Von Hubertus Heidloff

Seit Kindheitstagen war das Verhältnis der beiden Brüder von Spannungen geprägt.

Obwohl sie vom Alter nur drei Jahre auseinander lagen, gab es keine Gemeinsamkeiten, kein Spielzeug und keine Freunde.

 

Die Zeit ging ins Land, sie wurden älter. In Schulzeiten war Kai eher derjenige, der hart arbeiten musste, während sein Bruder eher darauf setzte, mit Hilfe seiner Klassenkameraden durchgezogen zu werden. Das war die Zeit, als sich bei ihm die Idee im Kopf fest zu setzen begann, er werde schon bald zur High Society gehören. Da sei sein Platz in der Gesellschaft.

 

Tom absolvierte sein Studium, erwähnte jedoch nie eine Leistung, sondern immer nur, mit wem er zusammen war. Der Sohn von …. , die Tochter von …. hatten eine Party gegeben und er war dabei. „Die haben ein ganz irre tolles Haus, alles automatisch, das Grundstück, traumhaft“, so hieß es häufig.

 

Währenddessen war es Kais Bestreben, sein „Haben“ mit anderen zu teilen. Sei es eine von zu Hause mitgebrachte Kiste Bier, ein Stück Wurst oder Brot, alles wurde geteilt.

Mit seiner Frau baute er ein Haus. Die ersten Möbel waren Apfelsinenkisten. Trotzdem fühlten sich seine Freunde bei ihm wohl.

Er hatte seinen Humor und seine „Großzügigkeit“ im Kleinen, sein „Nichts“.

Die Charaktere und die Einstellungen der beiden ungleichen Brüder hätten unterschiedlicher nicht sein können. Kai fühlte schon sehr früh, dass es zwischen ihm und seinem Bruder Tom große Unterschiede gab. Er wollte nicht so sein, wie sein Bruder. Dieserr lehnte die Lebensart seines älteren Bruders ab.

 

Dann kam der Tag, an dem Tom heiratete. Er war schon 30 Jahre alt, als er die für ihn passende Frau gefunden hatte. Caroline stammte aus einer norddeutschen angesehenen Familie. Ihre Wurzeln reichten weit zurück ins Mittelalter. Dort waren sie als Handelsherren tätig, die es zu ansehnlichem Wohlstand gebracht hatten.

Die Zeit zog ins Land. Der Wohlstand war vergangen.. Es blieb nur die Erinnerung an eine bessere Zeit.

 

Caroline, eine Vertreterin dieser Familie, hatte den Anspruch, einen Mann mit einem Titel zu heiraten. Da kam ihr Tom, der nach dem Studium seinen Doktor gemacht hatte, gerade Recht. Er wiederum, der seit Jugendtagen von der High Society geträumt hatte, konnte eine Frau aus einer angesehenen Familie gut „verkraften“.

Die beiden hatten sich gesucht und gefunden. Jeder sah im anderen Partner die genau richtige Ergänzung zur eigenen Person.

Aber zurück zu Toms Heirat. An jenem Tag hatten Tom und Caroline Kollegen, insbesondere Ärzte und Politiker des kommunalen Umfeldes eingeladen.

Eine Hochzeit, ganz so nach Toms Geschmack. Er fühlte sich wohl im Umfeld des „gesellschaftlichen Hochadels“.

 

Wer nicht eingeladen war, waren seine Eltern.

 

Kai sah die Tränen in den Augen seiner Eltern.

Tom musste unglaubliche Angst davor haben, dass seine Eltern nicht in seiner „Elite“ mithalten konnten. Das wäre für ihn blamabel gewesen, wie er dachte.

Ihn interessierten nur Adel und Politik und Titel.

Wenn es um die wirklich wichtigen Dinge des Lebens ging, die Vorbereitung und Durchführung einer Geburtstagsfeier der Eltern, um die Erledigung von Post, um Einkäufe, war Kai die helfende Hand.

 

Von all diesen Dingen hatte Tom absolut keine Ahnung. Für ihn war die Betreuung der Eltern mit einem Telefonanruf erledigt. Inhaltlich kam nur selten die Frage nach dem Befinden seiner Eltern. Er war gefangen in einem Netz, aus dem er sich nicht befreien wollte.

Tom kaufte ein Haus, mitten in der besten Lage einer größeren Stadt. Ein parkähnlicher Garten mit einem alten Baumbestand, gepflegtem Rasen und sorgfältig aufeinander abgestimmten Blumenrabatten gehörten dazu. Eingezäunt war das Grundstück mit einer auf mittelalterlich getrimmten Mauer. „My home is my castle“ hätte am Eingang stehen können.

Seine Besucher führte er mit stolzgeschwellter Brust durch den Garten,  nicht ohne zu vergessen, darauf hinzuweisen, wie viel Arbeit er investieren müsse, um ein solches Produkt zu erzielen.

In Wirklichkeit hatte er einen Gärtner am Werk.  Dieser Gärtner war kein anderer als sein Vater, der mit seinen 70 Jahren noch immer angefordert wurde, als Gärtner, nicht als Mensch und nicht als Vater.

Zu Hause erzählte Vater mehrfach, wie anstrengend es für ihn war, die lange Fahrtstrecke der Hinfahrt, Arbeit und die gleiche Rückfahrt zu bewältigen.

Nicht einmal eine Übernachtung wurde ihm angeboten.

 

Toms jetzige Verwandtschaft hatte es im Laufe der Jahre geschafft, sich einen neuen Platz in der Gesellschaft zu sichern. Dazu gehörte u.a. ein Minister, der jedes Jahr die Verwandtschaft zu einem „Sippentreffen“ einlud.

Aber nicht nur die Familie war anwesend, sondern ebenso Menschen aus Politik und Wirtschaft. Danach hieß es bei Tom nur noch: „An dem Tag habe ich mit dem Minister, mit dem Finanzmenschen X, dem Chef einer großen Autofirma Y… gesprochen.“

Nach seiner Hochzeit im großen Stil, kam es wenig später politisch zur Grenzöffnung zur DDR.

Das bedeutete Aufbruchstimmung in Ost und West. Baumärkte schossen im ehemaligen Ostteil aus dem Boden. Es gab Gelder zur Renovierung der Häuser, der Bund kaufte Schlösser und Sehenswürdigkeiten. Private Investitionen waren an der Tagesordnung. Es gehörte scheinbar zum guten Ton, sich an dem Bestand der DDR zu bereichern.

Tom, als Zahnarzt gut situiert, stieg ins Immobiliengeschäft ein und kaufte in Leipzig einige Häuser. Bei seinen Eltern hieß es nur, er habe eine Straße gekauft. Sie waren verzweifelt. Von Stolz war nichts zu spüren. Wie sollte er das alles nur bezahlen? Von 800 000 DM war die Rede, ein Schnäppchen. Eine gleiche Summe musste in die Renovierung investiert werden. Kein Problem. Die Mieten sollten es richten und die Kosten wieder herein spülen. Diese Rechnung konnten seine Eltern nicht nachvollziehen, vielleicht waren für ihre Verhältnisse einfach die Zahlen zu groß.

 

Er bekam für die renovierten  Wohnungen zwar Mieter, aber diese zahlten nicht. Sie waren niedrige Mieten gewohnt und nun diese Erhöhung. Tom geriet in immer größere finanzielle Schwierigkeiten.

So dauerte es nur wenige Jahre, bis er sein eigenes bisheriges großzügiges Wohnanwesen verkaufen musste. Die Eltern sahen sich bestätigt.

Sie hatten es geahnt: „Er wird sich übernehmen“.  

Er zog in ein Sechs – Familienhaus.

 

In diesem Haus war nun seine Bleibe. Zum ersten Mal in seinem Leben musste  er einen Rückschlag einstecken. Keine Partys, keine hohen Gäste, kein Garten, einfach nichts. Er musste sich mit dieser Situation arrangieren.

Ein Lied aus früheren Tagen hätte seine Situation nicht besser beschreiben können:

„Und der Fluss trat übers Ufer, nahm ihm all sein Hab und Gut…“

All seine hochtrabenden Worte von höherer Gesellschaft und gesellschaftlicher Spitze, sein Gebahren, wenn es um Finanzen ging, waren ad absurdum geführt. Selbstzweifel kamen auf. Er fühlte sich gefangen in sich selbst.

Er kam in seinen Überlegungen nur bis zu dem Punkt, sich als Opfer der gesellschaftlichen Umstände zu sehen. Eine kritischere Einstellung zu seinem Handeln gelang ihm nicht. 

 

Einige Jahre später:

 

Kai hatte Tom benachrichtigt, dass Vater im Sterben liege. „Keine Zeit, ich habe noch Patienten!“ Mutter war schon vor vier Jahren verstorben.

In der Nacht von Donnerstag auf Freitag saß Kai ab 19 Uhr am Bett seines Vaters, der ins Krankenhaus eingeliefert worden war. Um 21 Uhr atmete Vater ganz tief ein und sagte mit fester Stimme: „Kai, halte alles zusammen. Ich vertraue dir“.

Es war der letzte Satz, welchen er sprach. Er schlief ein und verstarb gegen 2 Uhr morgens.

Bereits um 7 Uhr rief Kai seinen Bruder an und sagte ihm, dass Vater tot sei. „Ich komme gleich!“ Schon gegen 10 Uhr war er da. Kai erzählte von den vergangenen Ereignissen. „Wir müssen uns jetzt um die Beerdigung kümmern“, meinte er. Sie fuhren zum Bestatter. Als sie etwas später wieder im Auto saßen, hieß der erste Satz, den Tom sagte, noch nicht einmal 100 Meter vom Bestatter entfernt: „Jetzt sollten wir uns um die Erbschaft kümmern.“

Kai stockte der Atem. Er hatte das Gefühl, jemand drücke auf seine Kehle.

Als Kai wieder Luft bekam, antwortete er: „Vater ist noch nicht einmal kalt und Du denkst nur an die Erbschaft!“

 

Tom kam in die Wohnung. Er lief durch die Räume, so als suche er den „Geist seines Vaters“. Kai ließ ihn gewähren und half den Frauen bei der Suche nach angemessenem Besteck. Das Alltagsgeschirr und Besteck wollten sie nicht nehmen.

Als Kai einmal in einen Raum kam, kniete Tom auf einem Bettvorleger und schaute unter das Bett. Ein anderes Mal hatte er eine Schranktür geöffnet und zog seinen Arm aus dem Schrank. So langsam dämmerte es Kai.

Er suchte ein Testament, eine Hinterlassenschaft, ein Dokument, irgendwas! Deshalb seine Umtriebigkeit im Haus, deshalb seine sofortige frühe Ankunft nach dem Tod des Vaters. Tom versprach sich von einem Testament, dass für ihn ein größerer Brocken abfallen würde, dass seine Eltern ihn als Haupterben eingesetzt hätten. Er fand kein solches Testament.

 

Es wurde Zeit für ihn, zurück zu fahren. Er bat Kai, ihm den Hausschlüssel zu überlassen, da er am Beerdigungstag Brötchen und Aufschnitt mitbringen wolle und Caroline schon Kaffee kochen könne. Bereitwillig überreichte Kai ihm den Schlüssel.

 

„Wie kannst Du ihm den Hausschlüssel geben?“ musste er sich zu Hause von seiner Frau sagen lassen.

„Der wühlt doch alles durch, so habgierig wie er ist.“

Sie fuhren erneut in die kleine Stadt, besorgten ein neues Schloss, welches er sofort austauschte. Die Wohnung war gesichert!

 

Obwohl die Gedanken am Tag der Beerdigung ganz woanders waren, galt Kais und seiner Frau Augenmerk der Ankunft von Caroline und Tom.

Deren Ausrede, sie seien in einen Verkehrsstau geraten,  war glatt gelogen. Es gab keinen Stau.

Nach Kirche und Beisetzung und gemeinsamen Frühstück kam die Zeit des Abschiednehmens. Tom lud einen schwarz-weiß Fernseher in sein Auto, welcher von seinem  Vater für Kais Tochter Miriam vorgesehen war. Anschließend holte er die Motorsäge seines Vaters aus der Garage. „Diese Säge hat Vater mir versprochen“, machte Kai auf den Wunsch des Vaters aufmerksam. Kais Inneres kochte.

Caroline stand am Auto und wirkte wie versteinert. Jetzt hatte sie ihren Mann erkannt.

Sie fuhren los.

Tom war gefangen im Netz seiner Großspurigkeit.

 

 

V III