Von Manuel Fiammetta

Der Tisch war mit allem gedeckt, was ein Frühstück während des Urlaubs so gemütlich und köstlich machte: Warme Brötchen und Croissants, leckere Marmeladen und Schokocreme, Wurst und Käse, Kaffee und frisch gepresster Orangensaft. Natürlich gab es auch ein Müsli und leckeres Obst. Immer dann, wenn Familie Schneider am Wochenende gemeinsam frei hatte, zelebrierten sie ein großes und ausgiebiges Frühstück.

 

Die elfjährige Lena war schon wieder in ihrem Zimmer, während ihre Mutter in einer Frauenzeitschrift nach den neuesten Modetrends schaute und ihr Vater die Tageszeitung studierte.

 

Schnaubend legte er sie plötzlich aus der Hand.

„Was würdest du mit jemandem anstellen, der unsere Tochter anmachen würde?“

Sophias Blick ließ von der Zeitschrift ab. Sie sah Thorsten fragend an.

„Was meinst du genau?“

„Na, wenn sich ein Mann an unsere Tochter ranmachen würde.“

„Ich möchte erst gar nicht darüber nachdenken. Schon der Gedanke daran macht mir unglaublich Angst“, antwortete Sophie mit leiser Stimme.

Thorsten nahm die Zeitung wieder in die Hand und zeigte mit dem Finger auf einen kleinen Artikel.

„Hier schau, es wurde wieder ein Mädchen von so einem Arschloch belästigt.

„Thorsten, lass das bitte! Du weißt, dass ich so etwas nicht sehen oder hören kann.“ Energisch stieß sie die Zeitung von sich.

„Was du nicht siehst, gibt es also für dich nicht, was?“

„Nein, das stimmt nicht! Mir ist bewusst, was es für schlimme Menschen gibt. Ich muss es aber nicht auch noch lesen.“

 

Plötzlich kam Lena ins Esszimmer gestürmt.

„Mama, Papa, kann ich heute Nacht bei Marie übernachten. Sie hat mir gerade eine Nachricht geschickt. Sie fährt doch nicht zu ihren Großeltern. Biiitteee.“

Lenas Euphorie konnten ihre Eltern gerade nicht teilen. Trotzdem erlaubten sie ihrer Tochter den nächtlichen Ausflug. Es war schließlich nicht das erste Mal, dass sie bei Marie schlief. Oder umgekehrt.

„Danke, danke, danke“, schrie Lena erfreut und umarmte nacheinander Mama und Papa.

 

 

„Du, sag´ mal …“, störte Thorsten den fröhlichen Moment, „auf wie vielen Internetplattformen bist du eigentlich angemeldet?“

„Ich glaube drei. Mit oder ohne Messenger-Dienste?“

„Mit.“

„Dann vier. Warum fragst du?“

Mit zusammengekniffenen Augen, schaute Sophie Thorsten an. Diesen Blick kannte er. Als er noch ein kleiner Junge war, sah ihn seine Mutter immer so an, wenn er mit dem Blödsinn aufhören sollte, den er gerade anstellte.

„Nur so, mein Schatz. Ich hoffe einfach nur, dass du vorsichtig im Netz bist. Wir haben uns ja schon einmal darüber unterhalten.“

„Klaro, Papa. Ich passe schon auf.“ Mit einem Küsschen auf seine Wange, verschwand sie wieder in ihrem Zimmer.

„Du hast gar nicht gefragt, was ich mit so jemandem machen würde, mein Häschen.“

„Thorsten, ich will es gar nicht wissen.“

„Gut, dann halt nicht.“

„Danke, Schatz“, sagte sie erleichtert.

***

„Hast du auch alles?“

„Klaro. Ist ja nur für eine Nacht.“

Während Sophie ihre Tochter zu Marie fuhr, machte Thorsten etwas, das er vorher noch nie getan hatte. Er schnüffelte in Lenas Sachen herum. Die Sorge, dass seiner Tochter das gleiche passieren könnte wie dem Mädchen aus dem Zeitungsartikel, war einfach zu groß.

Schließlich fand er das, was er suchte. Die Passwörter.

Die Zeit war nun aber zu knapp. Sophie musste bald zurückkommen. So beschloss er, die Nacht zu nutzen.

***

Sophie schlief tief und fest, als sich Thorsten heimlich aus dem Bett schlich und sich an den Computer setzte.

Er fühlte sich nicht gut dabei, aber mit seiner Angst rechtfertigte er sein Verhalten.

Chatpartner Marie, Anna, Michelle, Marc, Andre, Kristine.

Thorsten sah sich die Verläufe an. Marie kannte er. Anna, Michelle und Andre gingen mit seiner Tochter in dieselbe Klasse. Kristine war die größere Schwester von Anna. Aber wer war Marc?

Jedes Möbelknacken ließ ihn zucken. Nervös öffnete er den Verlauf mit Marc.

 

Heute

„Ich bin heute Nacht bei meiner Freundin. Ich schreibe dir dann morgen wieder.“

„Ok, mein Täubchen. Ich freue mich schon tierisch wieder von dir zu lesen.“

 

 

Gestern

„Du bist echt ein tolles Mädchen. Es gibt nicht so viele, die in deinem Alter schon so klug sind. Dazu noch so hübsch.“

 

Thorstens Mund stand weit offen.

Er musste weiterlesen. Wissen, wer dieser Marc war.

15 Jahre alt. Angeblich.

„So schreibt kein 15-Jähriger“, dachte Thorsten. Ein Bild war nicht zu sehen. Doch er wusste nun, dass seine Tochter ihm ein Foto geschickt hatte.

„Magst du mir vielleicht mal ein aktuelles Bild von dir schicken?“

„Nur wenn ich auch eines von dir bekomme.“

„Oh, tut mir leid. Meine Handykamera funktioniert seit ein paar Tagen nicht mehr. Ich schicke dir sofort eines wenn sie wieder geht.“

Thorsten entschloss sich, Marc zu schreiben. Getarnt als seine Tochter. Jetzt.

„Marc, bist du on?“

Es dauerte keine fünf Minuten, da antwortete Marc.

„Süße, ich dachte, du bist bei deiner Freundin. Schön, dass du schreibst.“

„Ich wollte erst, aber dann hatte ich doch keine Lust. Lieber schreibe ich mit dir.“

„Das ist super. Das freut mich aber.

 

Die Nachrichten gingen hin und her, bis sie schließlich immer intimer wurden.

„Hast du eigentlich schon einmal einen Jungen geküsst?“

„Nur auf den Mund.“

Thorsten hoffte, dass es auch wahr war.

„Wenigstens etwas. Könntest du dir vorstellen, mich auch mal zu küssen.“

 

Thorsten war angewidert. Doch er konnte und wollte jetzt nicht aufhören.

Warum nicht. Du scheinst ganz süß zu sein. Funktioniert deine Kamera eigentlich wieder?“

 

„Oh, vielen Dank. Nein, leider immer noch nicht. Brauche wohl ein neues Handy.“

„Hast du kein älteres Foto? Würde dich so gerne mal sehen?“

„Die sind alle nicht so toll. Auf denen sehe ich nicht so gut aus. Ich möchte dir ein perfektes Foto schicken. Oder…“

„Oder…?“

„Was hältst du davon, wenn wir uns in echt einfach mal treffen? Ich würde mich tierisch freuen.“

Auf diesen Moment hatte Thorsten gewartet.

„Hm, ich weiß nicht. Mein Vater will nicht, dass ich mich mit Leuten aus dem Internet treffe, die ich nicht kenne.“

„Aber wir kennen uns doch. Außerdem muss dein Vater davon ja nichts erfahren.“

„Ok gut. Ich würde dich nämlich echt gerne mal sehen.“

Ein Gefühl von Ekel und Wut durchzog seinen Körper.

„Sehr schön. Hast du morgen Nachmittag Zeit? Wir könnten uns auf dem kleinen Waldspielplatz treffen. Da sieht uns dein Vater mit Sicherheit nicht.“

„Du Schwein“, dachte Thorsten.

„Ja, sehr gute Idee“, schrieb er mit zittrigen Fingern.

„Wahnsinn. Ich freue mich tierisch. Dann bis morgen, Süße. Zieh´ dir was Schickes an.“

„Mache ich. Ich freue mich auch. TIERISCH. Bis morgen.“

 

Thorsten machte die ganze Nacht kein Auge zu. Im Kopf schmiedete er einen Plan.

 

***

„Schatz, du siehst aber gar nicht fit aus. Hast du nicht gut geschlafen?“

Sophie streichelte über Thorstens Wangen.

„Nein, gar nicht gut. Ich glaube, ich gehe mal ein bisschen an die Luft. Wann holst du Lena?“

„Heute Nachmittag. Kommst du mit?“

„Ich denke nicht. Vielleicht fahre ich mit dem Rad ein wenig durch den Wald. Sauerstoff soll ja wach machen.“

***

Die Zeit war gekommen.

 

 

 

Thorsten fuhr mit seinem Rad am Waldspielplatz entlang. Einmal in die eine Richtung. Einmal in die andere. Es war weit und breit kein Jugendlicher zu sehen. Es war gar keiner zu sehen. Als er wieder in die eine Richtung unterwegs war, kam ihm ein hagerer Mann entgegen der sich auffällig hektisch umsah.

„Das musste er sein“. Wie ein Blitz durchzog ihn dieser Gedanke.

Er fuhr noch ein wenig weiter und stellte sein Rad schließlich hinter einem großen Baum ab.

Langsam lief Thorsten den Weg zurück zum Spielplatz. Dieser war umgeben von Bäumen und Gebüschen. Nur sehr wenige Kinder verirrten sich hierher. Durch eines der Büsche konnte er den Spielplatz beobachten.

Kein Jugendlicher war zu sehen. Keiner war zu sehen. Nur dieser eine Mann. Er musste es sein.

Lena. Das Mädchen aus der Zeitung. Die ganzen unschuldigen Kinder. In Bruchteilen von Sekunden standen sie vor ihm. Für sie alle musste er etwas tun.

Thorsten verließ das Gebüsch und ging auf dem Waldweg zum Spielplatz, um sich dort auf eine Bank zu setzen. Marc saß auch auf einer, blickte nervös abwechselnd auf sein Handy und wieder nach oben.

Auch Thorsten nahm sein Handy in die Hand.

„Süße, wann kommst du? Ich bin schon da. Ich hoffe, dass der Typ hier bald wieder geht, damit wir alleine sein können.“

„Ich bin gleich bei dir“.

Wenige Momente später stand Thorsten auf und lief langsamen Schrittes und aufs Handy starrend zu Marc rüber.

„Ich bin da.“

Marcs Handy piepte. Die Nachricht ploppte auf. Marc sah hoch und genau in Thorstens Faust.

„Freust du dich immer noch tierisch mich zu sehen?“

Aus seiner Nase tropfte Marc das Blut auf die Hose.

„Ich wollte ihr nichts tun. Wirklich.“

„Das kannst du gleich der Polizei sagen“, brüllte Thorsten während er ihn zu Boden rang und sich auf ihn draufsetzte.

Aufgrund seiner körperlichen Unterlegenheit, ergab sich Marc seinem Schicksal.

 

***

Der Tisch war gedeckt. Üppig. Frühstück während des Urlaubs. Sophie las in der Tageszeitung. Thorsten sah auf sein Handy.

Sophie durchbrach geschockt die Stille

„Thorsten“, rief sie laut, „schau hier.“ Sie deutete auf einen Zeitungsartikel.

Gesuchter mutmaßlicher Pädophiler auf dem Waldspielplatz festgenommen

„So nah bei uns“, stellte Sophie geschockt fest. „Er wurde von einem Spaziergänger überwältigt. Dass es so etwas noch gibt.“

„Genau das, mein Häschen, würde ich auch mit solchen Leuten machen.“

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