicht auch singen oder tanzen. Aber jetzt noch nicht, jetzt ist es noch still. Es ist eine idyllische Szene, wie sie da sitzen, in ihren kurzen Hosen und offenen Hemden, braungebrannt mit dunklen Haaren und Bärten, vor dem schneeweißen Haus mit den leuchtend blauen Fensterläden. 

Ben und Ina nehmen an einem der Tische Platz. Sie sind sonnenverbrannt und hungrig und durstig, vom Tag am Meer und der schnellen Liebe. Ben streckt seine Hand aus, mit der Handfläche nach oben und Ina legt ihre hinein. Ein hagerer Mann mit wirren, grauen Locken, die er mit einem bunten Tuch in Zaum hält, tritt zu ihnen und erkundigt sich in ihrer Sprache nach ihren Wünschen. Ina fragt ihn, wo er herkommt. 

„Gleich“, sagt der Mann mit einem Lächeln, „erst einmal das körperliche Wohl.“ Sie bestellen, Salat, Brot, Fisch und Pommes und einen Liter von dem tiefdunklen roten Wein, wie ihn die einheimischen Tischnachbarn vor sich haben.

Der Mann geht ins Haus und kommt mit Gläsern und Karaffen zurück. Nachdem er alles abgestellt hat, lehnt er sich an die weinberankte Pergola, die während des Tages einen milden Schatten wirft, und beginnt zu erzählen. Er spricht darüber, wie er vor langer Zeit gekommen ist und beschlossen hat, zu bleiben. Davon, wie er das Restaurant aufgebaut hat und dass er, obwohl sich kaum noch jemand der hier Lebenden, an eine Zeit ohne ihn und sein Lokal erinnern kann, immer noch der Aleman, der Deutsche, ist. Der Mann hat seine Geschichte mit einem breiten Grinsen in seinem wettergegerbten, fast schwarzen Gesicht, beendet. Unzählige Falten sind aufgesprungen und seine Augen strahlen in einem hellen Blau. 

 „So ist das“, sagt er, dreht sich um und geht ins Haus. Als er zurück kommt, trägt er ein voll beladenes Tablett. Der Duft nach Knoblauch, gebratenem Fisch und knusprigen, in Olivenöl gegarten Pommes erfüllt die Luft.

 „Lasst es euch schmecken“, sagt der Aleman, lehnt sich wieder an die Pergola und schaut zu, wie die beiden über das Essen herfallen. 

Die Sonne steht als glutroter Ball am Horizont. Es wird nicht mehr lange dauern, dann wird sie, Stück für Stück ins unendliche Meer sinken. Ein kleiner Junge ist von irgendwoher gekommen, hat sich neben den Aleman gestellt. Er kichert, zeigt auf Ina und Ben, ruft ihnen etwas zu. Eine Frau kommt herbeigelaufen, zieht das Kind weg, und legt, während sie mit ihm zurück ins Haus eilt, ihre Hand auf seinen Mund. 

„Was hat er gesagt? Er hat auf uns gezeigt.“ Ina schaut den Aleman an, der abwehrend den Kopf schüttelt. 

„Ach nur Kindergeschwätz, man kennt das, Kinder schnappen etwas auf und geben es dann falsch wieder. Man sollte es nicht ernst nehmen.“ 

 

Sie bleiben noch lange dort, die beiden Urlauber, essen, trinken den Wein und schauen sich in die Augen. Es ist dunkel geworden. Vom Meer zieht eine kühle Brise herüber, streichelt zart die verbrannte Haut. Ina fröstelt. Übelkeit breitet sich in ihrem Magen aus und am Hinterkopf ein stechender Schmerz. Etwas taumelnd steht sie auf, hält sich an der Tischkante fest.

„Ich gehe ein paar Schritte, mir ist nicht gut.“ Ina legt ihre Hand auf Bens, der sie mit besorgtem Blick anschaut.

Sie sind jetzt die einzigen Gäste hier. Die einheimische Familie ist gerade eben aufgebrochen. Auf dem großen Tisch stehen noch die Reste ihrer ausgiebigen Mahlzeit.

 

Hinter dem Haus führt ein schmaler Pfad mitten durch einen Olivenhain. Die Blätter glänzen silbern im Licht des fast vollen Mondes. Ina bleibt stehen, genießt den märchenhaften Anblick und gibt sich dem Zirpen der Zikaden, dem Rauschen des Meeres und dem kühlenden Luftzug hin.

„Kalispèra“, eine junge Frau ist zwischen den Bäumen aufgetaucht. Ihr weites, buntes Gewand schwingt mit jedem Schritt hin und her. „Suchst du etwas, kann ich helfen?“

Ina zuckt zusammen. „Nein, ja, ach ich weiß nicht. Mir ist schlecht und ich habe schlimme Kopfschmerzen.“

„Zuviel Sonne“, sagt die junge Frau, „du solltest Wasser trinken und dich ausruhen.“

„Ja, das denke ich auch“, Ina schaut die junge Frau an, die sich an einen Baum lehnt. „Danke, auf jeden Fall. Bist du auch in Urlaub hier?“

„Nein, ich lebe hier. Ich bin übrigens Matilda, bin letztes Jahr hierhin gekommen und dann…“ Matilda streicht liebevoll über ihren vorstehenden Bauch. „Ich lebe mit Yannis, dem Fischer.“ Sie schaut Ina an. „Du wolltest wissen, was der Junge gesagt hat. Stimmt`s. Er hat sich lustig gemacht über euch, weil ihr den Fisch gegessen habt und im Meer geschwommen seid.“

„Wieso, was ist daran so komisch?“ Ina fühlt sich verwirrt. Sie streicht sich über die heftig pochende Stelle am Hinterkopf.

„Komm, ich zeige dir etwas“, sagt Matilda. „Meinst du, du kannst ein paar Schritte gehen?“

„Weiß nicht“, Ina zögert. Dann siegt ihre Neugier.

Die junge Frau schreitet flott voran. Der Olivenhain öffnet sich und gibt den Blick frei auf ein Feld mit unzähligen Hügeln. Auf jedem liegt ein Blumenkranz, daneben ein schmuckloses Brett mit einer Zahl und einem Datum. 

„Friedhof der verlorenen Seelen, so nennen wir ihn.“ Matilda ist stehengeblieben „Sie kommen mit Booten, die nicht seetüchtig sind. Immer wieder ziehen Fischer sie in ihren Netzen aus dem Wasser. Viele werfen die Leichen einfach wieder ins Meer. Wollen keinen Ärger mit den Behörden.“ Die junge Frau geht zwischen den Hügeln hin und her. „Wir begraben sie. Wir geben ihnen ihre Würde wieder. Das ist das einzige, was wir für sie tun können.“

Ina ist ebenfalls stehengeblieben und schaut auf die Gräber, die sich wie Perlen an einer Kette aneinanderreihen.

„Deshalb hat der kleine Junge sich über euch lustig gemacht. Auch das Meer ist ein Friedhof. Wir essen schon lange keinen Fisch mehr und wir schwimmen auch nicht mehr darin.“ Mit Tränen in den Augen schaut die junge Frau in die Ferne.

„Sie hätten es uns sagen müssen.“ Inas Stimme überschlägt sich. Wir sind über einem Friedhof geschwommen. Wir haben das Wasser geschluckt…, den Fisch…“, Ina spürt, wie die Säure nach oben schießt. In einem Schwall ergießt sich ihr Mageninhalt auf den Boden. Sie spuckt und schluchzt, es will nicht aufhören. Irgendwann sinkt sie erschöpft auf den Boden.

„Hättet ihr es wissen wollen?“ Matilda reicht ihr die Hand „Lass uns zurück gehen.“

 

Die drei Männer stehen nebeneinander und schauen aufs Meer.

„Ich kann nicht mehr“, sagt Yannis, der Fischer. Seine Hände zittern.

„Einer muss es tun“, antwortet sein Bruder und legt ihm den Arm um die Schulter. 

„Es geht vorbei“, der Aleman zündet eine Zigarette an und reicht sie ihm. „Irgendwann.“

 

Das Boot wird von den Wellen hin- und hergeworfen. Die junge Frau presst ihr Kind an sich, ein kleines Mädchen, vielleicht drei oder vier Jahre alt. Der Frau ist übel, sie hat Durst und Angst. Auch das Kind hat lange nichts mehr zu sich genommen. Es ist schwach und wimmert. Die Frau sitzt am Rande des Bootes. Die Wellen schwappen immer wieder über die Reling und haben sie durchnässt. Sie friert und zittert. Ihre Haare haben sich gelöst, hängen ihr in vielen krausen Locken weit über die Schulter. Von den Menschen, die eng an eng  in diesem Boot sitzen, sieht sie nur die Umrisse. Es ist dunkel und der mächtige Sternenhimmel wölbt sich über ihnen. Die Wellen werden höher, spielen mit dem Boot, nehmen es mit hinauf und lassen es wieder fallen. Die Menschen sitzen teilnahmslos da, klammern sich aneinander fest. Die junge Frau hat angefangen leise zu singen. Sie sieht die riesige Welle nicht, die heranrollt, sich wie eine Wand auftürmt und das kleine Boot unter sich begräbt.

 

Version 2